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Der Verkauf eines Teils des Friedhofsgeländes an der Teichstraße

6. Jüdische Friedhöfe in Hildesheim

6.2 Der Verkauf eines Teils des Friedhofsgeländes an der Teichstraße

Dem Friedhof wird im Judentum ein besonders hoher religiöser Wert zugemessen.8 Nach jüdischer Vorstellung gehört das Grab den Toten als Eigentum auf immer, niemand darf, von eng gezogenen Ausnahmen abgesehen, über das Gelände verfügen. Es gilt, die Würde des Toten zu wahren und seine Ruhe bis zum Tag der Auferstehung zu sichern.9 Vor diesem Hintergrund ist die Überlassung eines Teils des Friedhofs von Seiten der Gemeinde an den Magistrat im Jahre 1890 aufsehenerregend.

Wie erwähnt, wurden seit langem Teile des Friedhofs zweckentfremdet, indem sie in die Weidenutzung einbezogen waren. Der Magistrat betrachtete sich als Eigentümer des

4 G. Hein: Der Hildesheimer Zentralfriedhof 1890-1990. In: Hildesheimer Friedhöfe im Wandel der Zeit, S. 84f.

5 Vgl. zur Lage u.a. H.-J. Hahn: Die Jüdische Friedhof an der Peiner Straße, S. 164.

6 Vgl. zur Einrichtung und Ausschmückung ebenda, S. 165f.

7 Ebenda, S. 164.

Der jüdische Friedhof in Hildesheim kann als historische Quelle noch weit mehr herangezogen werden, als hier zu leisten war. Das Verhältnis von hebräischer und deutscher Schrift auf den Inschriften und die Gestaltung der Grabsteine geben wichtige Hinweise zum Akkulturationswillen der Gemeinde. Dazu wäre jedoch eine umfassende Katalogisierung notwendig, die für Hildesheim bislang noch aussteht. Für einige Gemeinden ist dies z.T. schon geleistet worden (vgl. hierzu Berndt Schaller: Probleme und Ergebnisse der Erforschung jüdischer Friedhöfe und ihrer Grabinschriften. Bericht aus der Arbeit im Göttinger Umfeld. In:

Juden in Südniedersachsen. Geschichte - Lebensverhältnisse - Denkmäler. Beitr. zu einer Tagung am 10.11.1990 in Göttingen. Hg. v. Rainer Sabelleck. Hannover 1994 (= Schriftenreihe des Landschaftsverbandes Südniedersachsen 2), S. 179-184.

8 Vgl. z. B. Ina Lorenz u. Jörg Berkemann: Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen. Bd. 1. Hamburg 1995, S. 18ff.

9 Vgl. zu den engen Beschränkungen, Gräber neu zu belegen oder Tote umzubetten Alfred Grotte u. Max Joseph: Artikel 'Friedhof'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Bd. II. Berlin 1929, Sp. 818; vgl. hierzu und zur besonderen Bedeutung des Friedhofes I. Lorenz u. J. Berkemann: Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen. Bd.

1, S. 18ff.; S. 33ff.

Geländes und vergab auch Pachtverträge,10 so daß der Gemeinde wenig Möglichkeit blieb, gegen die Entweihung ihrer Begräbnisstätte vorzugehen.

Bereits in den 1870er Jahren kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Synagogengemeinde und Magistrat, als dieser beabsichtigte, eine Straße über einen Teil des Geländes zu führen.11 Landrabbiner Guttmann wies – wie auch der Vorstand12 – in seiner Eingabe auf den Verstoß gegen das jüdische Ritualgesetz durch dieses Vorhaben hin. 13 Der Magistrat erklärte sich seinerseits bereit, bei der Anlage der Gasleitungen da-für zu sorgen, daß die Gräber – "soweit thunlich"14 – zu umgehen waren.15 Damit er-klärte sich der Vorstand nicht einverstanden und verlangte die Zusicherung, daß die Ruhe der Gräber künftig für alle Zeit gesichert werde.16 Der Magistrat ging jedoch nicht darauf ein und machte keine weiteren Zusagen.17 Tatsächlich scheint es dann in den folgenden Jahren im Zuge von Bauarbeiten zu Umbettungen von Leichen gekommen zu sein.18

An dieser Auseinandersetzung zeigte sich, wie sehr zu dieser Zeit das traditionelle Bewußtsein unter den Gemeindemitgliedern lebendig war – und zwar bei einem durchaus größeren Teil: Schließlich unterzeichneten die erwähnte Petition des Vorstandes 63 Personen.19 Daneben machen die Ereignisse deutlich, wie wenig Verständnis der Magistrat für jüdische Traditionen besaß und daß er kaum bereit war, auf diese Rücksicht zu nehmen.

Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Synagogengemeinde und Magistrat fand in den Jahren 1889/ 90 statt: Die Stadt plante, auf einem großen Teil des jüdischen Friedhofs an der Teichstraße ein Kinderheim zu errichten.Man argumentierte unter an-derem, auf dem Friedhof seien seit mehr als 60 Jahren keine Bestattungen mehr

10 Vgl. z.B. Schreiben des Magistrats an das Stadtbauamt vom 1.11.1881 (StA Hildesheim Best.

101/ 301, Nr. 31); StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17.

11 Vgl. etwa das Schreiben Landrabbiner Guttmanns vom 1.6.1875 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

12 Vgl. Petition vom Juni 1875 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

13 Vgl. etwa das Schreiben Landrabbiner Guttmanns vom 1.6.1875 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

14 Schreiben des Magistrats an den Vorstand der Synagogengemeinde vom 9.7.1875 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

15 Ebenda.

16 Schreiben des Vorstandes der Synagogengemeinde vom 29.7.1875 (StA Hildesheim Best. 101/

321, Nr. 17).

17 Schreiben des Magistrats vom 31.9.1879 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

18 Vgl. Schreiben des Vorstandes der Synagogengemeinde vom 29.7.1875 u. 21.7.1879 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17); Schreiben des Magistrats vom 20.6.1889 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

19 Schreiben der Synagogengemeinde vom Juni 1875 (StA Hildesheim Best 101/ 321, Nr. 1).

führt worden, und er wirke nicht mehr wie ein Friedhof, da er als "Garten",20 also als Weideland,21 genutzt werde. Der Regierungspräsident empfahl dem Magistrat dagegen, die religiösen Gefühle der Israeliten in dieser Angelegenheit nach Möglichkeit zu scho-nen.Als Alternative schlug er vor, ein anderes Gelände für das geplante Kinderheim zu wählen und, sollte das nicht möglich sein, so zu verfahren, daß die Gräber möglichst nicht verletzt würden.22 Der Magistrat hielt trotzdem an der Verwirklichung seines Vorhabens fest.

Für die Lösung des Konflikts wurde ein Gutachten des Landrabbiners Lewinsky23 entscheidend. In ihm ging es um die Frage, ob es gestattet sei und wenn ja, unter wel-chen Umständen, das Gelände bebaut werden dürfe. Seine Argumentation ist ausgespro-chen bemerkenswert: Der Rabbiner stellte zunächst fest, beide Rechtstitel seien unklar – jener der Stadt ebenso wie der der Gemeinde. Danach ging er auf den Vorschlag des Vorstehers August Dux ein, der vorsah, der Magistrat solle der Gemeinde einen Teil des beanspruchen Grundstücks zur Errichtung eines jüdischen Altersversorgungshauses überlassen. In diesem Falle würde die Gemeinde auf ihre Ansprüche verzichten und das Eigentumsrecht der Stadt an diesem Gelände anerkennen. Sollten die städtischen Kollegien diesen Vorschlag annehmen, so werde er, der Landrabbiner, diesen in ernste Erwägung ziehen und mit Amtsgenossen darüber beraten, ob darauf einzugehen wäre. In diesem Zusammenhang skizzierte er folgenden Gedanken: Das Vorhaben der Stadt sei ebenfalls ein Werk der Menschenliebe, der Humanität, das es vom religionsgesetzlichen Standpunkt aus zu fördern gelte. Ebenso sei das eigene Projekt ein dringendes Bedürfnis für die jüdischen Gemeinden der Provinz – und eben auch ein Werk der Humanität. In diesem Falle hebe also die religionsgesetzliche Pflicht, dem Ideal der Humanität verpflichtet zu sein, die andere, einen Friedhof für alle Zeit zu bewahren, auf.

Nachdem der Gemeindevorstand der Forderung des Magistrats nachgekommen war,24 das alleinige Eigentumsrecht der Stadt anzuerkennen,25 wurde tatsächlich in der vom Rabbiner skizzierten Weise ein Ausgleich gefunden – die Gemeinde erhielt etwa 450 qm unentgeltlich vom projektierten Terrain.26

20 Schreiben des Magistrats vom 20.6.1889 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

21 Ebenda.

22 Schreiben des Regierungspräsidenten an den Magistrat vom 19.8.1889 (StA Hildesheim Best.

101/ 321, Nr. 17).

23 Schreiben von Landrabbiner Guttmann vom 5.3.1890 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

24 Schreiben des Magistrats an die Synagogengemeinde vom 11.3.1890 (StA Hildesheim Best. 101/

321, Nr. 17).

25 Erklärung von August Dux und Gustav Sabel vom 27.3.1890 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

26 Beschluß des Magistrats vom 11.6.1890 (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

Dabei steht ganz außer Frage, daß dieser Teil des jüdischen Friedhofs tatsächlich be-nutzt worden war – aus einem Schreiben des Magistrats geht das klar hervor.27 Zudem legte der Paragraph 6 des Kaufvertrages mit der Gemeinde fest, daß, falls Gebeine ge-funden würden, sie der hiesigen Gemeinde zu übergeben wären.28 Man rechnete also bei dessen Abschluß mit dem Aufdecken von Gebeinen oder Leichenteilen. Der Gemeindeleitung muß sich also ihres Verstoßes gegen das Ritualgesetz vollkommen be-wußt gewesen sein.

Für die Beurteilung des Handelns von Gemeindevorstand und Rabbiner ist zweierlei entscheidend: Man hat nicht versucht, durch Ausschöpfen aller rechtlichen Mittel die Bebauung des Friedhofs zu verhindern. Vielleicht waren die Aussichten hierfür ange-sichts des doch wohl eindeutigen Besitzrechtes der Stadt nicht eben günstig. Nur ist zu fragen, ob es nach traditionellem jüdischen Verständnis nicht geradezu eine religiöse Pflicht gewesen wäre, alle Möglichkeiten auszuschöpfen – und seien sie auch noch so aussichtslos.29 Statt dessen offerierte man einen Kompromiß, der der Tradition voll-kommen widersprach. Das spricht für ein durchaus liberales religiöses Verständnis des Vorstandes, das sich etwa in Fragen der Liturgie des Gottesdienstes deutlich zeigte.30

Nicht minder ungewöhnlich ist die Stellungnahme des Rabbiners. Auffällig ist vor al-lem, daß er sich nicht etwa auf die im Schulchan Aruch angeführten möglichen Ausnahmen berief und sie großzügig auslegte, wie dies liberale Rabbiner sonst taten,31 sondern eine religionsgesetzliche Pflicht durch eine andere aufgehoben sah. Auch dies spricht für einen ausgesprochen liberal eingestellten Rabbiner.

Es dauerte noch einige Jahre, bis die jüdische Gemeinde tatsächlich daran ging, ihren Teil an dem Gelände zu bebauen. Karl Bauer schreibt in seiner 'Neuesten Geschichte der Stadt Hildesheim' hierzu:

"Am 31. März 1901 fand die Einweihung des auf dem Raume des früheren alten jüdischen Begräbnisplatzes an der Teichstraße, der um 1820 benutzt wurde, neuerbauten 'Vereinigten Stiftshauses' des Meyer Meyerhof und Wolf Dux und Henriette Dux-Stifts in feierlicher Weise statt."32

27 Schreiben des Magistrats an die Synagogengemeinde (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

28 Vgl. den am 16.1.1892 geschlossen Kaufvertrag (StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17).

29 Vgl. I. Lorenz u. J. Berkemann: Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen. Bd. 1, S. 34; vgl. hierzu auch das Gutachten von Oberrabbiner Marcus Avram Hirsch v. 9.1.1896. In: I. Lorenz u. J.

Berkemann: Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen. Bd. 2, S. 319.

30 Vgl. z.B. J. Schneider: Anmerkungen zur Gestaltung der Hildesheimer Synagoge, S. 176ff., vgl.

auch II, Kap. 10.6.

31 Vgl. hierzu z.B. das Gutachten des liberalen Predigers der Hamburger Tempel Gemeinde vom 5.3.1896. In: I. Lorenz u. J. Berkemann: Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen. Bd. 2, S. 320.

32 K. Bauer: Neueste Geschichte von Hildesheim, S. 89f.

6.3 Streit um die Gestaltung zweier Grabsteine – oder: Der Kampf um