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Der Einfluß der Reformbewegung auf das Hildesheimer Schulwesen

7. Das jüdische Schulwesen in Hildesheim

7.1 Der Einfluß der Reformbewegung auf das Hildesheimer Schulwesen

Das jüdische Bildungswesen erfuhr während des 19. Jahrhunderts einen tiefgreifenden Wandel. Zentrales Ziel traditioneller jüdischer Erziehung ist, dem Einzelnen die ethischen und religiösen Werte des Judentums sowie das Bewußtsein zu vermitteln, Teil einer um-fassenden Gemeinschaft zu sein.1 Die Bildungsinhalte waren in erster Linie religiöse.2 Daher standen das Studium von Thora und Talmud wie zum Beispiel das Erlernen des Hebräischen im Mittelpunkt des Unterrichts.3

Eine der herkömmlichen Bildungsinstanzen, die in Mitteleuropa vielfach noch im 18.

Jahrhundert bestand, war der Cheder – die hebräische Elementarschule.4 Die meisten

1 Moritz Rosenfeld u. Georg Herlitz: Artikel 'Erziehungswesen, Jüdisches'. In: Jüdisches Lexikon.

Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u.

Bruno Kirschner. Bd. II. Berlin 1929, Sp. 491.

2 Claudia Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933. Tradition und Modernisierung im Zeitalter der Emanzipation Göttingen 1989 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften 36), S. 56f.

3 Vgl. hierzu etwa Wolfgang Marienfeld: Jüdische Lehrerbildung in Hannover 1848-1923. In:

Hannoversche Geschichtsblätter 36 (1982), S. 1; C. Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933, S. 56.

4 Moritz Rosenfeld: Artikel 'Cheder'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Bd. I. Berlin 1927, Sp. 1350ff.

Nach Ansicht M. Eliavs waren es vor allem die Kinder ärmerer Familien, die die Cheder besuchten (Mordechai Eliav: Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 11 (1960), S. 159), wohlhabendere Familien hatten oft Privatlehrer, von denen es eine ganze Anzahl gab - in Hamburg z.B. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa 50. Die Anzahl der unterrichteten Fächer war hier breiter, denn die profanen Fächer hatten ein deutlich stärkeres Gewicht. So wurde hier z.B. auch das als Handelssprache wichtige Französisch sowie deutsche und deutsch-jüdische Schrift usw.

gegeben (C. Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933, S. 56).

Jungen5 verließen nach der Bar-Mizwa die Schule, um einen kaufmännischen oder handwerklichen Beruf er erlernen.6 Es bestand dann die Möglichkeit, an den Jeschiwoth, den Talmudhochschulen, der anderen wichtigen traditionellen Schuleinrichtung, das Studium von Talmud und Thora zu vertiefen.7 Diese Institution diente vor allem zur Ausbildung von Rabbinern.8

Im Zuge von Emanzipation und Akkulturation verschwanden diese traditionellen Einrichtungen zunehmend, und auch die Lerninhalte wandelten sich. Das Bildungsideal orientierte sich nunmehr an dem der christlichen, bürgerlichen Umwelt. Zudem wurde die Funktion der Berufsausbildung durch die Schulen wichtiger.9 Seinen Ausdruck fand dieser Prozeß in der Gründung sogenannter Freischulen seit dem Ende des 18.

Jahrhunderts,10 "die neben religiösen auch und sogar vornehmlich weltliche Lehrgegenstände anboten".11

Dieser Prozeß scheint in Hildesheim lange vor unserem Untersuchungszeitraum abge-schlossen gewesen zu sein. Seine Anfänge reichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Wesentliche Impulse gingen hierfür in der Zeit der Napoleonischen Besatzung durch das Westfälische Konsistorium aus, das von 1808 bis 1813 bestand. Eines seiner zentralen Tätigkeitsfelder war neben der Reform des jüdischen Gottesdienstes die Verbesserung des Schulwesens.12 Zu diesem Zweck wurde 1810 ein jüdisches Lehrerseminar in der Hauptstadt Westfalens, in Kassel, gegründet.13

Das Konsistorium setzte 1812 M. J. Benlevi als Lehrer in Hildesheim ein, der jedoch lediglich Hebräischunterricht erteilte – die übrigen Fächer wurden von fünf, wahrschein-lich christwahrschein-lichen Lehrern gegeben. Damit bestand eine jüdische Elementar- (Volks)schule

5 Früher ging man davon aus, daß die Schulausbildung für Mädchen unter den Juden vernachlässigt wurde. Diese Auffassung ist nach neueren Forschungen nicht mehr aufrechtzuhalten. Vielmehr wurden auch Mädchen im Cheder oder von Privatlehrern unterrichtet (vgl. hierzu z.B. mit weiterführenden Hinweisen C. Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933, S. 57).

6 C. Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933, S. 56.

7 Ebenda, S. 56f.

8 Moritz Rosenfeld u.a.: Artikel 'Jeschiwa'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Bd. III. Berlin 1929, Sp. 220ff.

9 Daneben gab es natürlich auch ein erhebliches Interesse des Staates an der Verbesserung der Schulbildung auch seiner jüdischen Untertanen, um so deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern.

10 C. Prestel: Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933, S. 61f.

11 W. Marienfeld: Jüdische Lehrerbildung in Hannover, S. 1.

12 Das Konsistorium bemühte sich auch um die Regelung des Schuldenwesens der Gemeinden sowie nicht zuletzt um die Reform des jüdischen Gottesdienstes.

13 Moritz Rosenfeld: Artikel 'Lehrerseminare, jüdische'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u.

Bruno Kirschner. Bd. III. Berlin 1929, Sp. 1024.

in Hildesheim.14 Daß ausgerechnet wohl vor allem Christen hier unterrichteten, ist neben der Einsetzung eines Lehrers durch das Konsistorium selbst ein sicheres Indiz dafür, daß man den profanen Fächer bereits eine hohe Bedeutung zumaß. Wie die Darstellung des Hildesheimer Rabbiners nahelegt, bestand diese Schule über die westfälische Zeit hin-aus.15

Die Anfänge der öffentlichen jüdischen Volksschule gehen zurück auf das Jahr 1827.

Der Gemeindevorstand sandte ein Gesuch an die Königliche Landdrostei. In diesem bat er, eine Schulanstalt einrichten zu dürfen. Der Plan erfuhr von Seiten der Behörden zwar grundsätzliche Zustimmung, jedoch sollte erst ein "vollständiger Plan" vorgelegt werden. Das dringendste Problem scheint das Aufbringen der zum Unterhalt nötigen Kosten gewesen zu sein. Eben aufgrund dieser offenen Frage zogen sich die Verhandlungen bis zum Jahre 1828 hin.16 Jedoch war der Schritt hin zu einer öffentlich anerkannten, alle üblichen Fächer anbietenden jüdischen Volksschule vollzogen.

Das Genehmigungsschreiben der Landdrostei gibt deutliche Hinweise auf die Intention der Behörden: Man verfügte die Aufhebung möglicher noch bestehender 'Winkelschulen'. Damit war die neue Schule zur einzig verbindlichen innerhalb der Gemeinde geworden – und auf diese Weise waren auch ihre 'moderneren', weniger tra-ditionellen Bildungsinhalte festgeschrieben. Die Eltern hatten ihre Kinder ab dem sech-stem Lebensjahr am Unterricht an der jüdischen Schule teilnehmen zu lassen – die

14 Vgl. den Artikel des Lehrers Stern anläßlich zum 100jährigen Bestehen der Hildesheimer Schule. In: Nachrichtenblatt. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 27.4.1928, Nr. 6; Abraham Lewinsky: Artikel 'Hildesheim'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Bd. II. Berlin 1929, Sp. 1591.

15 Wahrscheinlich war es kein Zufall, wenn auch in Hildesheim Ansätze zur Verbesserung des Schulwesens bereits in westfälischer Zeit nachzuweisen sind. Eines der Mitglieder des Konsistoriums, Menachem Mendel Steinhardt, ein früher religiöser Reformer, war nämlich bis 1808 Rabbiner in Hildesheim (Abraham David: Artikel 'Steinhardt, Menahem Mendel Ben Simon'. In: Encyclopaedia Judaica. Bd. 15. Jerusalem 1971, Sp. 369f.).

Diese Tatsache ist auch in anderem Zusammenhang von Interesse: M. M. Steinhardt gehörte nämlich zu den ausgesprochenen Befürwortern einer Reform des jüdischen Gottesdienstes - eine unter den Rabbinern in jener Zeit seltene Ausnahme. Denn die meisten der jüdischen Aufklärer, der Maskilim, waren zwar religiös Gebildete mit bürgerlichen Berufen, aber eben keine Rabbiner (vgl. S. Volkov: Die Juden in Deutschland, S. 24). M. M. Steinhardt war der erste deutsche Rabbiner, der Teile der traditionellen Liturgie fortließ. Auch war er einer der ersten, die für die Einführung von Gebeten auch in deutscher Sprache eintraten (Abraham David: Artikel 'Menahem Mendel Ben Simon Steinhardt', Sp. 369f.). Bedeutsam ist dies insofern, als es möglich wäre, daß durch ihn bereits erste Ansätze zu einer Reform des Gottesdienstes in Hildesheim unternommen worden sind - und dies deutlich vor dem zweifelsfrei zu belegenden Einsetzen Anfang der 1830er Jahre (vgl. II, Kap. 10.6). Dafür könnte auch sprechen, daß der vermutlich im reformorientierten Sinne ausgebildete Lehrer M. J. Benlevi auch als Vorbeter in der Gemeinde tätig war - zumindest bis zum Jahre 1827 läßt sich dies belegen (vgl. Schreiben der Synagogengemeinde an den Magistrat vom 30.11.1909 (StA Hildesheim Best. 102, Nr. 6493)).

16 Belege und Zitat nach: Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig. Organ für die Synagogengemeinden.

Beilage für die Gemeinde Braunschweig vom 27.4.1928.

Jungen bis zum dreizehnten, die Mädchen bis zum vierzehnten Lebensjahr.17 Damit war faktisch die allgemeine Schulpflicht in Hildesheim für jüdische Kinder eingeführt, die für das gesamte Königreich erst 1837 Gesetz wurde.18 Privatunterricht war zwar weiter gestattet, jedoch waren die Eltern in diesem Falle verpflichtet, ihre Kinder zumindest in der Religionsschule unterrichten zu lassen.19

Die Landdrostei legte also erheblichen Wert auf eine angemessene, allgemeine reli-giöse Unterweisung. Allerdings wurde ferner bestimmt, daß, sollten Eltern ihre Kinder in christlicher Religion erziehen lassen wollen, sie in diesem Falle von dem Besuch der jü-dischen Schule sowie vom Entrichten des Schulgeldes für diese befreit seien.20 Das Interesse des Staates an der Taufe und damit der Auflösung der jüdischen Gemeinschaft dürfte wohl hinter dieser Bevorzugung stehen – mit dem Gesetz von 1842 ist dann aller-dings eine andere Regelung getroffen worden.21

Die 1828 gegründete öffentliche jüdische Volksschule war aufgrund finanzieller Nöte schon früh in ihrem Bestand gefährdet, da die meisten der Gemeindemitglieder in ärmsten Verhältnissen lebten.22 Trotz dieser Nöte scheint das Niveau und Ansehen der Schule recht hoch gewesen zu sein. Schließlich wurde sie auch von Kindern anderer Landrabbinatsbezirke besucht.23 1838 dann wurde ein Kontrakt zwischen den Gemeinden Hildesheim und Moritzberg geschlossen, wonach von nun an die Kinder aus der Gemeinde Moritzberg die jüdische Schule in Hildesheim zu besuchen hatten.24

17 Ebenda.

18 J. Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden, S. 167.

19 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig. Beilage für die Gemeinde Braunschweig vom 27.4.1928.

20 Ebenda.

21 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden, Hannover, den 30.9.1842. Aus: Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreibungen für das Königreich Hannover vom Jahre 1842, S.

218 (§39); vgl. auch A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 115.

Trotzdem ist die Verfügung nicht Ausdruck eines Bestrebens nach vollständiger Assimilation der jüdischen Bevölkerung, etwa durch Einführung allein oder vor allem christlicher Lerninhalte, wie das M. Eliav für die Entwicklung des Schulwesens in Deutschland konstatiert hat (M. Eliav:

Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation, S. 212).

22 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig. Beilage für die Gemeinde Braunschweig vom 27.4.1928.

23 Allgemeine Zeitung des Judenthums v. 18.9.1838.

24 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig. Beilage für die Gemeinde Braunschweig vom 27.4.1928; vgl.

hierzu auch Heinrich Kloppenburg: Geschichte des Moritzstifts. (Hildesheim 1933) [unveröffentl. Manuskript/ StA Hildesheim], S. 943.

7.2 Die Rechtsgrundlagen des jüdischen Schulwesens in der Provinz