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Bestimmung des Begriffs Zivilreligion

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 66-71)

BEGRIFFLICHE UND HISTORISCHE RAHMUNG

2 Zivilreligion – Phänomen und Begriff

2.6 Bestimmung des Begriffs Zivilreligion

Das nun folgende Unterkapitel hat zum Ziel, die Erkenntnisse der vorangegan-genen Auslegeordnung zu den verschiedenen Aspekten und Verständnissen von Zivilreligion so zu ordnen und zusammenzufassen, dass der Begriff Zivilreligion seinen heuristischen Zweck der Analyse der Diskussion des schulischen Reli-gionsunterrichts erfüllen kann. Meine Arbeitsdefinition von Zivilreligion werde ich in fünf Punkten darlegen:

1. Zivilreligion ist ein Phänomen der Säkularisierung, insofern sie zum einen eine (zumindest in Ansätzen) funktional ausdifferenzierte Gesellschaft voraussetzt oder zumindest in diese Richtung weisende Bestrebungen und zum andern eine religiös-weltanschaulich heterogene Gesellschaft, in der Religionsfreiheit

137 Ebd., 188.

138 Vgl. ebd.

herrscht. Unter gesellschaftlicher Ausdifferenzierung ist die Differenz zwi-schen Staat und Gesellschaft bzw. zwizwi-schen Staat und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären wie die religiöse, ökonomische oder familiäre gemeint. Dies im Unterschied zum corpus christianum der Vormoderne, in dem Staat und Kirche eine Totalität bildeten.139 Hermann Lübbe spricht von Zivilreligion als «Religion nach religionspolitisch vollendeter Aufklärung»140 und meint damit die Trennung von Bürgerrecht und Bekenntnis. Eine solche Trennung impliziert die funktionale Ausdifferenzierung der politischen und religiösen Sphäre, das heisst die Anerkennung unterschiedlicher Aufgaben-bereiche religiöser Gemeinschaften und des Staats.

2. Zivilreligion ist im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Ausdifferenzie-rung und Religionsfreiheit einerseits und dem Bemühen um politische Einheit und Integration andererseits anzusiedeln und wird als mögliche Antwort auf dieses ungelöste Problem angesehen. Geht man davon aus, dass im Mittel-alter die Kirche und ihre religiösen Praktiken die gesellschaftliche Klammer bildete, stellt sich die Frage, wie in einer Gesellschaft, in der die Kirche und deren Inhalte an Bedeutung und Macht verloren haben, der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden kann.

3. Es sind zwei verschiedene Idealtypen von Zivilreligion zu unterschei-den: der französische und der amerikanische Typus. Im französischen Typus wird Zivilreligion als säkular-republikanische Gegenreligion zur traditionellen christlich-kirchlichen – in Frankreich insbesondere in ih-rer gallikanischen Ausprägung – Religion verstanden. Der Anspruch des christlichen Glaubens, den ganzen Menschen mitsamt seiner Seele zu ergreifen, wird beibehalten, aber mit einem neuen, säkular-nationalen In-halt gefüllt. Dieser Typus von Zivilreligion wurde am Beispiel der école laïque von Jules Ferry illustriert. Deren Ziel ging weit darüber hinaus, den Kindern die notwendigen Kulturtechniken beizubringen, damit sie sich am demokratischen Prozess zu beteiligen vermögen und somit ihre Pflichten als Bürger einer Republik erfüllen können. Der Auftrag der Schule bestand nach Ferry vielmehr darin, die traditionelle in der Öffentlichkeit wirksame christliche Religion zu ersetzen, indem sie den Kindern die richtige Moral, das heisst, die republikanische Einheitsmoral, vermittelt.

Dieser Typus von Zivilreligion setzt die Überzeugung voraus, dass die Stabilisierung der Herrschaft des freiheitlich-republikanischen Staates einen in der Schule zu vermittelnden «esprit d’ensemble» bedingt. Kurzgefasst lässt sich Zivilreligion dieses Typus als eine Transformation des traditionell

139 Vgl. Maier 2007 [1995].

140 Lübbe 2004, 197.

Christlich-Religiösen ins National-Religiöse beschreiben und insofern mit Osterwalder als eine Sakralisierung des Staates und der Gesellschaft oder mit Voegelin als eine Re-Spiritualisierung des Innerweltlichen bezeich-nen.141 Der Staat wird zu einer Glaubensgemeinschaft. Der amerikanische Typus von Zivilreligion impliziert dagegen nicht wie im laizistisch-franzö-sischen Fall die Transformation der traditionell christlichen Institutionen, Glaubensinhalte und Kulte mit dem Ziel, diese letztendlich auszumerzen.

Den traditionell christlich-religiösen Glaubensinhalten und Kulten wird nichts entgegen gesetzt. Sie werden vielmehr im politischen Raum zu säku-lar-nationalen Zwecken eingesetzt. Anstatt Zivilreligion als Gegenreligion zu verstehen, wird von den Glaubensinhalten, Symbolen und Ritualen der traditionellen Religionen bzw. Konfessionen politischer Gebrauch gemacht. So gesehen ist Zivilreligion auf lebendige traditionell-religiöse Gemeinschaften angewiesen und zehrt von deren Ressourcen. Ein gemein-sames Bekenntnis ist nicht nötig, da im denominationalistischen Amerika Transzendenz mindestens in Form eines Deismus unterstellt und davon ausgegangen wird, dass alle Menschen einer Religionsgemeinschaft bzw.

Denomination angehören.

4. Zivilreligion hat einen paradoxen Aspekt: Sie setzt funktionale gesellschaft-liche Ausdifferenzierung voraus, trägt zugleich aber in sich Tendenzen zur Auflösung ebendieser Grenzen gesellschaftlicher Sphären. Der Grund dafür liegt darin, dass einerseits die freiheitliche Errungenschaft der Trennung von Bürgerrecht und Bekenntnis beibehalten werden soll, andererseits aber zugleich das Streben nach der Wiederherstellung der idealisierten antik-römi-schen symbiotiantik-römi-schen Einheit von Politik und Religion zum Programm gehört, da von der Annahme ausgegangen wird, dass politische Verfahren allein nicht genügten, um die freiheitlichen Errungenschaften des modernen liberal- demokratischen Nationalstaates aufrechtzuerhalten, sondern der freiheitliche Staat in irgendeiner Form auf vorpolitische Grundlagen angewiesen sei.142 Eine solche Auflösungstendenz zeigt sich insbesondere beim französischen Typus.

5. Ein weiteres Indiz für Zivilreligion ist, wenn das, was gemeinhin als universal erachtet wird – zum Beispiel die ‹Vernunft› oder das ‹Humanum› – staatlich unterstützt bzw. als notwendig für das staatliche Funktionieren erachtet wird.

141 Vgl. Osterwalder 1998, 135 f.; Voegelin 1993, 34; Katzenstein 2013, 18 ff.

142 Vgl. Maier 2007 [1995]; Müller 2005, 45.

Kulminationspunkt eines zivilreligiösen Glaubens ist, wenn die historische Kontingenz und Partikularität jeglichen Anspruchs auf Universalität negiert wird.143

143 Die historische Wandelbarkeit dessen, was als universal bzw. partikular gilt, kann am Beispiel der Begriffe Konfession und Religion aufgezeigt werden. Im 19. Jahrhundert hatten Konfes-sionen (protestantisch, katholisch usw.) den Status des Partikularen, während ‹Religion› auf etwas Universales, allgemein Menschliches hinzuweisen schien. Insofern aber Religion im Westeuropa des 19. Jahrhunderts christlich – wenn auch nicht christlich im konfessionellen Sinn – gedacht worden war, kann aus der Perspektive multireligiöser, pluralistischer Gesell-schaften des 21. Jahrhunderts so verstandener Religion keinen universalen Charakter mehr zugeschrieben werden. Denn keine spezifische Religion oder Weltanschauung kann univer-salen Charakter beanspruchen. Heute kommt dem Glauben an die Würde der Menschen, die sich in den Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte ausdrückt, universale Bedeutung zu. Aus nicht westlicher, globaler Perspektive kann natürlich auch dieser Glaube an die Men-schenwürde als weiteres um Anerkennung buhlendes ‹partikulares Universales› betrachtet werden. Die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen partikular und universal fällt voll-ends in sich zusammen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der partikulare jüdisch-christ-liche biblische Glaube, um nur ein Beispiel zu nennen, einen universalen Anspruch hat, wenn er davon ausgeht, dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes gleich geschaffen ist. Dieser Glaube wird de facto nicht von allen Menschen geteilt. Dies ist aber auch nicht der Fall hinsichtlich eines ‹Humanum› oder einer ‹universalen Religion› oder irgend etwas, das universalen Cha-rakter beansprucht.

3 Die zürcherische Volksschule im Spannungsfeld

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