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Der Einfluß der Weimarer Verfassung

1. Die Rechtsverfassung der Gemeinde

1.3 Der Einfluß der Weimarer Verfassung

Die 1919 in Kraft getretene Weimarer Verfassung bedeutete auch für die Rechtsverhältnisse der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover eine neue Situation. Nach Artikel 137 gab es zum Beispiel keine Staatskirche mehr, jede Religionsgemeinschaft hatte ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten und ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinden zu vergeben.30 Daneben enthielt die Verfassung Regelungen, die die Gesetzgebung über die Rechtsverhältnisse der Juden zwar nicht direkt betrafen, sie aber doch beeinflußten. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts etwa setzten sich nach 1918/19 innerhalb des Judentums wenigstens liberale Kreise verstärkt dafür ein, auch Frauen das Wahlrecht in den Gemeinden zuzu-gestehen.31

Die Tragweite des Artikels 137 war jedoch durchaus strittig. Die preußische Staatsregierung vertrat den Standpunkt, dieser stelle noch kein geltendes Recht dar, son-dern Absatz 8 gelte für sämtliche Bestimmungen des Artikels, wonach "dieser [...] in seiner Ganzheit zur Durchführung der Landesgesetzgebung bedarf, daß er somit lediglich eine Anweisung an die Landesgesetzgebung darstellt und daß demzufolge alle bestehenden Gesetze solange in Geltung bleiben, bis sie durch ausdrückliches Landesgesetz außer Kraft gesetzt sind".32

Das Reichsgericht und Reichsschiedsgericht haben demgegenüber in ihren Urteilen eine andere Position vertreten. Das Reichsgericht etwa war der Auffassung, Artikel 137 enthalte Rechtssätze, "welche unmittelbar und sofort anzuwenden" seien.33 Dazu gehör-ten insbesondere jene Bestimmungen, die einen Eingriff des Staates in die Verwaltung der Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften untersagten, wobei die aus der Kirchenhoheit folgende staatliche Aufsichtspflicht damit keineswegs aufgehoben war.

Die Einschränkung des Absatz 8 gelte demnach für diese Rechtssätze nicht.34

30 Vgl. den Wortlaut des Artikels in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Hg. von Ernst Rudolf Huber. Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919-1933. 3., neubearb. A.

Stuttgart u.a. 1992, S. 171 (Dok.-Nr. 157).

31 Vgl. etwa zur veränderten Situation nach der Einführung des Frauenwahlrechts durch die Weimarer Verfassung im Bestreben des Jüdischen Frauenbundes, dieses Prinzip auch bei den Gemeindewahlen einzuführen Marion A. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland.

Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938. Hamburg 1981 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 7), S. 254.

32 Zitiert nach I. Freund: Die Rechtstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung, S. 20.

33 Nach ebenda, S. 21, vgl. insgesamt hierzu ebenda, S. 21ff.

34 Vgl. ebenda, S 21f.

Diese abweichenden Einschätzungen der rechtlichen Lage spiegeln sich auch in den gegensätzlichen Haltungen der Hildesheimer Gemeinde und der kommunalen und staatli-chen Behörden wider. Anhand zweier Fälle läßt sich das dokumentieren.

Die Gemeinde beschloß im Jahre 1923 die Erweiterung des Wahlrechts bei den Gemeindeversammlungen auf einen größeren Personenkreis.35 Soweit zu sehen,scheint die Gemeinde zwar ihren Beschluß dem Regierungspräsidenten zur Genehmigung vorge-legt zu haben, betrachtete ihn wohl dennoch bereits zuvor als rechtskräftig, denn sie er-wähnte zugleich, eine Genehmigung sei aufgrund Artikel 137 der Verfassung nicht erfor-derlich.36

Der Regierungspräsident sah sich zum einen nicht in der Lage, selbst die Genehmigung zu erteilen, da seiner Auffassung nach diese nur vom preußischen Minister des Innern und dem preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung er-folgen könne.37 Zum anderen teilte er nicht die Auffassung der Gemeinde, daß aufgrund des Artikels 137 eine Genehmigung nicht mehr erforderlich sei. Sich damit auf dessen zweiten Absatz38 berufend, vertrat er die Meinung, die Selbstverwaltung habe innerhalb der "Schranken" des für alle geltenden Gesetzes zu erfolgen und dazu gehöre die in die-sem Fall relevante Ministerial-Bekanntmachung von 1844.39

Die Genehmigung erfolgte schließlich durch das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Argumentation des Ministeriums, weshalb eine staatliche Genehmigung des Gemeindebeschlusses weiter nötig sei. Man teilte die zuletzt oben angeführte Auffassung des Regierungspräsidenten, der sich auch der Oberpräsident angeschlossen hatte,40 nicht: Denn Absatz drei betreffe nur Gesetze, die tatsächlich für alle gelten, und dies sei eben bei der Bekanntmachung gerade nicht der Fall. Dagegen vertrat man unter anderem den Standpunkt, der für die preußische Regierung kennzeichnend war, daß nämlich gemäß Absatz 8 des Artikels die zur Durchführung der Bestimmungen nötigen Regelungen der Landesgesetzgebung ob-liege. Daher sei die hier anzuwendende Bekanntmachung von 1844 bis zur Neuregelung

35 Schreiben des Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 17.3.1923 (NHStA Hannover Hann 122a, Nr. 4199).

Das Schreiben der Gemeinde selbst ist nicht erhalten, so daß dessen Wortlaut nur durch den Bericht des Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten zu rekonstruieren ist.

36 Schreiben des Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 17.3.1923 (NHStA Hannover Hann 122a, Nr. 4199).

37 Ebenda.

38 Vgl. Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 4, S. 171 (Dok.-Nr. 157).

39 Schreiben des Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 17.3.1923 (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4199).

40 NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4199.

weiter in Kraft, und damit müsse auch eine obrigkeitliche Genehmigung für diesen Beschluß der Gemeinde vorliegen.41

Zum zweiten Fall: Die Gemeinde hatte 1922 neue Vorsteher gewählt. Der neue Vorstand teilte dies dem Magistrat mit, ohne in seinem Schreiben die übliche Bitte um Bestätigung der Wahl beizufügen.42 In einem anderen Schreiben an den Magistrat hob der Vorstand der Synagogengemeinde hervor, eine Genehmigung der Wahl sei aufgrund des Artikels 137 nicht mehr nötig, da nach diesem die Religionsgesellschaften ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der städtischen Gemeinde verleihen könnten.43 In der Praxis zeigte sich jedoch, daß die Vorsteher, etwa um Finanzgeschäfte zu tätigen, zumin-dest weiter eine Bescheinigung des Magistrats darüber benötigten, daß sie das Vorsteheramt tatsächlich ausübten.44

Nicht eindeutig zu sagen ist, ob der Magistrat in der Folgezeit die Vorsteher nach den Wahlen noch bestätigte. Jedoch gibt es ein Indiz dafür, daß dies von nun an nicht mehr geschah. Die jüngsten Dokumente, die die betreffende Akte enthält, stammen aus dem Jahr 1922.45 Sie muß danach aus dem Geschäftsgang genommen und an das Stadtarchiv abgegeben worden sein,46 denn alle sich noch im Rathaus befindlichen Akten wurden 1945 durch einen Bombenangriff vollständig vernichtet. Das Schließen der Akte ist damit zumindest ein Hinweis darauf, daß nach 1922 keine Bestätigungen vom Magistrat mehr vorgenommen wurden. In anderen Gemeinden des niedersächsischen Raumes war es dagegen durchaus üblich, daß die seit Jahrzehnten praktizierte Bestätigung der gewählten Vorstände durch den Magistrat auch in der Weimarer Zeit weiter erfolgte.47

Die beiden dargestellten Fälle zeigen, in welcher Weise die neu gewählte Gemeindeführung bestrebt war, sich aus der Abhängigkeit von den Obrigkeiten zu lösen, die man nicht mehr zu akzeptieren bereit war. Es scheint, als sei hier ein entscheidender Haltungswandel eben durch die 1922 neu gewählten Vorsteher geschehen,48 die ihre seit über einem Jahrzehnt amtierenden Vorgänger abgelöst hatten. Wie die überlieferten

41 Vgl. Schreiben des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an den Oberpräsidenten vom 14.8.1923 (in Abschrift) (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4199).

42 Schreiben des Vorstandes der Hildesheimer Synagogengemeinde an den Magistrat vom 10.4.1922 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116).

43 Vgl. Schreiben des Vorstandes der Hildesheimer Synagogengemeinde an den Magistrat vom 12.6.1922 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116).

44 Schreiben des Vorstandes der Hildesheimer Synagogengemeinde an den Magistrat vom 9.6.1922 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116).

45 StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116.

46 Die Möglichkeit, daß die Akte ins Archiv gelangte, weil der betreffende Ordner gefüllt war, ist im vorliegenden Fall nahezu ausgeschlossen.

47 Vgl. R. Sabelleck: Jüdisches Leben in einer nordwestdeutschen Stadt, S. 329f.

48 Vgl. zu der Wahl das Schreiben des Vorstandes der Hildesheimer Synagogengemeinde an den Magistrat vom 10.4.1922 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116).

Unterlagen der Wahlen zuvor zeigen, die für die Zeit nach 1918 nur aus den Jahren 1919 und 1920 erhalten sind,49 erfolgten sie noch gemäß dem alten Modus.

Vermutlich war dieser Haltungswandel nicht allein durch die neu von der Verfassung aufgestellten Prinzipien beeinflußt. Vielmehr deutet das rasche Handeln der neuen Gemeindeführung auf eine bereits seit längerem bestehende Unzufriedenheit über den bisherigen Zustand hin.