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Der jüdische Frauenverein

9. Das jüdische Vereinswesen in Hildesheim

9.3 Der jüdische Frauenverein

Zumindest seit 1853 bestand ein jüdischer Frauenverein in Hildesheim.42 An seiner Spitze standen drei Vorsteherinnen mit verschiedenen Aufgabenbereichen, von denen die wichtigsten kurz skizziert seien: Die erste Vorsitzende hatte unter anderem "den Vorsitz in den Sitzungen der Direction und der Generalversammlung"43 inne, daneben traf sie die "Anordnungen über die persönlichen Leistungen der Mitglieder bei Schwerkranken und Todten und über die Anfertigung der Sterbegewänder".44 War bei einem Schwerkranken die Anwesenheit eines Vereinsmitgliedes gewünscht, so war ihr dies zu melden. Sie hatte dann ein Vereinsmitglied zu entsenden. Bei diesen Tätigkeiten mußte sie auch persönlich anwesend sein.45 Die zweite und dritte Vorsteherin konnten die jeweils nächste, wenn sie verhindert war, in vollem Umfang vertreten. Üblicherweise gehörte es zu den Aufgaben der zweiten Vorsteherin, Besuche von kranken Vereinsmitgliedern zu organisieren. Sie hatte sich ferner bei den Kranken und Wöchnerinnen nach etwaigen Bedürfnissen zu erkundigen und bei der 'Direction' die

40 Vorwort von A. Lewinsky in Louis Böhm: Lieder eines fahrenden Choßid. Humoristische Dichtungen für jüdische Geselligkeit. Hildesheim von 1910.

41 Ebenda.

42 Jedoch ist nicht ausgeschlossen, daß schon vorher eine ähnliche Einrichtung bestand. In den 1881 festgelegten Statuten heißt es nämlich, diese habe "[d]er seit dem Jahre 1853 reorganisirte [Hervorh. d. Verf.] Frauenverein der Synagogen-Gemeinde Hildesheim" (Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim. Genehmigt am 20.2.1881. Hildesheim o.J., S. 3) "zur Regelung seiner Zwecke und Leistungen" (ebenda) aufgestellt. 'Reorganisirt' könnte hier entsprechend dem französischen 'réorganiser' "neu gestaltet" meinen.

43 Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 5 (§ 12).

44 Ebenda.

45 Ebenda.

Mittel zur Abhilfe zu beantragen. Der dritten Vorsteherin unterstand die Verwaltung der Kasse und die Rechnungsführung.46

Die eigentliche Verwaltung des Vereins oblag, wie bereits angedeutet, der 'Direction'.

Diese setzte sich aus den drei Vorsteherinnen sowie vier Beigeordneten zusammen.

Verantwortlich war sie für die Bewilligung der Geldmittel.47 Die Ämter der Vorsteherinnen konnte – da waren die Statuten eindeutig – nur von Frauen bekleidet werden.48 Dies war für die Beigeordneten, die ja innerhalb der 'Direction' die Stimmenmajorität besaßen, keineswegs so genau definiert.49 Schon daher ist nicht völlig auszuschließen, daß wenigstens zeitweise auch Männer diese Ämter ausübten, zumal 'Frauenvereine',50 die Frauen tatsächlich selbst leiteten, bis weit ins 19. Jahrhundert längst nicht selbstverständlich waren.51 Auch in anderen Gemeinden im niedersächsi-schen Raum saßen Männer im Vorstand des örtlichen Frauenvereins – wie etwa in Nienburg.52

Tatsächlich gibt es für Hildesheim ein Indiz dafür, daß der ausschließlich von Männern besetzte Gemeindevorstand Einfluß auf den Frauenverein ausübte. Die 'Handbücher der jüdischen Gemeindeverwaltung' enthalten nämlich mehrfach Angaben, wonach der Frauenverein der Verwaltung der Gemeindeleitung unterstand.53 Allerdings ist in den Statuten kein Hinweis vorhanden, in welcher Form dies geschehen sein könnte.54

46 Vgl. zu den hier genannten Aufgabenbereichen der zweiten und dritten Vorsteherin ebenda, S.

5f. (§ 13 u. 14).

47 Ebenda, S. 5 (§ 9); S. 6 (§ 18).

Nur in Ausnahmefällen konnte die dritte Vorsitzende, die Rechnungsführerin also, kleine Beträge an Bedürftige ausgeben.

48 Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 5 (§ 9).

49 Es war zum Beispiel nicht festgelegt, daß sie von der Generalversammlung nur aus dem Kreis der Vereinsmitglieder, die ausschließlich Frauen sein konnten, gewählt werden mußten (Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 3 (§ 3). Bestimmt war lediglich, daß sämtliche Mitglieder des Direktoriums von der Generalversammlung für drei Jahre gewählt wurden (ebenda, S. 5 (§ 10)).

50 Gemeint sind hier im weitesten Sinn die Organisationen, welche um die Verbesserung der Situation von Frauen bemüht waren.

51 Man denke nur an den 'Verein deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine', den sogenannten Adolf-Lette-Verein, der die Förderung der Berufstätigkeit unter Frauen zum Ziele hatte: In dem Vorstand dieses für die Entwicklung der Frauenbewegung in Deutschland wichtigen Verbandes saßen ausschließlich Männer (vgl. M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S.

155).

52 R. Sabelleck: Jüdisches Leben in einer nordwestdeutschen Stadt, S. 286.

53 Vgl. etwa Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1911, S. 74.

54 Nur in einem einzigen Punkt wird einem Vertreter der Gemeindeleitung eine Funktion zuerkannt - danach waren Wertpapiere im Besitze des Frauenvereins dem Rechnungsführer der Gemeinde zur Aufbewahrung zu übergeben (Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 6 (§15)).

Die Leitung des Vereins war aber möglicherweise nicht allein und nicht immer Frauen überlassen – diese Möglichkeit besteht durchaus. Jedoch war der Einfluß, etwa des Gemeindevorstandes, wohl nicht allzu weitgehend. Die Beigeordneten wurden nämlich von der Generalversammlung – also von Frauen – gewählt55 und nicht etwa von der Gemeindeleitung bestimmt.

Ein Einwirken auf die Belange des Frauenvereins hat es zumindest ab der Jahrhundertwende nicht mehr gegeben: Denn soweit Quellen darüber vorliegen, die fast ausschließlich aus dem 20. Jahrhundert stammen, findet sich kein Beleg dafür, daß jemals Männer Mitglieder des Directoriums waren.56

Man wird also den Hildesheimer Frauenverein – und das wird entscheidend für die Einordnung seiner Aktivitäten sein – als eine von Frauen geleitete und bestimmte Institution anzusehen haben – und als eine, die das Gemeindeleben erheblich beeinflußte.

Indiz dafür ist die enorme Zahl der Mitglieder. Sie betrug in den 1920er Jahren rund 15057 – für die Zeit davor gibt es keine Angaben. Da die Gemeinde zur gleichen Zeit rund 650 Mitglieder umfaßte,58 war demzufolge etwa die Hälfte der jüdischen Frauen Mitglied dieses Vereins. Das Verhältnis der Mitgliederzahl zur Gemeindegröße war verglichen mit anderen Gemeinden des Landrabbinatsbezirks wie Göttingen59 noch nicht einmal ungewöhnlich hoch. Aber ohnehin lag die Beteiligung jüdischer Frauen in Verbänden der Frauenbewegung deutlich über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.60

55 Ebenda, S. 5 (§ 10).

56 In den verschiedenen Bänden des jüdischen Gemeindelexikons finden sich hierauf keine Hinweise.

57 Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1924/25, S. 55.

58 Ebenda.

59 Ebenda, S. 54.

60 Die Mitgliederzahl des JFB insgesamt war bemerkenswert hoch. Im Jahre 1912 war er eine der größten Tochterorganisation innerhalb des BDF mit etwa 30.000 Mitgliedern (vgl. Jahrbuch der Frauenbewegung 1912. Berlin 1912, S. 6ff. Zitiert nach: Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933. Göttingen 1981 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 46), S. 286); er war deutlich größer als der Deutsch-Evangelische Frauenbund, der rund 12360 Mitglieder umfaßte (ebenda, S. 285). Die andere religiös geprägte Frauenorganisation, der KDF, die nicht Mitglied im BDF war (Ursula Baumann: Religion und Emanzipation: Konfessionelle Frauenbewegung in Deutschland 1900-1933. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 21 (1992), S. 182), besaß 1912 40.000 Mitglieder (ebenda, S.

175).

Während nun in der Folgezeit der KDF in den 1920er Jahren auf über 200.000 Mitglieder anwuchs, kam der DEF über 33.000 Mitglieder im Jahre 1929 nicht hinaus (vgl. ebenda, S.175f.). Der JFB besaß Ende der 1920er Jahre 50.000 Mitglieder (M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 23). Sieht man vom KDF ab, für dessen starkes Anwachsen strukturell günstigere Faktoren die Ursache waren (vgl. näheres hierzu bei U. Baumann: Religion und Emanzipation: Konfessionelle Frauenbewegung in Deutschland, S. 176ff.), so der Organisationsgrad unter den jüdischen Frauen ganz außerordentlich hoch - schließlich machte der Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung nicht mehr als ein Prozent aus.

Die hohe Zahl der Mitglieder in Hildesheim ist allerdings aus dem Grund überra-schend, weil – wie noch zu sehen – aktive Mitarbeit vorausgesetzt wurde. Somit war ein erhebliches persönliches Engagement nötig. Dies bedeutet allerdings auch: Vermutlich identifizierten sich die Mitgliederinnen in starkem Maße mit den Zielen des Vereins. Das ist eine wesentliche Grundlage für den Versuch, aus den Aktivitäten des Vereins auf die Mentalität und deren Wandel unter den Frauen der Gemeinde zu schließen.

Nun zu den Tätigkeiten des Frauenvereins: Sie erstreckten sich laut den Statuten des Jahres 1881 zunächst auf den Besuch von Kranken und Sterbenden, das Nähen der Sterbegewänder, das Waschen und Ankleiden weiblicher jüdischer Leichen sowie auf Unterstützung bedürftiger Mitglieder der Gemeinde.61 Dabei reichte die passive Unterstützung dieser Arbeit lediglich durch Beiträge nicht aus. Man war zur persönlichen Tätigkeit verpflichtet.62 All diese Bereiche, die Krankenpflege, die Gabe von Almosen an Bedürftige, die Vorbereitung der Bestattung, standen in der jahrhundertelangen Tradition der Arbeit von Frauen im Bereich der Wohlfahrtspflege.63 Vor dem Hintergrund ihrer Stellung in der Gemeinde war die Tätigkeit in diesem Bereich insofern etwas Besonderes, als sie sonst "von der Teilnahme am öffentlichen Gemeindeleben ganz ausgeschlossen"64 waren, sich hier aber engagieren konnten.

Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die Gründung von Frauenvereinen zu.In dieser Bewegung darf man unter anderem wohl auch eine Reaktion auf die Folgen der Emanzipation sehen: Sie beendete den Druck von außen auf die geschlossene jüdische Gemeinschaft und bot wenigstens die Möglichkeit zur ihrer Integration in die übrige Gesellschaft. Nur lösten sich damit traditionelle Einrichtungen auf 65 – ein Vorgang, den das Anwachsen der Zahl der Gemeindemitglieder wohl zudem verstärkte. Angesichts dieser Lage war man nun bestrebt, die verschiedenen Formen traditioneller Wohltätigkeit zu bewahren und ihnen eine neue Form zu geben.66 Vielleicht ist daher die im Falle Hildesheims zu beobachtende schrittweise Verfestigung der Vereinsstrukturen Ausdruck des Bemühens gewesen, früher selbstverständliche Tätigkeiten zu institutionalisieren.

61 Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 3 (§ 1).

62 Vgl. hierzu: "Jedes Mitglied, das von Seiten des Vorstandes dazu aufgefordert wird, ist verpflichtet, ein erkranktes Vereins-Mitglied oder ein schwer erkranktes weibliches Mitglied der hiesigen Gemeinde zu besuchen, bei eintretender Auflösung die üblichen Gebete in andachtsvoller Stille zu verrichten und nach erfolgtem Tode sich an dem Anfertigen der Sterbegewänder, an den Ableben, dem Waschen und Ankleiden der Leiche zu betheiligen und bei diesen Verrichtungen den Anordnungen der jedesmal anwesenden Vorsteherin Folge zu leisten."

(Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim, S. 4 (§ 6)).

63 Vgl. zu der jahrhundertealten Tradition der Wohltätigkeitsarbeit von Frauen etwa: M. Kaplan:

Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 66ff.

64 Ebenda, S. 66.

65 Vgl. hierzu ebenda, S. 66ff.

66 Ähnlich bei M. Kaplan (ebenda, S. 67f.).

Schließlich erfolgte die Festlegung der Statuten rund erst 30 Jahre nach der 'Reorganisation' des Vereins.67

Quellen zu den Arbeitsbereichen des Frauenvereins in der Folgezeit liegen erst wieder für die 1920er Jahre vor – aber auch sie sind nur spärlich. Zumeist handelt es sich hier um Berichte über den Hildesheimer Verein sowie den Niedersächsischen Landesverband im Publikationsorgan des Jüdischen Frauenbundes, dem Mitteilungsblatt. Da kaum Nachrichten zum Hildesheimer Frauenverein selbst überliefert sind, mehr jedoch über die Arbeit des Landesverbandes, müssen auch diese Berichte herangezogen werden, um durch sie wenigstens ein ungefähres Bild seiner Tätigkeit zu gewinnen. Dieses Vorgehen ist insofern zu vertreten, als der Hildesheimer Frauenverein Mitglied des Landesverbandes war68 und sich Hildesheimer Jüdinnen in diesem engagierten.69 Er muß also von der Arbeit des Verbandes beeinflußt gewesen sein.

Wahrscheinlich hat sich zwischen der Abfassung der Statuten und den 1920er Jahren ein erheblicher Wandel des Vereinscharakters vollzogen.

Ein erster Beleg hierfür ist die Mitgliedschaft des Frauenvereins im 'Jüdischen Frauenbund' (JFB).70 Dieser war 1904 auf Initiative von Berta Pappenheim und Sidonie Werner71 von 'progressiveren' Mitgliedern traditioneller und religiös-karitativer Frauenvereine gegründet worden, "die von den Zielen der deutschen Frauenbewegung überzeugt und mit dem karitativen Charakter der jüdischen Frauenbewegung unzufrieden waren".72 Marion Kaplan kennzeichnet den Standpunkt des JFB so:

"Der Frauenbund ging also über die wichtigsten Vorstellungen der deutschen Frauenbewegung nicht hinaus, nur daß er deren Relevanz für die jüdische Gemeinde überdachte. In der Frage nach der Stellung der Frau übernahm er den gemäßigten Standpunkt des Bundes deutscher Frauenvereine. Nur in der jüdischen Gemeinde galten seine Vorstellungen häufig als radikal."73

Die feministischen Ziele des JFB waren daher eher auf Bereiche wie den Kampf gegen den Mädchenhandel und das Erlangen des Wahlrechts für Frauen in den Gemeinden

67 Statuten des jüdischen Frauenvereins in der Synagogen-Gemeinde Hildesheim.

68 Vgl. u.a. Israelitisches Familienblatt v. 12.7.1928 (Nr. 28).

69 Vgl. z.B. Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. Juni/ Juli 1926, Nr. 9/ 10, S. 11.

70 Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1924/25, S. 232.

71 Vgl. Nadia Stein: Artikel 'Jüdischer Frauenbund'. In: Artikel 'Jüdischer Frauenbund'. In:

Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 9. Berlin 1932, Sp.

576.

72 M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 23.

73 Ebenda, S. 27.

schränkt.74Weitergehende Fragen wie das Elend der Arbeiterfrauen und der geschlechts-spezifischen Vorurteile in der Gesellschaft – so M. Kaplan – wurden ganz oder teilweise vernachlässigt.75 Trotz des Engagements auch für 'feministische' Ziele blieb doch für viele Mitglieder des JFB die Anerkennung "patriarchalischer Werte"76 kennzeichnend:

"Das typische JFB-Mitglied wollte Hausfrau und Mutter sein, die im privaten Bereich ihren Status akzeptierte und die traditionelle Sozialarbeit in der Gemeinde leistete; die einen Beruf und Bildungschancen für Frauen forderte, aber für spezifisch 'weibliche' Berufe; sie bestand auf Gleichberechtigung der Frau in Politik und Gesellschaft, aber sie tat es in ihrer eigenen Art, als 'Dame'."77

Der JFB betonte insbesondere die Sozialarbeit. Der 'Bund deutscher Frauen' (BDF), dem dieser angeschlossen war, legte hingegen seinen Schwerpunkt eher auf die Verbesserung der Ausbildung und der Berufschancen von Frauen sowie auf das Erlangen ihrer politischer Gleichberechtigung. Der BDF vermied zudem religiöse Bestrebungen.

Frauen dagegen, die dem JFB beitraten, identifizierten sich ausdrücklich mit ihrem Judentum und suchten die Gesellschaft von Juden.78 Mehrheitlich – so M. Kaplan – wa-ren sie religiös liberal eingestellt.79 Diese Tätigkeitsfelder des JFB waren vor allem mit denen anderer konfessioneller Frauenorganisationen wie dem Deutsch-evangelischen Frauenbund (DEF) und dem Katholischen Frauenbund (KDF) weitgehend vergleichbar.80 Bereits die Mitgliedschaft des Hildesheimer Frauenvereins im JFB läßt eine Ausweitung seiner Tätigkeiten und damit auch eine weitgehende Zustimmung zu dessen Zielen vermuten. Diese Annahme ist durch die Berichte über seine Arbeit in den 1920er Jahren zu stützen. Daher seien die wichtigsten Felder skizziert.

74 Ebenda, S. 28.

Während der Zeit der Weimarer Republik erlangte mehr als die Hälfte der jüdischen Frauen das Wahlrecht in den Gemeinden, das sie vor 1918 nirgendwo besaßen. Auch innerhalb der anderen großen Konfessionen hatten Frauen bis 1918 nur wenig Mitsprachemöglichkeiten. Im Falle der katholischen Kirche stellte sich das Problem aufgrund ihrer ausgeprägt hiereokratischen Kirchenstruktur so nicht - bis zum 2. Vatikanum gab es keine Laienvertretung. Dieie Aufgaben lagen hier anders als bei der jüdischen und evangelischen Glaubensgemeinschaft. Der KDF kämpfte für die unbeschränkte Zulassung von Frauen zu den Kirchentagen. Ein Ziel, welches er 1921 erreichte.

Auch der DEF kämpfte wie der JFB für das Wahlrecht von Frauen zu den Gemeindeleitungen -und auch in der Evangelischen Kirche wurde das Frauenwahlrecht erst nach 1918 in die einzelnen Synodalverfassungen aufgenommen. Insofern war die Lage der Frauen verschiedener Konfessionen durchaus ähnlich.

75 Vgl. M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 28.

76 Ebenda, S. 18.

77 Ebenda.

78 Formuliert in Anlehnung an ebenda, S. 74.

79 Formuliert in Anlehnung an ebenda, S. 116.

80 Vgl. U. Baumann: Religion und Emanzipation, S. 178ff.

Da war einmal die Bekämpfung der Tuberkulose: Mitte der 1920er Jahre arbeiteten Hildesheimer Jüdinnen in der Tuberkulose-Kommission des Landesverbandes mit.81 Die Bekämpfung der Krankheit war gerade in den Nachkriegsjahren ein dringendes, allge-meines soziales Problem. Nicht von ungefähr war sie einer der wichtigsten und zentral-sten Arbeitsbereiche82 des Landesverbandes wie im JFB insgesamt.83

Wichtig war auch das Engagement im Bereich der Erholungsfürsorge,84 die unter an-derem "in der unentgeltlichen Unterbringung berufstätiger Mädchen und Frauen und in Zuschüssen für die Reise bestand"85 sowie in der Schaffung von sogenannten Freiplätzen,86 also von kostenlosen Ausbildungsplätzen für Frauen. Das Schaffen jener Freiplätze stand dabei vielleicht im Zusammenhang mit einem weiteren zentralen Tätigkeitsfeld des JFB – der Gefährdetenhilfe.87 Möglich ist aber auch, daß es dem Ziel diente, die Berufschancen von Frauen zu verbessern. In diesem Falle hätten spezifisch 'emanzipatorische' Motive die entscheidende Rolle gespielt.

Daneben bemühte man sich um die Mitte der 1920er Jahre auch um die interkonfessionelle Arbeit.88 Gemeint ist damit wohl die Zusammenarbeit mit anderen religiös geprägten Wohlfahrtsorganisationen – im übrigen auch das ein Tätigkeitsfeld, welches vom JFB als ein wesentliches definiert worden war.89 Dieses Engagement scheint zuvor auf Schwierigkeiten und Widerstand gestoßen zu sein: "[...] und hier wurden auch verschiedene Arbeitsberichte erstattet, und zwar von Hannover, Harburg, Hildesheim, Göttingen, von den beiden letzteren Vereinen über erfreuliche Entwicklung der bis jetzt unmöglich gewesenen interkonfessionellen Gemeinsamkeitsarbeit".90 Möglicherweise bestand auf nichtjüdischer Seite die Furcht, die Zusammenarbeit mit jüdischen Vereinen schade dem eigenen Ansehen – ähnlich wie es dies unter den Parteien gab.91

81 Vgl. Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. (1926), Nr. 9 u. 10, S. 11.

82 Vgl. etwa Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 3. Jg. (1927), Nr. 11 u. 12, S. 11.

83 Marion Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 123.

So sammelte man z.B. 1927 Spendengelder für die Bekämpfung der Tuberkulose (vgl. Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 3. Jg. (1927), Nr. 11 u. 12, S. 11), und man setzte sich intensiv für das Aufbringen von Mitteln für das Heim des JFB in Wyk auf Föhr ein (vgl. Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 3. Jg. (1927), Nr. 11 u. 12, S. 11.), wo der Bund eine Heilstätte für Kinder und Jugendliche unterhielt (vgl. Nadia Stein: Artikel 'Jüdischer Frauenbund'. In:

Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 9, Sp. 577.).

84 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. (1926), Nr. 9 u. 10, S. 11.

85 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 6. Jg. (1930), Nr. 8, S. 10.

86 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. (1926), Nr. 9 u. 10, S. 11.

87 M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 276.

88 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. (1926), Nr. 9 u. 10, S. 11.

89 M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 123.

90 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 2. Jg. (1926), Nr. 9 u. 10, S. 11.

91 A. Paucker: Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893-1933, S. 156f.

Trotz dieser neuen Tätigkeitsfelder hatten die traditionellen wie die Pflege der Kranken und Sterbenden sowie die Unterstützung Bedürftiger weiterhin große Bedeutung. So heißt es im 'Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932/33' zu seinem Zweck und Arbeitsgebiet

"Unterstützung Hilfsbedürftiger, Bestattung".92

Zwar sind nur diese wenigen Arbeitsbereiche für Hildesheim direkt zu belegen. Aber man darf vermuten, daß seine Aktivitäten noch weiter gespannt waren, wenn man die Arbeit des Landesverbandes zugrunde legt. Über sein vielfältiges Engagement heißt es in einem Bericht über die Delegiertentagung im Jahre 1930:

"Er hat alle Bundesgedanken- und wünsche stark propagiert: die Sorge für die Bundesheime, den Vertrieb der Blätter und Kalender, die Jubiläumsspende, Pflegestellen- und Adoptions- und Stellenvermittlung.

Jugenddienst im Sinne der Bundesbeschlüsse, Werbung für den Henriette-May-Fonds."93

Die Gefährdetenfürsorge, die Gefangenen- und Gerichtshilfe – auch das waren wich-tige Anliegen.94 Die Gefährdetenfürsorge sowie die Bekämpfung des Mädchenhandels überhaupt war die Reaktion auf ein sehr ernstes und dringendes soziales Problem gerade in Osteuropa, das bereits seit dem 19. Jahrhundert bestand. Beide Felder gehörten im übrigen zu den wichtigsten Arbeitsschwerpunkten des JFB.95

Dieses Engagement ist besonders bemerkenswert. Bei dem Versuch etwa, den Ursachen des Mädchenhandels entgegenzuwirken, geriet man oft in Konflikt mit ortho-dox eingestellten Rabbinern. Sie wandten sich dagegen, die allein religiöse Eheschließung ohne zusätzliche standesamtliche Bestätigung abzuschaffen. Dies forderte der JFB, der darin eine wesentliche Begünstigung Mißstandes sah.96

Wichtig festzuhalten ist zweierlei: Man muß sich innerhalb des Verbandes wie der Gemeinden bewußt gewesen sein, daß man gegen zentrale Religionsgesetze Position be-zog, die man für überkommen und schädlich hielt. Wenn man sich nämlich der

92 Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland (1928/29), S. 78.

Zu diesem Zeitpunkt war der Frauenverein neben der 'Chewra Kadischa' und dem 'Verein zur Unterstützung Kranker und Bedürftiger' in der 'Arbeitsgemeinschaft der Wohltätigkeitsvereine der Synagogengemeinde Hildesheim' zusammengeschlossen.

93 Blätter des Jüdischen Frauenbundes. 6. Jg. (1930), Nr. 8, S. 11.

94 Das belegt der Bericht im Israelitischen Familienblatt über eine in Hildesheim abgehaltene Tagung des Niedersächsischen Landesverbandes im Jahre 1928 (Israelitisches Familienblatt v.

12.7.1928).

95 M. Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland, S. 181ff.

Zu diesem Zweck unterhielt der JFB ein Heim in Neu-Isenburg für gefährdete Mädchen (ebenda, S. 239).

96 Ebenda, S. 204ff.

Konfrontation stellte, dann spricht das zudem für eine religiös eher liberale Haltung so-wie für eine erhebliche 'Politisierung'.

Konfrontation stellte, dann spricht das zudem für eine religiös eher liberale Haltung so-wie für eine erhebliche 'Politisierung'.