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Der Verein für Geschichte und Literatur der Juden/ Verein für jüdische Geschichte und Literatur

9. Das jüdische Vereinswesen in Hildesheim

9.5 Der Verein für Geschichte und Literatur der Juden/ Verein für jüdische Geschichte und Literatur

Bereits in den 1880er Jahren entstanden im Deutschen Reich die ersten Vereine für jüdi-sche Geschichte und Literatur.120 1893 schließlich wurde in Hannover der 'Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland' gegründet. Dieser förderte leistungsschwache Ortsvereine, veröffentlichte Listen von Rednern, die zu Veranstaltungen in den Gemeinden eingeladen werden konnten. Seit 1898 wurde das 'Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur' herausgegeben – und zwar in einer Auflage von später 5.000 Exemplaren.121 In diesem Blatt wurde unter anderem über die Vereinstätigkeit in den verschiedenen Städten berichtet.

Die Vereine fanden in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands großen Anklang:122 1903 hatte der Verband bereits etwa 15000 Mitglieder.123 Für das Jahr 1914 sind mehr als 200 Vereine belegt.124 Die Gründung entsprach also einem Bedürfnis vieler. Er war damit die größte jüdische Organisation jener Zeit.125 Trotz dieses Erfolges war der Verband bei seiner Gründung in der jüdischen Gemeinschaft nicht unumstritten – ähnlich wie später jene des CV.126 Die Furcht bestand, eine spezifisch jüdische Organisation könne auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft als Zeichen dafür aufgefaßt werden, die Juden seien unwillig, Teil der deutschen Gesellschaft zu werden.127 Im historischen Kontext waren Vereine, die sich mit der eigenen Geschichte, Kultur und Tradition

120 Jacob Borut: Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur at the End of the Ninetheenth Century. In: Leo-Baeck-Institute Year Book XLI (1996), S. 90ff.

121 Vgl. die verschiedenen Angaben zur Entwicklung und Tätigkeit des Verbandes in diesem Absatz bei Ismar Elbogen: Artikel 'Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland'. In: Jüdisches Lexikon. Bd. IV/ 2, Sp. 1169.

122 Chaim Schatzker spricht gar von einer "Massenbewegung" (vgl. Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S 174).

123 Ebenda, S. 170.

124 I. Elbogen: Artikel 'Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland', Sp. 1169.

125 Vgl. hierzu die Zahlen von J. Borut für das Jahr 1900 (J. Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, S. 89).

126 A. Paucker: Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893-1933, S. 167.

127 Vgl. hierzu die Ausführungen von J. Borut: "Existing societies also suffered from the fear, com-mon acom-mong the German Jews, that specifically Jewish organisations migth be seen by Germans as a declaration of the desire to remain separate, unwilling to become part of German society." (J.

Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, S. 91).

auseinandersetzten,128 nichts, was auf die jüdische Bevölkerung beschränkt gewesen wäre. Vielmehr waren sie eine jüdische Parallele zu den in dieser Zeit ebenfalls zahlreich entstehenden Geschichtsvereinen.129

Chaim Schatzker stellt im wesentlichen zwei Ursachen für die Gründung und Ausbreitung der Vereine heraus: erstens den Schwund jüdischen Bewußtseins, der Kenntnis vom Judentum.130 Die Bindung an das Religionsgesetz nahm ab. Alte Bildungseinrichtungen der Gemeinden wie Cheder und Bet-hamidrasch verschwanden spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts, während moderne wie etwa der Religionsunterricht in den Schulen diesen Verlust nicht vollständig kompensieren konn-ten.131 Diese Aufgaben sollten die Vereine für Geschichte und Literatur der Juden über-nehmen. Nicht von ungefähr sah der maßgebliche Förderer und Anreger der Vereinsbewegung, Gustav Karpeles, in den 'Vereinen für jüdische Geschichte und Literatur' eine modernere Form des Bet-hamidrasch.132 Die Gründung des Verbandes war also eng mit dem Ziel der Bewahrung und Festigung des Judentums verbunden.

Jedoch bestand ein fundamentaler Unterschied zu den genannten traditionellen Einrichtungen: Das Engagement in den Vereinen für jüdische Geschichte und Literatur setzten keine religiöse Identität vom Judentum voraus, es 'genügte' eine säkular-kul-turelle unter den Mitgliedern.

Einen zweiten Grund für Bildung und rasche Ausbreitung der Vereine sieht Ch.

Schatzker im Antisemitismus. Die Initiatoren hofften einerseits durch deren Tätigkeit die Kenntnis über das Judentum unter den Juden zu vertiefen, um das eigene Selbstbewußtsein zu stärken und so ungerechtfertigte Angriffe gegen ihre Religion mittels ihrer genaueren Kenntnis abwehren zu können.133 Andererseits sollte die Vereinstätigkeit auch dazu führen, Vorurteile in der nichtjüdischen Gesellschaft gegenüber der jüdischen Gemeinschaft abzubauen. Man ging davon aus, der Antisemitismus beruhe nicht zuletzt auf Unkenntnis über das Judentum.134

128 Zur Tätigkeit dieser Vereine bemerkt Ismar Elbogen: "In den Vereinen werden Vorträge über die verschiedensten Themen aus dem Gebiete des jüdischen Lebens der Vergangenheit und Gegenwart gehalten und so eine Einführung in die Gedankenwelt und Literatur des Judentums gegeben." (I. Elbogen: Artikel 'Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland', Sp. 1169).

129 J. Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur S. 89.

130 Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S. 171f.

Die Abhandlung Ch. Schatzkers ist eine der wenigen neueren zu diesem Gegenstand. Leider weist gerade das hier relevante Kapitel eklatante Mängel auf. Es besteht weitgehend aus bloßer Zitatmontage, wobei die Quellen aus einer Zeit stammen, in denen es noch gar keine 'Vereine für jüdische Geschichte und Literatur' gab.

131 Vgl. auch Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S. 169.

132 I. Elbogen: Artikel 'Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland', Sp. 1169.

133 Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S. 172-175.

134 Ebenda, S. 171.

Wann der Hildesheimer Verein entstand, ist nicht genau zu bestimmen. Im Jahrbuch des Verbandes von 1898 ist er noch nicht erwähnt, erst in dem des Jahres 1899.135 Unklar ist, ob es hierfür einen konkreten Anlaß gab. Möglicherweise war die Gründung eine Reaktion auf eine bestimmte 'Problemlage': Wie bereits erwähnt, waren gerade in dieser Zeit Tendenzen vorhanden, die von den Zeitgenossen als Zeichen wachsender Indifferenz angesehen werden konnten. In Erinnerung gerufen seien hier nur die desola-ten Beteiligungen an den Gemeindewahlen.136 Die Vereinsgründung wäre damit gleich-sam 'ein Versuch der Resozialisation zum Judentum'137 gewesen.

Tatsächlich saßen im Vorstand des Vereins – und das ist ein entscheidendes Indiz für diese These – Männer, die Ämter in der Gemeindeleitung innehatten wie August Dux, der damalige Vorsteher, A. Oppenheimer, ein Mitglied des Engeren Ausschusses, sowie der Rabbiner Dr. Lewinsky.138 Manche waren in anderen jüdischen Vereinen an führender Stelle engagiert. So war E. Freudenthal später Vorstandsmitglied im 'Israelitischen Verein für Kranke und Bedürftige der Gemeinde'.139 Das waren alles Personen – ähnlich wie später bei den Gründern der Loge –, bei denen man von einem

So bedenkenswert diese Ansätze Ch. Schatzkers auch sind, sie können das Phänomen doch nicht gänzlich erklären. Zum einen setzt eine sich so rasant ausbreitende Bewegung eine gewisse Disposition, ein Bewußtsein eigener Identität unter der jüdischen Bevölkerung voraus, um solchen Erfolg zu haben. Ob dies etwa erst der Antisemitismus in den 1890er Jahren 'geschaffen' hat, erscheint mehr als fraglich. Vielmehr war bereits - wie schon erwähnt - in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine jüdische Subkultur entstanden, deren organisatorischer Ausdruck z.B. die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Vereine war.

Zum anderen läßt diese Perspektive allgemeine gesellschaftliche Prozesse unberücksichtigt. J.

Borut hat in jüngster Zeit versucht, diese zur Erklärung des Entstehens der Vereine miteinzubeziehen (J. Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, S. 94ff.). Zwar leugnet er keineswegs den aufkommenden Antisemitismus als wichtige Ursache, weist aber u.a.

darauf hin, daß deren Bildung im Kontext der Formierung anderer Interessenverbände geschah, gleichsam Ausdruck ein "strengthening of particularism" (ebenda, S. 94). Diese stand wiederum im Zusammenhang mit dem Aufstieg anderer großer Subkulturen in der deutschen Gesellschaft, etwa der Katholiken, der Arbeiterbewegung oder der beträchtlichen polnischen Minderheit (ebenda, S. 94f.; vgl. zu den Ursachen der Entwicklung insgesamt ebenda, S. 94ff.). Schließlich bildeten sich - so J. Boruts Auffassung - gerade in den Regionen, die von Preußen 1866 oder vom Reich 1871 'annektiert' wurden, regional orientierte Geschichtsvereine: "They aimed to preserve the memory of the old fatherland and to promote 'Heimatgefühl' and local patriotism." (ebenda, S. 96).

Die Verbindung zwischen der jüdischen und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die J.

Borut unternimmt, scheint sehr fruchtbar zu sein. Problematisch ist jedoch - darauf wird später noch einzugehen sein - seine Auffassung, die jüdische Subkultur bzw. in seiner Terminologie

"Teilkultur" (ebenda, S. 112f.) sei erst in den 1890er Jahren entstanden (ebenda, S. 114.).

135 Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 274; S. 288.

136 Vgl. II, Kap. 2.2.

137 Formulierung und Begriff in Anlehnung an Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S. 170.

138 Vgl. zur Zusammensetzung des Vereinsvorstandes 1899: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 274.

139 Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1911, S. 74.

ausgeprägt jüdischen Bewußtsein und auch von einer starken Bindung an jüdische Tradition ausgehen kann. Sie hatten Interesse daran, dies auch in der Gemeinde zu festigen.140

Im Mittelpunkt des Vereinslebens stand die Organisation von Vortragsveranstaltungen, von denen man im Jahr – soweit die Quellen darüber Auskunft geben141 – etwa vier oder fünf organisierte. Behandelt wurden nicht allein religiös-traditionelle Themen, sondern ganz umfassend jüdische Kultur, Lebensweise und Geschichte sowie der Einfluß jüdischer Geisteswelt auf andere kulturelle Kreise und umgekehrt.142

Das waren durchaus typische Schwerpunkte im Vergleich zu anderen Vereinen.143 Themen, gegen die etwa die Zionisten heftig polemisierten. Sammy Gronemann bemerkte zum Beispiel:

"Mit Vorliebe wurde immer wieder ein Thema behandelt, nämlich das Thema '... und die Juden', also 'Goethe und die Juden', 'Herder und die Juden', Napoleon, Spinoza, Rinaldo Rinaldini und die Juden etc. Das war in seiner Art charakteristisch. Das Judentum interessierte die meisten Hörer hauptsächlich aus dem Gesichtspunkt, welchen Eindruck es auf die Außenstehenden machte. Es war schon ein gewisser Fortschritt als späterhin, bei wachsendem jüdischen Bewußtsein, die Variante aufkam:

140 Im übrigen zeigt diese knappe Übersicht der verschiedenen, an führender Stelle Aktiven, daß sie zu den 'Notabeln' der Gemeinde zählten. Dies deckt sich mit den Ergebnissen J. Boruts (vgl. J.

Borut: Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur, S. 101ff.).

141 Die einzigen vorliegenden Quellen sind die kurzen Mitteilungen aus den Jahrbüchern des Verbandes.

142 Vgl. folgende zu belegende Themen von Veranstaltungen: Dr. A. Kohut/ Berlin: Die Berliner Salonperiode; Rabb. Dr. Ackermann/ Brandenburg: Die Höhepunkte der jüdischen Geschichte;

Rabb. Dr. Rosenthal/ Stargrad: Die 3 Räthselbücher der Menschheit: Kohlet, Hamlet und Faust;

Alb. Katz/ Berlin: Lord Byron und die hebräischen Melodien; Prof. Dr. Freudenthal/ Breslau:

Der Einfluß Spinozas auf die deutschen Denker (vgl. Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 288); Seminardirektor Dr. Knoller/ Hannover: Die soziale Gesetzgebung in der Bibel; Dr. G. Karpeles/ Berlin: Die Juden in der deutschen Literatur; Dr. E. Seligmann/

Hamburg: Über die Probleme der jüdischen Kultur, eine völkergeschichtliche Parallele;

Landrabbiner Dr. Rülf/ Braunschweig: Jüdische Proselyten (vgl. Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1900, S. 302f.); Dr. Kohut/ Berlin: Friedrich der Große und Joseph II:

und ihre Beziehungen zu den Juden; Dr. Leimdörfer/ Hamburg: Der Weiseste bei den Hellenen und Hebräern; Dr. Huth/ Charlottenburg: Die Juden in Sibirien nach eigenen Reisebeobachtungen; Dr. Lewinsky: Wie urteilen Griechen und Römer über Juden und Judentum? (vgl. Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1901, S. 27); Rabbiner Dr.

Rosenthal/ Stargard: Psalmen und Weltliteratur; Dr. med Jos. Rulf/ Karlsbad: Freud' und Leid im jüdischen Hause; Rabb. S. Gronemann/ Hannover: Die Juden in Soll und haben - Ut mine Stormtid; Gen.-Sekr. Dr. Tuch/ Berlin: Die Juden in der Landwirtschaft (Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1902, S. 26).

Vgl. in diesem Zusammenhang die sehr interessante Statistik J. Boruts über die in den Vorträgen der Vereine behandelten Schwerpunkte: J. Borut: Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur, S. 105ff.

143 Vgl. etwa Ch. Schatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, S. 174.

'Die Juden und...', also etwa 'Die Juden und die Musik', 'Die Juden und die Eigentumsdelikte' etc."144

Solche Kritik ist nicht nur überzogen, sondern verkennt auch die Bedeutung der Vereine. Die in Hildesheim gehaltenen Vorträge behandelten nicht nur die Sicht von Christen auf die Juden oder den Einfluß jüdischer Kultur auf die christliche Umwelt.

Auch spezifisch 'jüdische' Themen waren Gegenstand der Vorträge. Diese hatten gewiß mit traditioneller jüdischer Religiosität oder 'theologischer' Unterweisung wenig zu tun.

Nur ist dies der falsche Maßstab zur Beurteilung.

Das Religionsgesetz wurde immer weniger als bindend angesehen, die Zahl der Mischehen nahm zu. Es gab religiöse Indifferenz. Angesichts dieser Entwicklung war ein Weg zurück zu dem Punkt unmöglich, an dem Religionsgesetz und religiöse Praxis Leben und Alltag der weitgehend geschlossenen jüdischen Gemeinschaft bestimmten.145 So stellte sich das Problem, Menschen, die religiös wenig interessiert waren, wieder für das Judentum zu interessieren und zu gewinnen.146 Um gerade diesen Personenkreis an-zusprechen, war die Themenauswahl des Hildesheimer Vereins überaus geeignet. Sie bot die Chance, zumindest das jüdische Bewußtsein im Sinne einer kulturellen Identität zu stärken, um so die Bindungen an das Judentum zu bewahren. Unerheblich ist dabei, ob diese Intention der Gründung zugrunde lag oder nicht. Allein die Folge ist relevant. Hier bereits ist auf etwas hinzuweisen, was noch bei anderen jüdischen Vereinen entscheidend sein wird: Juden kamen zusammen, hörten Vorträge über jüdische Geschichte und Kultur – damit versicherten sie sich ihrer Zusammengehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und schufen damit eine Grundlage gemeinsamer Identität.

Die Wahl der Themen war ferner – wie auch J. Borut hervorhebt – bedingt durch den historischen Standort der Vereinsmitglieder:

"[W]hat they did was to select those elements from the long, rich and multi-faceted Jewish tradition which matched the value system of the majority so-ciety, and of the social class to which they belonged."147

Damit wurde zur Bildung einer neuen, säkular-kulturell definierten Identität eine Tradition gleichsam 'erfunden'.148

144 Leo Baeck Institute New York ME 37, S. 53 (zitiert nach: ebenda).

145 Vgl. ebenda, S. 169.

146 Von diesem Prozeß der 'Säkularisation' war natürlich nicht nur die jüdische Glaubensgemeinschaft betroffen.

147 J. Borut: Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur, S. 111.

148 Vgl. den an Shulamit Volkov angelehnten Begriff Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 603-628.

Offenbar fand der Verein in Hildesheim – zunächst – großen Anklang. 1899 besaß er 65 Mitglieder.149 Es kamen durchaus berühmte Persönlichkeiten, gar führende Repräsentanten des deutschen Judentums als Redner nach Hildesheim.150 Doch trotz der vielfältigen Themenauswahl und der namhaften Redner scheint dem Verein dauerhaft kein Erfolg beschieden gewesen zu sein – ganz anders verlief vor 1914 die Entwicklung des Verbandes insgesamt.151 Bereits im Jahre 1902 findet sich der letzte Beleg über

Jacob Borut schlägt als anderen Begriff die "selection of tradition" (vgl. J. Borut: Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur, S. 111; vgl. hierzu ebenda, S. 110f.) vor mit der Begründung, daß bezogen auf die Vereine keine 'Erfindung' einer Tradition erfolgt sei, sondern lediglich eine Auswahl aus der reichen, vielfältigen Tradition.

Der Vorschlag J. Boruts scheint mir keine Bereicherung für die Diskussion zu bieten. Denn ein Rückbeziehen auf eine Tradition, eine Aktualisierung, auch als 'bloße' Auswahl, ist bezogen auf die Schaffung einer neuen Identität für die Gegenwart immer schon kreativ, schon 'erfinderisch'.

Insofern scheint mir der S. Volkov vorgeschlagene Begriff passender zu sein.

149 Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 274.

150 Jakob Freudenthal war ein war ein bekannter zeitgenössischer Philosoph; er wurde, nachdem er aus konfessionellen Gründen keine Anstellung an staatlichen Schulen erhalten hatte, Elementarlehrer an der jüdischen Samsonschule in Wolfenbüttel, bekam dann nach einem Jahr das Angebot, am Jüdisch-theologischen Seminar Unterricht in klassischen Sprachen zu geben und Vorlesungen über die Geschichte der Religionsphilosophie zu übernehmen. Nach seiner Habilitation 1875 wurde er 1878 zunächst außerordentlicher Professor, 1888 dann ordentlicher Professor. J. Freudenthal war ein bedeutender Kenner der antiken und mittelalterlichen Philosophie sowie Spinozas - zum Beispiel verfaßte er sämtliche Artikel in Pauly-Wissowas Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft zu den Neuplatonikern (Große Jüdische National-Biographie. Bd. 2, S. 313f.).

Gustav Karpeles hatte zunächst jüdische Theologie und Geschichte am Seminar in Breslau sowie an der dortigen Universität Philosophie studiert, wo er auch zum Dr. phil. promovierte. G.

Karpeles ging nach Berlin und beschäftigte sich mit literaturgeschichtlichen Forschungen, ebenso wandte er sich immer mehr dem Journalismus zu und arbeitete bei verschiedenen Zeitungen - er redigierte z.B. ab 1890 die 'Allgemeine Zeitung des Judenthums', veröffentlichte jedoch auch zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten etwa zu Heine, dessen Werke er ab 1885 herausgab. Bis 1895 widmete sich G. Karpeles dem Aufbau der 'Jüdischen Literaturvereine', in denen er zahllose Vorträge über jüdische Geschichte und Literaturgeschichte hielt (Große Jüdische National-Biographie. Bd. 3, S. 411).

Albert Katz war Sekretär des Verbandes der jüdischen Literaturvereine; er stammte aus Südrußland, von wo er wegen der Pogrome um 1880 nach Berlin übergesiedelt war. Nach Aufnahme eines Studiums an der Hochschule, das er aufgrund finanzieller Not abbrechen mußte, wurde er dann Lehrer und Prediger in Fürstenwalde und gab zudem eine zionistische Zeitschrift heraus. Ab 1890 wurde er Mitarbeiter an der liberalen 'Allgemeinen Zeitung des Judenthums' (Große Jüdische National-Biographie. Bd. 3, S. 414f.).

Adolf Kohut war promovierter Literatur- Kulturhistoriker, Schriftsteller sowie ein bekannter Vortragsredner seiner Zeit. Zu seinen Titeln und Auszeichnungen gehören etwa der Rang 'kaiserlicher Rat', er war Ritter des Franz-Joseph-Ordens, Inhaber des goldenen Verdienstkreuzes mit der Krone, der Verdienstmedaille für Kunst und Wissenschaft. Nach seinem Studium und Promotion wurde er später Redakteur zum Beispiel der 'Tribüne' in Berlin. A. Kohut war zudem ein Bekannter Bismarcks, den er 1884 in einem Artikel heftig angriff und darauf aus Preußen ausgewiesen wurde. A. Kohut lebte dann in Dresden, wurde aber von Bismarck 1889 zurückberufen. 1910 erfolgte die Ernennung von Kaiser Franz Joseph zum kaiserlichen Rat. A.

Kohut verfaßte insgesamt mehr als 100 Werke zu Themen der Literatur, Kulturgeschichte, Geschichte, Musik, Biographie und Humoristik (Große Jüdische National-Biographie. Bd. 3, S.

495f.).

151 Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 274.

Veranstaltungen in Hildesheim im 'Jahrbuch' des Verbandes. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Mitglieder von ursprünglich 65 auf 50 Personen gesunken.152 Schon 1904 betrug sie nur noch 40.153 Den Angaben im 'Jahrbuch' zufolge blieb diese Zahl konstant bis 1911.154 Der Verein selbst existierte also über das vermutliche Enden seiner Tätigkeit hinaus zunächst weiter.

Weshalb ab 1902/03 die Tätigkeit erlosch, darüber sind nur mehr oder weniger zu be-gründende Spekulationen möglich. Das Ruhen der Vereinstätigkeit könnte einerseits si-cher auf fehlendes Interesse zurückzuführen sein. Dagegen spricht vor allem die anfäng-lich durchaus recht hohe Mitgliederzahl sowie das Renommee der verschiedenen Redner.

Wahrscheinlicher ist folgender Grund: Das Einstellen der Tätigkeit steht zeitlich in en-gem Zusammenhang mit dem Tod des langjährigen und einflußreichen ersten Gemeindevorstehers August Dux. Dieser war Mitglied des Vereinsvorstandes.155 Möglicherweise ist der Erfolg des Vereins in den ersten Jahren maßgeblich mit seinem Engagement verbunden gewesen. Das würde auch erklären, weshalb keine Vortragsveranstaltungen mehr abgehalten wurden, der Verein aber bei unveränderter Mitgliederzahl jedoch weiter bestand: Offenbar scheidet Desinteresse als Grund für das Enden der Vereinstätigkeit aus.

Neben diesem ist noch eine andere, vielleicht sogar damit zusammenhängende Ursache zu bedenken: Vorträge zu organisieren, war sehr kostspielig, da die Redner Geld für ihr Kommen verlangten.156 Eine Gemeinde, die pro Monat einen Gast einladen wollte, benötigte ungefähr 2.000 Mk. im Jahr157 – eine mittelgroße Stadt wie Hagen

"amounted to less than 10.000 Mark".158 Möglicherweise war derartiges für die Hildesheimer Gemeinde kurz nach 1900 nicht mehr tragbar. Dies galt um so mehr, als ei-ner ihrer führenden Repräsentanten und Spender, wie August Dux es war, verstarb.

Insofern wäre das Erlöschen des Vereinslebens also ein historischer Zufall gewesen.

Mangelndes Interesse an einem solchen Verein erscheint eher unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß nur wenige Jahre nach dem Ende des aktiven Vereinslebens, eine an-dere jüdische Vereinigung, die Hillel-Loge, einen breiten Anklang fand.

152 Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1902, S. 8.

153 Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1904, S. 26.

154 Im Jahrbuch für 1911 wird der Hildesheimer Verein ein letztes Mal aufgeführt.

155 Vgl. zu dem Amt v. A. Dux innerhalb des Vereins: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1899, S. 274.

156 Jacob Borut: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, S. 91f.

157 Ebenda, S. 92.

158 Ebenda.