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Die Entwicklung des Hildesheimer Landrabbinates

2. Organisatorische Struktur der jüdischen Gemeinde

3.3 Die Entwicklung des Hildesheimer Landrabbinates

Bereits nach der Annexion Hannovers durch Preußen im Jahre 1866 wurde die Frage diskutiert, ob die hannoversche Verfassung der jüdischen Religionsgemeinschaft künftig beibehalten werden sollte. Manche Gemeinden forderten die Abschaffung dieser Institution. Dazu gehörte bemerkenswerter Weise neben Göttingen, Goslar, Harburg und

17 A. Löb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 73.

18 Ebenda, S. 59f.

Lüneburg auch die Hildesheimer Gemeinde als Sitz eines der Landrabbinate. Als Gründe hierfür wurden unter anderem die zu hohen Kosten angeführt sowie die von Regierung und Landrabbiner ausgeübte Kontrolle über das Kultuswesen.19 Unklar ist, weshalb speziell die Hildesheimer Gemeinde gegen den Fortbestand der Landrabbinate eintrat.

Wahrscheinlich empfand sie vor allem die durch die Regierung ausgeübte Aufsicht über das Gemeindewesen als bedrückend. Finanzielle Erwägungen dagegen spielten wohl nur eine untergeordnete Rolle. Schließlich mußte sie in jedem Falle einen Beitrag zur Finanzierung einer Rabbinerstelle leisten, ob dieser nun zugleich Landrabbiner war oder nicht. Jedoch sprach sich neben den Landrabbinern die überwiegende Mehrheit der Synagogengemeinden der Provinz für die Beibehaltung der Landrabbinate aus.20 Das wohl vor allem deswegen, weil auf diese Weise auch in den ärmeren, kleineren Gemeinden die religiöse Betreuung weiter gesichert war – also bei denen, die eine eigene Rabbinerstelle nicht hätten unterhalten können.

Die Hildesheimer Gemeinde änderte jedoch in der Folgezeit ihre Position grundlegend. Die vorliegenden Quellen lassen nicht erkennen, weshalb. Wahrscheinlich aber ist der Grund der, daß die Alternativen 1866 ganz andere waren als später: 1866 stand die Einführung des preußischen 'Judengesetzes' von 1847 zur Diskussion. Das hätte zu einer "Atomisierung"21 in Einzelgemeinden ohne weiteren organisatorischen Zusammenhang geführt. Für Hildesheim hätte diese Lösung keine wesentliche Verschlechterung der eigenen Stellung bedeutet, da keine andere Gemeinde im Gegenzug einen Zugewinn an Ansehen und Bedeutung erlangt hätte. Später war die Situation davon jedoch grundlegend verschieden: Die von mehreren Gemeinden eingereichten Vorschläge zur Veränderung zielten zumeist nicht darauf, die Institution des Landrabbinates selbst abschaffen, sondern darauf, eine Umschichtung der Kräfteverhältnisse zu erreichen – etwa durch Verlegen des Landrabbinatssitzes in eine andere Stadt des Bezirks.

Schon wenige Jahre später setzte eine neue Debatte über die künftige Form des Hildesheimer Rabbinates ein. Nach dem Tode des Landrabbiners Meyer Landsberg 187022 wurden von mehreren Gemeinden hierzu Anträge gestellt.23 Der wohl

19 Vgl. hierzu "... das die Juden in unsern Landen einen Rabbinen erwehlen...". Beiträge zum 300.

Jahrestag der Errichtung des Landrabbinates Hannover am 10.3.1987. Hg. vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen u.a. Hannover 1987, S. 53.

20 Vgl. hierzu ebenda, S. 52f.

21 Begriff nach M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 157.

22 Vgl. zu seiner Biographie The Jewish Encyclopedia. Ed. by Isidore Singer u.a. New York/

London, Vol. VII, S. 615f.; Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart.

Bd. 10, Sp. 619.

23 Vgl. Schreiben des Oberpräsidenten an die Hildesheimer Landdrostei vom 19.4.1872 (NHStA Hann. 122a, Nr. 4220).

tigste war jener der Göttinger Gemeinde. Sie war nämlich die nach Hildesheim zweit-größte des Bezirks, und ihre Bedeutung war unter den Bezirksgemeinden nicht zuletzt durch eine deutliche Zunahme der Gemeindemitglieder24 gewachsen. Ihrem Antrag25 nach sollte entweder die Wahl des Landrabbiners bis auf weiteres ausgesetzt werden, oder – als Alternative hierzu – das Hildesheimer Landrabbinat mit dem Hannovers auch institutionell vereinigt werden. Das Nicht-Besetzen der Stelle, auf die der erste Vorschlag hinauslief, hätte aus der kommissarischen Interimsverwaltung durch den hannoverschen Landrabbiner eine dauerhafte Einrichtung gemacht.26

Die Folge beider Vorschläge wäre eine finanzielle Entlastung der Gemeinden des Bezirks gewesen. Schließlich lag das Gehalt für die Interimsverwaltung um die Hälfte niedriger als für eine eigene Landrabbinatsstelle im Hildesheimer Bezirk.27 Wären das Hildesheimer Rabbinat mit dem Hannovers, wie es der zweite Vorschlag vorsah, zu-sammengelegt worden, hätte dies zu einer breiteren Kostenverteilung für die eine Rabbinerstelle unter einer größeren Anzahl von Steuerpflichtigen geführt. Zumal es in Hannover eine Großgemeinde von etwa 2000 Mitgliedern gab.28

Vermutlich bestand an einer Verminderung der Kosten unter den Gemeinden des Hildesheimer Bezirks ein großes Interesse, da hier von allen Landrabbinatsbezirken –

Dazu gehörten Gemeinden wie Göttingen, Goslar, Einbeck und Peine.

24 P. Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar, S. 9.

25 Die Göttinger Gemeinde reichte die Eingaben mindestens schon im Jahre 1871 ein (vgl. hierzu das Schreiben der Hildesheimischen Landdrostei an den Magistrat vom 7.4.1873 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 7393), und das der Synagogengemeinde Hildesheim an den Oberpräsidenten vom 2.10.1873 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

Da sich in den Akten des Hauptstaatsarchivs Hannover das Schreiben der Göttinger Gemeinde nicht findet, sind ihre Vorschläge nur aus dem Erlaß der Minister des Inneren und der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom 19.3.1873 (NHStA Hannover Hann. 180, Nr. 3946) indirekt zu erschließen.

26 Göttingen strebte damit wohl eine ähnliche Regelung wie im Falle des Stader Landrabbinats an, das bereits seit Jahren kommissarisch verwaltet wurde, weil die jüdischen Gemeinden dort eine eigene Landrabbinatsstelle offenbar nicht mehr finanzieren konnten (vgl. hierzu "... das die Juden in unsern Landen einen Rabbinen erwehlen...", S. 59) - oder man erwartete im Zuge der Reichseinigung eine Revision und damit Vereinheitlichung der Gesetzgebung in Preußen etwa auf der Grundlage des Gesetzes von 1847, die zu einer Aufhebung der Landrabbinate geführt hätte. Abwegig wäre die Hoffnung auf eine Gesetzesrevision keineswegs gewesen, denn in dem abschlägigen Erlaß wird diese Möglichkeit - wenn auch vage - angesprochen (Erlaß der Minister des Innern und der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom 19.3.1873 (NHStA Hannover Hann. 180, Nr. 3946)). Tatsächlich gab es in den frühen 1870er Jahren im Preußischen Landtag eine Diskussion über die Abschaffung der Landrabbinate (vgl. A. Marx:

Geschichte der Juden in Niedersachsen, S. 156).

27 Der bisherige Landrabbiner Landsberg erhielt 1000 Taler (Schreiben der Landdrostei Hildesheim an den Oberpräsidenten vom 29.4.1871 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)), Landrabbiner Meyer für die Interimsverwaltung 500 Taler (Schreiben der Landdrostei Hildesheim an den Oberpräsidenten vom 10.8.1870 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220))

28 Vgl. hierzu Preussische Statistik. Hg. in zwanglosen Heften vom Königl. Statist. Bureau in Berlin. Bd. 30. Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung im Preussischen Staate.

Berlin 1875, S. 99.

sieht man von Stade ab29 – die wenigsten jüdischen Bürger lebten.30 Das bedeutete für die einzelnen Gemeinden wohl ohnehin höhere Beiträge für die Landrabbinatskasse.31 Man wird daher annehmen können, daß es vor allem finanzielle Motive waren, die der Göttinger Eingabe zugrunde lagen. Diese wurde schließlich jedoch abgelehnt.

In den 1890er Jahren unternahm die Göttinger Gemeinde zwei weitere Versuche, die bisherige Form des Hildesheimer Landrabbinates zu ändern, – den ersten 1892. In einer Situation, als zum einen wieder die Neubesetzung der Rabbinerstelle anstand, das Fortgehen Jakob Gutmanns nach Breslau absehbar war und man darüber debattierte, die über Jahre nicht erhöhten Bezüge des Landrabbiners anzuheben.32 Die Eingabe der Göttinger Gemeinde geschah also in einer Zeit ohnehin anstehender Veränderungen. Der Zeitpunkt war also durchaus günstig gewählt.

Man machte den Vorschlag, den Sitz des Landrabbinates nach Göttingen zu verlegen, und gab zugleich die Zusage, in diesem Falle die Hälfte des Landrabbinatsgehalts zu zahlen – im Gegensatz zu Hildesheim, das bisher nur ein Drittel trüge.33 Der Antrag fand unter den Gemeinden des Landrabbinatsbezirks breite Unterstützung: 14 von 32 sprachen sich für diese Regelung aus. Darüber hinaus übten weitere Kritik an der bisherigen Verteilung der Zahlungen für die Landrabbinatskasse und forderten, Hildesheim müsse künftig die Hälfte des Rabbinergehaltes tragen.34 Daß die Göttinger Gemeinde mit ihrem Protest so große Zustimmung fand, ist ein deutliches Indiz für die starke Unzufriedenheit über die Verteilung der Lasten unter den Bezirksgemeinden.

29 Vgl. hierzu Preussische Statistik. Hg. in zwanglosen Heften v. Königlichen statistischen Bureau in Berlin. Bd. 30: Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung im Preuss. Staate vom 1. December 1871. Berlin 1875, S. 99f.

30 Vgl. hier zu folgende Zahlen für 1913: Landrabbinat Hannover 7991 Juden; Landrabbinat Hildesheim 2531 Juden; Landrabbinat Emden: 4308 Juden; Landrabbinat Stade: 786 Juden (nach A. Marx: Geschichte der Juden in Niedersachsen, 144).

31 Diese konnten durchaus eine erhebliche Belastung darstellen, wenn zugleich auch für das eigene Schul- und Kultuswesen aufzukommen war. Nicht selten betrug die Kultussteuer besonders in den kleineren Gemeinden z.B. um die Jahrhundertwende ein Mehrfaches der geleisteten Einkommensteuer (vgl. Jakob Thon: Besteuerungs- und Finanzverhältnisse der jüdischen Gemeinden in Deutschland. In: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 3, 2 (1907), S. 17ff.).

32 Dies geschah, indem man das letzte Dienstgehalt Rabbiner Jakob Guttmanns als Ausgangsgehalt für den neuen Landrabbiner als Anfangsgehalt zugrunde legte (Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 21.11.1891 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

Vgl. zum Gehalt Rabbiner J. Guttmanns das Schreiben der Hildesheimer Landdrostei an das Oberpräsidium vom 9.4.1875 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

33 Schreiben der Göttinger Gemeinde an den Oberpräsidenten vom 13.5.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220.

34 Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 19.2.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Hier findet sich auch ein Hinweis auf einen Antrag der Gemeinde Goslars, die Landrabbinate Hildesheim und Hannover zu vereinigen.

Zugleich läßt es auf eine gewisse Distanz zwischen der Hildesheimer Gemeinde und ihnen schließen.

Aber hinter dem Göttinger Vorstoß stand mehr als nur eine als ungerecht empfundene Verteilung der finanziellen Lasten. Vielmehr ist er auch vor dem Hintergrund zweier ent-scheidender gemeindeinterner Veränderungen zu sehen: Göttingen war inzwischen zur größten Gemeinde des Bezirks geworden.35 Ein wesentliches Motiv der Eingabe dürfte daher gewesen sein, durch die Verlegung des Landrabbinatssitzes ihre neue, gewachsene Bedeutung zu unterstreichen; zweitens besaß man seit 1884 einen eigenen Lehrer und Prediger, der seit 1887 von der Regierung auch als Ortsrabbiner anerkannt worden war.36 Das brachte höhere Kosten mit sich, da man nun sowohl für das Gehalt des eige-nen wie für das des Landrabbiners aufkommen mußte.37 Diese Neuerung bedeutete zu-dem einen entscheidenden Unterschied gegenüber der Lage zuvor und deutete auf künf-tige Konflikte hin: Nun mußte sich zeigen, ob es gelang, eine eigenständige Rabbinatsstelle in die bestehende Ordnung zu integrieren.

Doch auch diesmal erfolgte keine Veränderung der bisherigen Situation: Einmal, weil der Hildesheimer Regierungspräsident als Vertreter der Behörde, die am engsten mit dem Landrabbiner bei der Aufsicht über das jüdische Schul- und Synagogenwesen zusammenarbeitete, sich mit dem Hinweis auf Vorteile für die Verwaltung zugunsten des Verbleibs des Landrabbinatssitzes in Hildesheim aussprach.38 Daneben erklärte sich die Hildesheimer Gemeinde wie die Göttingens dazu bereit, künftig die Hälfte des Landrabbinergehaltes zu übernehmen.39 Wahrscheinlich war dies der letztlich ausschlag-gebende Grund. Schließlich hatte der Oberpräsident eine Verlegung des Landrabbinatssitzes oder die Vereinigung mit dem Landrabbinat Hannover angedroht, sollte Hildesheim nicht zu einer größeren Übernahme der Kosten bereit sein.40 Er folgte der Kritik zahlreicher Gemeinden über die Verteilung der Beiträge, wenn er darauf hin-wies, daß die Gemeinde, in der der Landrabbiner zugleich auch Ortsrabbiner war, den

35 Schreiben der Göttinger Gemeinde an den Oberpräsidenten vom 13.5.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Gemäß den Zahlen der Volkszählung von 1895 stimmte diese Angabe (vgl. Gemeindelexikon für die Provinz Hannover. Auf Grund von Materialien der Volkszählung vom 2. Dezember 1895 und anderer amtlicher Quellen bearbeitet vom Königlichen statistischen Bureau. Berlin 1897 (=

Gemeindelexikon für das Königreich Preußen 9), S. 40, S. 61).

36 Vgl. hierzu insgesamt P. Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar, S.

18.

37 Wahrscheinlich hätte daher die angebotene Zahlung der Hälfte des Landrabbinergehaltes zumindest keine wesentlich höhere Belastung mehr dargestellt.

38 Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 21.11.1891 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

39 Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an das Oberpräsidenten vom 5.4.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

40 Tatsächlich erwartete der Oberpräsident die Übernahme der Hälfte der Kosten für das Landrabbinergehalt durch die Hildesheimer Gemeinde.

weitaus bedeutendsten Teil seines Gehaltes zu tragen hätte.41 Hildesheim stand also 1892 dicht davor, seine Stellung als Sitz des Landrabbinates zu verlieren.

Die tieferliegenden Probleme, die nicht zuletzt aus einer mittlerweile überkommenen Verfassung der jüdischen Religionsgemeinschaft erwuchsen, blieben mit dem Festschreiben des Status quo ungelöst. Das zeigte sich nur wenige Jahre später: Bereits im Jahre 1895 stellte die Göttinger Gemeinde einen erneuten Antrag. Erstmals schlug man vor, entweder den Synagogenbezirk Göttingen aus dem Landrabbinatsverband her-auszulösen oder ein eigenes Landrabbinat Göttingen/ Südhannover einzurichten mit den Gemeinden Einbeck, Dassel, Stadtoldendorf, Bremke, Münden, Dransfeld, Adelebsen, Bovenden, Nörten, Northeim und Moringen. Kritisiert wurde auch die bestehende Kompetenzverteilung der Landes- und Ortsrabbiner: Der Göttinger Rabbiner mit einer dem Landrabbiner vergleichbaren Ausbildung stehe ebenso unter dessen Aufsicht wie ein gewöhnlicher Kultusbeamter und er benötige nach dem Gesetz für bestimmte Kultushandlungen seine Zustimmung. Außerdem sei die eigene Selbständigkeit begrenzt, da der Landrabbiner auch über die internen Verwaltungs- und Schulangelegenheiten Kontrollbefugnisse besitze.42

Damit richtete sich die Kritik nun gegen den bestehenden Aufbau der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover selbst – und berührte einen durchaus problematischen Punkt: Tatsächlich konnte – wie gesehen – das Aufsichtsrecht des Landrabbiners über eine Gemeinde und die Amtsausübung ihres Ortsrabbiners durchaus weitreichend sein, andererseits aber hatte er, wenn eine Gemeinde wie im Falle Göttingens einen eigenen Rabbiner besaß,43 kaum mehr geistlich-religiöse Aufgaben wahrzunehmen. Diese weitgehende Funktionslosigkeit trug wohl mit dazu bei, in der Institution des Landrabbinates vor allem eine Einmischung und einen Angriff auf die Gemeindeautonomie zu sehen, so daß man bestrebt war, größere Eigenständigkeit zu er-langen.Daß dies und nicht mehr wie bei früheren finanzielle Gründe das Motiv für die

41 Schreiben des Oberpräsidenten an den Hildesheimer Regierungspräsidenten vom 5.3.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Erst nach einer entsprechenden Erklärung Hildesheims (Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 5.4.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)) wies der Oberpräsident die Eingabe der Göttinger Gemeinde im Mai 1892 endgültig ab (Verfügung des Oberpräsidenten gegenüber der Göttinger Synagogengemeinde vom 1.6.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220), nachdem sie gegen einen vorherigen Erlaß Beschwerde noch einmal eingelegt hatte (Erlaß des Oberpräsidenten vom 16.4.1892 und das Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 25.5.1892 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

42 Eingabe der Göttinger Synagogengemeinde vom 31.5.1895, gerichtet an den Hildesheimer Regierungspräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

43 P. Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar, S. 18.

Eingabe war, belegt die Bereitschaft der Göttinger Gemeinde, auch im Falle der Lösung vom Landrabbinatsverband weiter die Beiträge zur Landrabbinatskasse zu zahlen.44

Der alternative Vorschlag stellt den ersten Versuch dar, ein eigenständiges Landrabbinat in Göttingen mit den umliegenden Gemeinden zu schaffen. Seine geplante künftige räumliche Ausdehnung war dabei sicher nicht zufällig gewählt: Es wäre ein geo-graphisch weitgehend geschlossenes, eigenes Gebiet entstanden – durch das Gebiet des Herzogtums Braunschweig vom übrigen Landrabbinatsbezirk beinahe vollkommen ge-trennt45 – und es erinnerte zudem noch entfernt an alte historische Formationen.46

Der Plan zur Schaffung eines eigenen Göttinger Landrabbinates spiegelt das Verhältnis der Rabbinatsgemeinden zueinander wider: Wenn er überhaupt Erfolg haben sollte, ist er eigentlich nur denkbar vor dem Hintergrund eines nur noch gering ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühls. Ein Grund hierfür mag neben den bisher geführten Auseinandersetzungen gewesen sein, daß das Hildesheimer Rabbinat nie eine historische Einheit gewesen war. Erst 1845 wurden die südhannoverschen Gebiete mit den nördlichen Teilen des Hildesheimer Landrabbinates vereinigt. Möglicherweise spielte also die fehlende historische Bindung mit eine Rolle bei der Opposition gegen die bestehende Form des Landrabbinates. Hinzu kam, daß Hildesheim – angesichts damaliger Verkehrsverbindungen – relativ weit entfernt am äußersten nordwestlichen Rand des Landrabbinatsbezirks lag. Damit war die Entwicklung vorgezeichnet, daß der Landrabbiner sich nicht immer im gewünschten Maße um die südlichen Gemeinden kümmern konnte.47

44 Eingabe der Göttinger Synagogengemeinde vom 31.5.1895, gerichtet an den Hildesheimer Regierungspräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Man machte diese Zusage wohl deswegen, weil man sich bewußt war, daß der Antrag nur dann Erfolg haben konnte, wenn die Finanzierung des Landrabbinergehalts auch nach dem Ausscheiden Göttingens aus dem Rabbinatsverband gesichert war.

45 Bis zum Jahre 1890 waren beide Teile des Regierungsbezirks durch das braunschweigische Gebiet völlig getrennt. Erst mit dem Staatsvertrag vom 18.9.1889 zwischen dem Herzogtum Braunschweig und dem Königreich Preußen änderte sich die Situation. Dieser Vertrag regelte den Übergang des Staatsforstes Goslar an Preußen, so daß zum ersten Mal eine, wenngleich sehr schmale räumliche Verbindung zwischen beiden Teilen bestand (vgl. Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945. Reihe A: Preußen. Hg. von Walther Hubatsch. Bd. 10:

Hannover. Bearb. v. Iselin Gundermann u. Walther Hubatsch. Marburg 1981, S. 523).

46 Dieses Gebiet wäre weitgehend identisch mit dem des bereits vor 1815 zu Hannover gehörenden 'Fürstentums Göttingen' gewesen - es war also eine gewachsene historische Einheit. Das genau war aber das Landrabbinat Hildesheim nicht. Dieses bestand in seinem nördlichen Teil wesentlich aus dem Gebiet des bis zur Säkularisation unabhängigen Bistums Hildesheim. Zwar fiel das Gebiet um Göttingen 1815 durch Schaffung des Landdrosteibezirks Hildesheim mit diesem zusammen, die jüdischen Gemeinden jedoch kamen erst 1845 zum Landrabbinat Hildesheim, um eine breitere Grundlage für die Finanzierung des Landrabbinergehaltes zu schaffen (Schreiben des Hildesheimer Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 5.6.1925 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

47 Auf diesen Umstand, welcher in der für Hildesheim ungünstigen geographischen Lage begründet war, spielte wohl die Bemerkung in dem Antrag an, daß von Göttingen aus eine bessere Betreuung der Landgemeinden möglich sei (Eingabe der Göttinger Synagogengemeinde vom

Jedoch wurde auch dieser Antrag – wie schon die vorherigen – abgelehnt; nun mit der Begründung, er verstoße gegen die Gesetze von 1842 und 1844.48

Erst in den 1920er Jahren bemühte sich die Göttinger Gemeinde erneut, die bestehen-den Rechtsverhältnisse zu ändern.49 Nachdem sie bereits 1922 die Aufhebung der Landrabbinatsverfassung für den Bezirk beantragt hatte,50 wurde das Problem 1925 er-neut akut. Sie stellte wie schon 1895 den Antrag auf Bildung eines eigenen Landrabbinatsbezirks Göttingen.51 Aber auch diese Vorstöße blieben erfolglos.52

Entscheidender noch als diese neuen Versuche einer Neugestaltung ist jedoch eine ganz andere Entwicklung. Die Ausführungen des Landrabbiners A. Lewinsky in seinem Bericht an den Oberpräsidenten im Zuge dieser Auseinandersetzung machen nämlich deutlich, daß es inzwischen zu einer weitgehenden faktischen Lösung Göttingens vom Landrabbinat, aber wohl auch anderer südlicher Bezirksgemeinden gekommen war:

"Wie vor gerade 30 Jahren unter der Aera Rosenberg (Vorsteher) - Jacob (Rabbiner), strebte der gegenwärtige Vorsteher Hermann Jacob im Verein

31.5.1895 gerichtet an den Hildesheimer Regierungspräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)). Das gleiche Argument wurde auch 1892 von der Göttinger Gemeinde in einem ihrer Schreiben angeführt (vgl. Eingabe der Göttinger Synagogengemeinde vom 13.5.1892, gerichtet an den Oberpräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

48 Erlaß des Oberpräsidenten vom 29.8.1895 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

49 Bericht des Landrabbiners A. Lewinsky vom 28.5.1925 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr.

4220).

Ein Schritt, der wahrscheinlich motiviert war durch die veränderte Situation, die nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung bestand. Der Artikel 137 der Weimarer Verfassung postulierte unter anderem die staatliche Nichteinmischung bei der Verwaltung der Religionsgemeinschaften. Da zahlreiche 'Judengesetze' des 19. Jahrhunderts - darunter auch die hannoverschen - mit diesen durch die Verfassung aufgestellten Prinzipien nicht zu vereinbaren waren, wurde schon aus diesem Grund eine Neuregelung der Verhältnisse notwendig (vgl. I.

Freund: Die Rechtstellung der Synagogengemeinden in Preußen, S. 1-36; M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 27ff.). Möglicherweise hoffte die Gemeinde auch, die alten Bestimmungen seien bereits durch Inkrafttreten der Weimarer Verfassung nicht mehr gültig, denn der bisherige Status des Landrabbiners zum Beispiel, der ja auch staatliches Aufsichtsorgan war, war mit diesem Artikel nicht mehr zu vereinbaren.

50 Bericht des Landrabbiners Abraham Lewinsky vom 28.5.1925 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

51 Schreiben des Regierungspräsidenten von Hildesheim vom 13.5.1925 an den Oberpräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Dieser Antrag wurde auch von der Synagogengemeinde Duderstadt unterstützt (vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten Hildesheim vom 14.9.1925 an den Oberpräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220)).

52 Schreiben des Oberpräsidenten vom 28.11.1925 an Rechtsanwalt Katz aus Hannover, der die Göttinger Gemeinde bei ihrem Anliegen vertrat (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

Begründet wurde die Entscheidung vor allem damit, daß eine Teilung des Landrabbinatsbezirks einen Rückschritt hinter die Verhältnisse von 1845 darstellen würde - dem Jahr der Erweiterung

Begründet wurde die Entscheidung vor allem damit, daß eine Teilung des Landrabbinatsbezirks einen Rückschritt hinter die Verhältnisse von 1845 darstellen würde - dem Jahr der Erweiterung