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2. Organisatorische Struktur der jüdischen Gemeinde

2.7 Schätzungskommission

Der Gesamtvorstand, also die beiden Vorsteher und die fünf Mitglieder des Engeren Ausschusses, bildeten die Schätzungskommission.116 Eine ähnliche Einrichtung gab es auch in Nienburg,117 während in anderen Gemeinden wie in Göttingen nur eine Person die Einschätzung der Gemeindemitglieder zur Kultussteuer vornahm.118 Da die Gemeinde weitgehend für die Aufrechterhaltung des Synagogen- und Schulwesens selbst aufkommen mußte,119 war diese Institution von zentraler Bedeutung.

Allerdings traf die Einschätzung bei zahlreichen Gemeindemitgliedern häufig auf Widerspruch, so daß sich der Regierungspräsident aufgrund der Klagen veranlaßt sah, auf die Einführung eines neuen Verfahrens zu drängen.120 Bis dahin wurde jedes einzelne Mitglied auf der Grundlage mehrerer Kriterien in eine Abgabenklasse eingestuft:

Grundkapital, Geschäftsumfang und Lebensführung des Gemeindemitgliedes.121 Das ei-gentliche Einkommen berücksichtigte man nicht. Man orientierte sich bei diesem Verfahren an dem, wie es einmal bei der Erhebung der Staatssteuern in Preußen üblich gewesen war. Die Kriterien waren auch bei gewissenhafter Tätigkeit ausgesprochen

113 Ministerial-Bekanntmachung des Königlichen Ministeriums des Inneren vom 19.1.1844. In:

Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für das Königreich Hannover vom Jahre 1844, § 35 (S. 48).

114 Nach dem Ausscheiden L. Kohens aus dem Amt des Rechnungsführers für die Gemeinde und Schulkasse findet sich die frühere Unterscheidung nicht mehr (StA Hildesheim Best. 102, Nr.

9116).

115 Vgl. zur Wahl von S. Davidson das Schreiben der Synagogengemeinde an de Magistrat vom 25.1.1909 (StA Hildesheim Best 101/ 898, Nr. 15); noch Ende der 1930er Jahre ist S. Davidson in dem Einwohnerbuch der Stadt Hildesheim als Rechnungsführer der jüdischen Gemeinde ausgewiesen (Einwohnerbuch der Stadt Hildesheim 1938, S. 571).

116 Schreiben des Vorstandes der Synagogengemeinde an den Bezirksausschuß vom 26.10.1896 (StA Hildesheim Best. 100/ 898, Nr. 16).

117 Vgl. R. Sabelleck: Jüdisches Leben in Nienburg, S. 171.

118 P. Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar, S. 15.

119 Vgl. A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 103ff.

120 Schreiben des Regierungspräsidenten an den Magistrat v. 16.11.1897 (StA Hildesheim Best. 100/

898, Nr. 16).

121 Schreiben des Vorstandes der Synagogengemeinde an den Bezirksausschuß vom 26.10.1896 (StA Hildesheim Best. 100/ 898, Nr. 16).

genau, und schließlich wurde durch ein neues Abgabenstatut ein einheitlicher Zuschlag zur Reichseinkommenssteuer beschlossen.122 Dieses sah vor, daß die Beträge vom Magistrat eingezogen werden sollten. Nach Einrichtung der Finanzämter Anfang der 1920er Jahre übernahm das Hildesheimer diese Aufgabe.Durch das neue Abgabenstatut verlor die Kommission ihren Sinn.

2.8 Fazit

Der Staat schrieb den Gemeinden also wesentliche Züge ihrer Verfassung vor. Diese Struktur, so zeigte sich, war durchaus geeignet, jüdisches Leben und Kultur zu erhalten und zu beleben. Zu denken ist hier vor allem an das von der Gemeinde unterhaltene Schul- und Kultuswesen. Solche Institutionen wurden bewahrt oder neu aufgebaut, ob-gleich die Gemeinde in der nachemanzipatorischen Zeit längst keine 'Überlebensgemeinschaft' mehr war. Erhebliche Bindungen zur Gemeinde müssen also weiter bestanden haben.

R. Liberles hat die These vertreten, die Bindungen an die Gemeinde seien durch den Prozeß der Emanzipation keineswegs geschwächt worden.123 Weder sei dies von den Juden selbst, auch von den Reformern nicht, noch von den Regierungen beabsichtigt gewesen.124 Mit Blick auf Deutschland weist R. Liberles auf das Interesse der Regierungen hin, die die zahlreichen Einrichtungen der Gemeinden vor allem im Bereich des Wohlfahrtswesens zu erhalten. Daher machten sie das Parochialprinzip auch für die jüdischen Gemeinden verbindlich.125 Allerdings ließen sie, anders als dies in England und Frankreich geschah, keine zentralistische Gesamtorganisation der jüdischen Gemeinschaft zu.126

Den Willen auf Seiten der jüdischen Führungsschichten, die Gemeindestruktur zu stärken, macht R. Liberles etwa an der Bildung des Deutsch-israelitischen Gemeindebundes und dem Kampf gegen das Austrittsgesetz in den 1870er Jahren fest.

Seiner Auffassung nach waren auch die gewöhnlichen Gemeindemitglieder bestrebt, die Gemeindestruktur zu bewahren, was sich an der geringen Zahl derer zeigt, die aus den

122 StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9117.

123 Robert Liberles: Emancipation and the Structure of the Jewish Community in the Nineteenth Century. In: Leo-Baeck-Institute Year Book XXXI (1986), S. 62ff.

124 Ebenda, S. 64.; S. 62f.

125 Ebenda, S. 62.

Erst nach den Maigesetzen des Jahres 1873 änderte sich dies: "Even in 1873 when the May Laws of that year entiteld Christian citizens to sever ties with their religious communities, while retai-ning thier particular religious identifications, the Prussian government delayed for three years passage of analogous Jewish legislation." (ebenda, S. 62).

126 Ebenda.

Gemeinden austraten – und das, obgleich ihnen das Austrittsgesetz die Möglichkeit bot, diese zu verlassen ohne zugleich damit auch die jüdische Religionsgemeinschaft.127

Auch für Hildesheim lassen sich Belege für R. Liberles Thesen finden: Die Bindung an die Gemeinde ließ nicht nach – die Zahl an Austritten aus der Gemeinde war offenbar gering, viele Mitglieder traten durch Stiftungen etwa zum Zwecke allgemeiner Wohltätigkeit oder zur Unterstützung der Schule hervor.128 Ferner war die Hildesheimer Gemeindeführung nach 1870 immer wieder bemüht, den durch die Institution des Landrabbinats bestehenden organisatorischen Zusammenschluß der Gemeinden Südhannovers zu erhalten.129

Fraglich erscheint jedoch, ob R. Liberles Konzept der Gemeinde das Phänomen in der nachemanzipatorischen Phase insgesamt, besonders aber nach den 1890er Jahren zutref-fend kennzeichnet und ob nicht auch andere Gründe für deren Integrationskraft angeführt werden müssen. Durch den Einfluß der Aufklärung entstanden Anfang des 19.

Jahrhunderts Vereine zum Beispiel mit allgemeinen philanthropischen Zielsetzungen, die über die im weiteren Sinn religiös bestimmten Aufgaben früherer Institutionen hinausgin-gen.130 Nach 1890 verstärkte sich diese Tendenz – Peter Pulzer hat in diesem Zusammenhang sogar von einer "organizational renaissance"131 gesprochen. Sie mani-festierte sich in der Bildung des Centralvereins oder der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur. Das bedeutet zumindest, daß der Begriff der Gemeinde dann, wie bereits betont, weiter gefaßt werden muß: Denn wenngleich die Vereine – wie in Hildesheim – oft enge Kontakte zur Gemeindeleitung unterhielten, beziehungsweise deren Vertreter an ihrer Gründung mit beteiligt waren, so gründeten sie doch zunehmend weniger auf der religiösen Gemeinschaft.132 Zugleich aber konstituierten sie die jüdische Gemeinschaft wesentlich als solche und stärken somit ihren Zusammenhalt. Für die These von R.

Liberles ist dies insofern von Bedeutung, als damit zumindest ein weiterer Faktor der weiterhin bestehenden Anziehungskraft der Gemeinden hinzutrat.

Zum Schluß liegt es nahe, auf die pessimistische Einschätzung J. Tourys über die jü-dischen Führungsschichten im deutschsprachigen Raum in der Zeit von 1880 bis 1933 einzugehen.133 J. Toury konstatiert in seinem Beitrag unter anderem die oft mangelnde

127 Ebenda, S. 64f.

128 Vgl. z.B. die Stidftungen des Vorstehers A. Dux: Der Gemeindebote. Beilage zur 'Allgemeinen Zeitung des Judenthums'. 57. Jg., Nr. 37 v. 15.9.1893, S. 1; Der Gemeindebote. Beilage zur 'Allgemeinen Zeitung des Judenthums'. 62. Jg., Nr. 40 v. 7.10.1898, S. 1).

129 Vgl. II, Kap. 3.3.

130 Vgl. J. Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden, S. 211f.

131 Peter Pulzer: Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848-1933. Oxford u.a. 1992, S. 13.

132 Ebenda.

133 Jacob Toury: Zur Problematik der jüdischen Führungsschichten im deutschsprachigen Raum 1880-1933. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 16 (1987), S. 251-281.

Befähigung dieser Gruppe, da "die Anziehungskraft deutscher Kultur, deutscher Politik und deutscher gesellschaftlicher Formen viele – nicht die Unbefähigsten – dem jüdischen Leben und der jüdischen Aktivität entfremdete"134, so "daß oft nicht die Begabtesten, sondern die Beharrlichsten, als standhafter Rest, in die von den Ehrgeizigsten verschmähten Positionen einrückten."135

Aus Sicht der Entwicklung in Hildesheim wird man diesem Urteil gewiß nicht folgen können: Zwar gab es auch hier Austritte bekannter und respektabler Persönlichkeiten aus der jüdischen Religionsgemeinschaft,136 aber dennoch gehörten die Repräsentanten der Hildesheimer Gemeinde – gerade an den Vorstehern wird dies deutlich – oft auch zu den angesehensten Bürgen in der Stadt überhaupt. Zudem gingen von ihnen viele, kaum zu unterschätzende Impulse für das jüdische Leben aus. Offenbar bewältigten sie ihre Aufgabe also in beachtlicher Weise.

Mit Blick auf die Situation in Hildesheim ist J. Tourys These von der tatsächlich nur geringen Dichte geeigneter Führungspersönlichkeiten zuzustimmen.137 Hier war sie je-doch bedingt durch die relativ geringe Größe der Gemeinde. Die Folge davon waren lange Amtszeiten und Doppelfunktionen in verschiedenen Vereinen.

Schließlich hat J. Toury auch auf den Faktor der Überalterung der jüdischen Führungsschichten hingewiesen: Zahlenmäßig sei sie nicht sehr deutlich ausgeprägt, je-doch durch das Prestige der führenden Persönlichkeiten untermauert gewesen. Ein auf-fälliges quantitatives Nachwuchsproblem habe nicht bestanden. Das Generationsproblem sei "wohl im wesentlichen bedingt durch die Unterstützung [gewesen], welche die Timokratie der älteren Generation in den mittleren Altersgruppen fand, da gerade diese den nachdrängenden Schichten der Jugend kaum Sympathie entgegenbrachten."138

Zwar gab es auch in Hildesheim Ansätze einer Überalterung, die sich in den Jahren um 1918/ 20 besonders ausgeprägt zeigte. Doch dies waren Erscheinungen, die immer wieder aufgebrochen wurden – gerade auf die Vorsteherpositionen gelangten immer wie-der relativ junge Persönlichkeiten. Daß sich dieser Prozeß in Hildesheim nicht so deutlich zeigte, wie in anderen, gerade kleineren Gemeinden, mag daran liegen, daß sie nicht nur von der allgemeinem Tendenz der Überalterung der jüdischen Minderheit betroffen wa-ren, sondern auch von der Wanderungsbewegung vieler – jüngerer – Juden in die großen Städte.

134 Ebenda, S. 255.

135 Ebenda, S. 256.

136 Dazu gehörte z. B. Max Leeser (Schreiben der Synagogengemeinde an den Magistrat vom 28.1.1895 (StA Hildesheim Best. 101/ 902a, Nr. 5 (Bd. III)), der - wie schon erwähnt - später Ehrenbürger der Stadt Hildesheim wurde.

137 J. Toury: Zur Problematik der jüdischen Führungsschichten, S. 256.

138 Belege und Zitatnachweis ebenda, S. 265.

3. Landrabbinatsverfassung

3.1 Allgemeines

Die Landrabbinate waren das wesentliche Charakteristikum der Organisation der jüdi-schen Religionsgemeinschaft im Königreich beziehungsweise der späteren Provinz Hannover.1 Über die Schilderung von Stellung und Aufgaben der Rabbiner hinaus soll gezeigt werden, wie diese Institution im Falle des Hildesheimer Bezirks zunehmend in Frage gestellt wurde. Dabei ist auszuloten, inwieweit diese Entwicklung in der rechtli-chen Struktur und Ausformung bereits angelegt und damit verknüpft war. Damit kommt zugleich das Verhältnis der Hildesheimer Gemeinde zu den übrigen des Bezirks des Landrabbinates in den Blick.2