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Die angestrebte Revision der Gesetzgebung nach 1918

1. Die Rechtsverfassung der Gemeinde

1.4 Die angestrebte Revision der Gesetzgebung nach 1918

Auch im Rahmen der Darstellung zu einer einzelnen Gemeinde wie der Hildesheimer ist es durchaus lohnend, auf die Diskussion um die Revision der "Judengesetzgebung"50 in Preußen näher einzugehen. Dies zum einen deshalb, weil die beabsichtigte Neuregelung, wäre sie tatsächlich erfolgt, erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Organisation der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover gehabt hätte – und zwar ge-rade in der für Hildesheim so relevanten Frage nach Existenz und Form der Landrabbinate; zum anderen auch deswegen, weil die Hildesheimer Gemeinde selbst auf regionaler Ebene an den Beratungen darüber beteiligt war, ob und welche besonderen Regelungen auch nach der vereinheitlichenden Gesetzesrevision für ganz Preußen beste-hen bleiben sollten. Zudem zeigen die Auseinandersetzungen deutlich, welche Akzeptanz die Institution des Landrabbinates am Ende der 1920er Jahre unter den Gemeinden des Bezirks noch besaß.

Auf die in den 1920er und Anfang der 30er Jahre geführten Diskussionen über eine Veränderung der rechtlichen Verfassung der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover ist in der landesgeschichtlichen Forschung bereits eingegangen wor-den.51 Immer jedoch sah man sie stets isoliert für sich, als seien sie nicht Teil einer um-fassenderen Debatte zwischen preußischer Regierung und Parlament sowie den großen jüdischen Interessenverbänden, dem Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden (PLV) sowie dem Preußischen Landesverband gesetzestreuer Synagogengemeinden (HV). Gerade diesen nicht nur chronologischen, sondern auch inhaltlich engen Zusammenhang gilt es herauszuarbeiten.

49 StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9116.

50 Begriff nach M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 144.

51 Vgl. Wilhelm, Peter: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar 1850-1942.

Göttingen 1978 (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 11), S. 66ff.; R. Sabelleck:

Jüdischen Leben in einer nordwestdeutschen Stadt, S. 330ff.

Die Schaffung eines für ganz Preußen einheitlichen Rechtssystems war nur eine von mehreren Fragen, die der PLV52 im Zuge der Gesetzesrevision neu zu regeln suchte.

Neben dem Erlangen der staatlichen Anerkennung für den PLV und HV53 sowie das Festsetzen der Befugnisse beider Verbände gegenüber den Gemeinden entsprechend den Kirchenverfassungen, waren weitere entscheidende Punkte: die Änderung des für die jü-dischen Gemeinden ungünstigen Austrittsgesetzes von 1920 sowie die Frage der Modalitäten des Wahlrechts in den Gemeinden.54

Die Weimarer Verfassung schuf, wie bereits ausgeführt, eine grundsätzlich neue Situation. Vor allem standen ihre Rechtsprinzipien vielfach den alten 'Judengesetzen' des 19. Jahrhunderts entgegen. Zudem bestand innerhalb Preußens eine Vielzahl oft mitein-ander nicht zu vereinbarender Rechtssysteme,55 so daß eine Revision der Gesetzgebung schon zum Zecke der Vereinheitlichung geboten schien. Doch gab es völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, in welcher Form dies geschehen sollte. Manche innerhalb des PLV streben an, das Gesetz von 1847 auf ganz Preußen zu übertragen – natürlich ohne jene Passagen, die im Widerspruch zur Reichsverfassung ständen;56 andere wollten gerade den mit diesem Gesetz verbundenen Zustand völlig autonomer Gemeinden ohne organisatorische Bindung zueinander überwinden.57

Auf dem dritten Verbandstag des PLV im März 1927 in Berlin wurde zunächst ein Gesetzentwurf angenommen, der auf die Arbeit einer Kommission von Vertretern des PLV und HV zurückging und der zuvor auch vom Großen Rat, dem Exekutivorgan des PLV, überarbeitet worden war.58 Dieser wurde ermächtigt, "die Übergangsbestimmungen für Hannover, Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein, die in

52 Der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden wurde 1922 in Berlin gegründet. Die bei der Gründungsversammlung anwesenden Gemeindevertreter repräsentierten 70 Prozent der in Preußen lebenden Juden. Der Verband machte sich unter anderem zur Aufgabe, die jüdische Religionsgemeinschaft in allen gemeinsamen Fragen nach außen zu vertreten sowie an der Vorbereitung von Gesetzen mitzuwirken. Weitere Tätigkeitsbereiche waren die finanzielle Unterstützung leistungsschwacher Gemeinden, die Vergabe von Stipendien für die Ausbildung von Kantoren, Religionslehrern usw. (Die Darstellung folgt: Artikel 'Preußischer Landesverband jüdischer Gemeinden'. In: Neues Lexikon des Judentums. Hg. v. Julius H. Schoeps. München 1992, S. 374; vgl. daneben auch folgende detaillierte Studie M. Birnbaum: Staat und Synagoge).

53 Um eine Verwechslung mit dem 'Bund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands' zu vermeiden, sei angeführt, daß in Anlehnung an M. Birnbaum (vgl. auch M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. IX) der Preußische Landesverband gesetzestreuer Synagogengemeinden mit HV (=

Halberstädter Verband) abgekürzt wird. Der HV vertrat die orthodoxen Gemeinden in Preußen.

54 M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 144ff.

55 In den 1920er Jahren gab es - wie erwähnt - in den verschiedenen Gebieten Preußens nicht weniger als 12 (I. Freund: Die Rechtstellung der Synagogengemeinden in Preußen und die Reichsverfassung, S. 5).

56 Vgl. hierzu insgesamt M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 144f.

57 So nahm der 'Große Rat' des PLV 1927 in einen Entwurf zur Gesetzesrevision das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in einem der beiden Landesverbände auf (vgl. hierzu M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 146).

58 Ebenda, S. 145ff.

dem Entwurf offengelassen waren, nach Anhörung von Vertretern dieser Provinzen fest-zulegen."59 Diese Entscheidung war sehr wahrscheinlich der Anlaß für die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Provinzialverband hannoverscher Synagogengemeinden über die Überleitungs- beziehungsweise Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz als Sonderregelung für die Provinz.

Am 18.3.1928 fand im Sitzungssaal der Synagogengemeinde Hannover eine Ausschußsitzung des Provinzialverbandes hannoverscher Synagogengemeinden statt.

Anwesend waren die Landrabbiner von Hannover, Hildesheim und Emden sowie Vertreter der Gemeinden von Hannover, Hildesheim, Emden, Nienburg, Göttingen, Hameln, Wesermünde, Meppen, Osnabrück und Verden.60 Der Vizevorsitzende des Verbandes, Dr. Schleisner,61 hatte in Gemeinschaft mit dem Vorstand der Synagogengemeinde Hannover einen Entwurf über Übergangs- beziehungsweise Einführungsbestimmungen für das neue 'Judengesetz' ausgearbeitet. Dieser war dem Ausschuß zur Beratung und möglichen Beschlußfassung vorgelegt worden. Es entwic-kelte sich eine "ausgiebige, zum Teil sehr erregte Debatte"62 über die Artikel 5 und 6 des Entwurfes.

Artikel 5 schloß eine Aufsicht der Landrabbiner über die Verwaltung der Gemeinden – wie sie bisher bestand – aus, er beschränkte sie auf den Gottesdienst, das Kultuswesen und den Religionsunterricht. Artikel 6 gestand den Landrabbinern auch in diesen Fragen lediglich ein aufschiebendes Veto gegenüber den Beschlüssen der Gemeinde zu.63

Der Entwurf hielt also an der Institution der Landrabbinate fest, wenngleich mit deut-lich eingeschränkten Kompetenzen. Das zielte darauf ab, "daß künftig die Gemeinden in ihrer Bewegungsfreiheit weniger gehemmt"64 sein sollten. Leider sind dem Bericht im Nachrichtenblatt keine näheren Angaben zum Verlauf der Diskussion zu entnehmen; le-diglich, daß "namentlich die Vertreter der kleineren Gemeinden sich mit dem Entwurf in seiner jetzigen Fassung nicht befreunden" konnten. Man bildete daher eine Kommission, die "innerhalb der nächsten sechs Wochen den Entwurf zu überarbeiten und dem Ausschuß erneut zur Beschlußfassung vorzulegen hatte".

59 Ebenda, S. 148f.

60 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.3.1928 (Nr. 12).

Die Hildesheimer Gemeinde war auch schon vorher in überregionalen jüdischen Verbänden organisiert - so im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund in den 1870er Jahren (vgl. Stiftung 'Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum', Archiv (CJA), (Gesamtarchiv der deutschen Juden), 75C Ge1, Nr. 96).

61 Vgl. zum Amt Schleisners: Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24).

62 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.3.1928 (Nr. 12).

63 Ebenda.

64 Alle weiteren Zitate dieses Absatzes nach ebenda.

Die nächste Tagung des Ausschusses des Provinzialverbandes fand wohl am 10.6.1928 statt.65 Inzwischen war seit der Sitzung im März insofern eine Veränderung eingetreten, als auf dem vierten Verbandstag des PLV der Gesetzentwurf von 1927 nach erneuter Überarbeitung endgültig angenommen worden war.Dieser sah zum Beispiel das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft der einzelnen Gemeinden im PLV oder HV vor.66 Damit setzte sich die Richtung innerhalb des PLV durch, die die mit dem Gesetz von 1847 verbundene "Atomisierung"67 der Gemeinden überwinden und sie organisatorisch stärker aneinander binden wollte.

Auf der Tagung des Provinzialverbandes bestanden ganz erhebliche Differenzen sowohl über die Art des für ganz Preußen anzustrebenden Gesetzes als auch über den rechtlichen Charakter des vom Provinzialverband zu beschließenden Entwurfs. Der Vorsitzende des Verbandes, Berliner, sprach sich etwa für die Einführung des preußi-schen Gesetzes von 1847 aus, in dem er die beste Möglichkeit sehe.68 Eine Auffassung, die zu dem einige Monate zuvor beschlossenen Entwurf des PLV in klarem Widerspruch stand. Auch gab es zunächst unter den Teilnehmern keine grundsätzliche Einigung dar-über, ob die Tagung nur über zeitlich begrenzte Übergangsbestimmungen zu dem vom PLV angestrebten Gesetz oder über unbegrenzt gültige Ausführungsbestimmungen ent-scheide. Schließlich setzte sich jedoch letztere Auffassung allgemein durch.69

In den Beratungen zu den einzelnen Bestimmungen des Entwurfs von Seiten des Provinzialverbandes äußerte der Vertreter der Hildesheimer Gemeinde, nämlich einer ih-rer beiden Vorsteher, Rechtsanwalt Dr. Berg, Vorbehalte gegenüber Artikel 3 – dabei wurde er unterstützt von dem Vertreter Emdens. Dieser Artikel sah insbesondere vor, daß eine Gemeinde, die einen eigenen Rabbiner besaß, aus ihrem Landrabbinatsverband ausscheiden könne.70 Dr. Berg machte seinen Vorbehalt davon abhängig, ob die Frage des finanziellen Ausgleichs für die Gemeinden, in denen sich der Wohnsitz des Rabbiners befinde, geregelt werde. Zugleich betonte er jedoch, eigentlich sei er grundsätzlich gegen die in Artikel 3 aufgezeigte Möglichkeit, da er befürchte, "daß alsdann mit der Zeit diese Gemeinden in Gemeinschaft mit anderen Gemeinden die Bildung eines eigenen Landrabbinatsverbandes vornehmen könnten".71 Er habe allerdings nichts dagegen,

65 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24).

66 M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 145ff; S. 151ff.

67 Begriff in Anlehnung an ebenda, S. 157.

68 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24).

69 Ebenda.

70 Ebenda.

71 Ebenda.

wenn die Gemeinden mit eigenem Rabbiner in finanzieller Hinsicht freigestellt sind und der dortige Rabbiner religiöser Hinsicht nicht dem Landrabbiner unterstellt ist.

Die Ausführungen des Vorsitzenden der Hildesheimer Gemeinde erscheinen nicht völ-lig schlüssig: Im Falle des Ausscheidens einer Gemeinde aus dem Landrabbinatsverband wurde ein finanzieller Ausgleich gefordert, während man sich bei ihrem Verbleib offen-bar damit einverstanden erklärte, daß sie von Zahlungen zur Landrabbinatskasse befreit seien. Die nicht widerspruchsfreie Haltung ist aus dem Dilemma der Hildesheimer Gemeinde heraus zu verstehen, einerseits die Institution des Landrabbinates erhalten zu wollen, andererseits aber ihre eigene finanzielle Belastung zu begrenzen. Beides war kaum miteinander zu vereinbaren. Denn die Institution des Landrabbinates zu erhalten, war überhaupt nur mit weitgehenden Zugeständnissen möglich. Die Abstimmung auf dem Verbandstag zeigte, wie ausgesprochen dünn die Mehrheit für ihr Fortbestehen war.72 Daneben hatte es seit Jahrzehnten immer wieder Bestrebungen der Göttinger Gemeinde gegeben, die Form des Hildesheimer Landrabbinates zu verändern, etwa durch Schaffen eines eigenen Landrabbinatsbezirks mit den übrigen südhannoverschen Gemeinden oder durch alleiniges Ausscheiden aus dem Verband.73

Die Göttinger Gemeinde besaß einen eigenen Rabbiner.74 Sie hätte also von Artikel 3 Gebrauch machen können. Daher ist die Befürchtung Dr. Bergs, die oben erwähnte Austrittsmöglichkeit gefährde den Zusammenhalt der Landrabbinate, mindestens für den Hildesheimer Bezirk durchaus realistisch gewesen. Zudem hatte mittlerweile eine Loslösung der südhannoverschen Gemeinden vom Landrabbinatsverband eingesetzt.75

Angesichts dieser Situation ist der Versuch des Hildesheimer Vertreters verständlich, die Möglichkeit eines Ausscheidens zu verhindern und dafür finanzielle Zugeständnisse zu machen. Man hoffte offenbar auf diese Weise, die übrigen Gemeinden zumindest rechtlich an das Rabbinat zu binden. Das verfolgte Minimalziel, im Falle eines Ausscheidens wenigstens einen finanziellen Ausgleich zu erhalten, ist so zu erklären, daß die Göttinger nach der Hildesheimer Gemeinde der mit Abstand größte Beitragszahler zur Landrabbinatskasse war.76 Nach ihrem Ausscheiden wären die Lasten für die übrigen Gemeinden erheblich gestiegen. Hinter den Gegenvorschlägen des Hildesheimer

72 Ebenda.

Bei der Abstimmung ging es um die Frage, ob es überhaupt Ausführungs- bzw.

Übergangsbestimmungen für Hannover geben sollte, die nach dem vorliegenden Entwurf ein Fortbestehen der Landrabbinate in veränderter Form vorsahen.

73 Vgl. z.B. die Eingabe der Göttinger Synagogengemeinde vom 31.5.1895 gerichtet an den Hildesheimer Regierungspräsidenten (NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 4220).

74 P. Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar, S. 18.

75 Vgl. II, Kap. 3.3.

76 NHStA Hannover Hann. 122a, Nr. 375f., S. 206.

Dieser Liste von 1925 zufolge trug die Göttinger Gemeinde zum Gehalt des Landrabbiners von 8196,00 RM. 1749,60 RM 22,35%, Hildesheim mit 3862,40 RM 47,13% bei.

Vertreters steht also auf der einen Seite das Bestreben, ein Auseinanderbrechen des Landrabbinats abzuwenden sowie durch die rechtliche Einbindung der Göttinger Gemeinde in den Landrabbinatsverband zugleich ein denkbares Ausscheren der südlichen Gemeinden zu verhindern. Auf der anderen Seite sollte die Finanzierung des Landrabbinergehalts weiter gewährleistet sein.

Fraglich ist jedoch, ob das scheinbar kleinere Übel, nämlich die Göttinger Gemeinde von allen finanziellen Lasten zu befreien, sie aber zugleich an den Verband weiter zu bin-den, eine Spaltung des Bezirks hätte verhindern können. Denn eine von finanziellen Lasten befreite Göttinger Gemeinde, deren Rabbiner darüber hinaus dem Landrabbiner in religiöser Hinsicht nicht mehr unterstellt gewesen wäre, hätte unter den Bezirksgemeinden eine große Sonderstellung besessen. Der Zusammenhalt des Landrabbinates wäre in dieser Situation zweifellos äußerst schwierig geworden.

Vermutlich hätte auch die nach einem Austritt Göttingens erhöhte Belastung bereits bestehende Differenzen unter den übrigen Gemeinden verschärft, was wiederum die Tendenz der Loslösung vom Landrabbinatsverband weiter gefördert hätte. Die Verhandlungsposition der Hildesheimer Gemeinde auf der Tagung des Provinzialverbandes war also ausgesprochen ungünstig.

Es wäre jedoch falsch, im Bemühen der Hildesheimer Gemeinde um Bewahrung der Institution des Landrabbinates nur eine rückwärts gewandte, nur am Alten festhaltende Haltung zu sehen. Man war vielmehr durchaus bereit, den Aufgabenbereich der Rabbiner zu neu zu gestalten, und erhob keine Einwände dagegen, deren Verwaltungskontrollbefugnisse über die einzelnen Bezirksgemeinden aufzuheben sowie seine Aufgaben auf rein geistliche zu beschränken.77

77 Vgl. Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24).

In späteren Verhandlungen erhob man ebenfalls keine Einwände gegen eine Beschränkung der Aufgaben der Landrabbiner auf rein geistliche - so würden "alle nicht rein geistlichen Befugnisse von den Landrabbinern bereits seit langem nicht mehr ausgeübt" (Niederschrift des Protokolls der Besprechung beim Oberpräsidenten Noske "über die Überleitung der Judengesetzgebung im hannoverschen Rechtsgebiet" vom 12.1.1932/ [S. 8. d. Protokolls] (NHStA Hannover Hann.

122a, Nr. 4220)).

Daß die Gemeinde die Fassung des Artikels 5 ablehnte, hatte wahrscheinlich finanzielle Motive.

Dieser sah die Umlage der Kosten für Tätigkeiten des Landrabbiners außerhalb seines Sitzes durch den Oberpräsidenten nach Anhörung der größeren Gemeinden und der Landrabbiner vor (Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24)). Man befürchtete wohl, nur noch geringe Mitsprache bei deren Verteilung zu haben und die Beträge allein tragen zu müssen. Das war für die Hildesheimer Gemeinde ein zentrales Problem, da im Falle einer Neuregelung die finanzielle Belastung in jedem Falle gestiegen wäre. Schließlich wäre sowohl nach dem Gesetzentwurf des Provinzialverbandes, der einen Austritt möglich machte, wie nach dem Vorschlag Dr. Bergs die Göttinger Gemeinde als größter Beitragszahler ausgefallen.

Im übrigen zeigt dieser Artikel auch, daß ungeachtet den Prinzipien der Weimarer Verfassung eine gewisse Beteiligung des Staates an der Verwaltung der jüdischen Religionsgemeinschaft weiter vorgesehen war.

In dem Zeitraum bis zur nächsten Tagung des Provinzialverbandes im Februar 1929 hatte der PLV bereits den Gesetzentwurf für die Regelung der Rechtsverhältnisse in ganz Preußen überraschend und schließlich ohne Absprache mit dem HV im Juli 1928 beim Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung eingereicht. Doch war es bis zum Februar offenbar noch nicht zu konkreten Beratungen zwischen dem PLV und dem Ministerium gekommen.78

An der Tagung nahm die Hildesheimer Gemeinde jedoch nicht mehr teil, da sie mitt-lerweile aus dem Provinzialverband ausgetreten war.79 Die Ursachen dieses Schrittes sind aufgrund fehlender Quellen nicht auszumachen. Beide sich anbietenden Erklärungen sind keineswegs überzeugend. Einmal wäre denkbar, daß der Schritt im Zusammenhang mit den auf der Tagung geäußerten Vorbehalten gegenüber dem Gesetzentwurf stand.

Vielleicht sah man ihn als inakzeptabel an. Jedoch war eine abschließende Abstimmung hierüber noch nicht erfolgt. Zudem sollten auf dieser erneuten Tagung im Februar 1929 die vorgebrachten Einwände noch einmal diskutiert werden.80

Möglicherweise hatte der Austritt seinen Grund auch in den Verhandlungen um die Schlichtung des Streits mit der Göttinger Gemeinde, die die Zahlungen an die Landrabbinatskasse verweigert hatte und zwangsverpfändet werden mußte. Hieran nah-men auch Vertreter des PLV teil, von denen einzelne auch an der Spitze des Provinzialverbandes standen.81 Vielleicht erwies sich der erreichte Kompromiß als nicht tragfähig.

Auch verlief auch die Diskussion auf der Tagung im Februar 1929 kontrovers – nur schwer zu überbrückende Meinungen über die anzustrebende Form des zukünftigen Rechtszustandes trafen aufeinander. Vertreter so wichtiger Gemeinden wie Göttingen und Osnabrück sprachen sich überhaupt gegen Ausführungsbestimmungen aus: Dies hätte ein Ende des Bestehens der Landrabbinate zur Folge gehabt. Eine Abstimmung darüber, ob es überhaupt Ausführungsbestimmungen zu dem inzwischen ja eingereichten Gesetzentwurf des PVL geben solle, ergab nur eine dünne Mehrheit von 39 gegen 27 Stimmen. Dabei repräsentierten die 39 Stimmen jedoch nur 3734 Gemeindemitglieder

78 M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 153f.

79 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 15.2.1929 (Nr. 7).

80 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24).

81 Gemeint ist vor allem Rechtsanwalt Schleisner, der Mitglied des Großen Rates des PLV (Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 6.7.1928 (Nr. 26)) und der Vizevorsitzende des Provinzialverbandes war (vgl. zum Amt Schleisners Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung.

Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 22.6.1928 (Nr. 24)).

der Provinz, die 27 übrigen dagegen 8068.82 Es waren scheinbar vor allem die kleinen und mittleren Gemeinden, die für den Entwurf des Provinzialverbandes eintraten.

Schließlich kam es aber doch zu einer Annahme des Gesetzentwurfs ohne grundle-gende Änderungen. Ende 1929 sollte unter den Gemeinden eine Abstimmung herbeige-führt werden.83

Dennoch blieben ihre mehrfachen Verhandlungen zunächst ohne direkte Folgen.

Lange Zeit geschah nichts,84 denn der Gang des Gesetzgebungsverfahrens in Berlin kam ins Stocken. Konkrete Verhandlungen mit dem Ministerium wurden erst im September 1931 geführt. Dann zeigte sich allerdings rasch, daß das Ministerium wesentliche Punkte des Gesetzesentwurfs des PLV anlehnte und schließlich seinen eigenen zur Grundlage der Diskussion machte. Dieser sah unter anderem keinen organisatorischen Verbund der preußischen Gemeinden vor.85 Wäre dieses Gesetz beschlossen worden, hätte die

"Atomisierung"86 der Gemeinden in Altpreußen, wie sie seit 1847 bestand, fortgedauert und wäre auf die anderen Gebiete übertragen worden.

Im Januar 1932 kam es auf Einladung des Oberpräsidenten Gustav Noske zu einer Sitzung von Vertretern der Behörden und einzelnen jüdischen Gemeinden der Provinz, an der auch wieder die Hildesheimer Gemeinde teilnahm.87 Die Initiative zu dieser Tagung lag nun also nicht mehr bei den jüdischen Interessenvertretungen, sondern bei der Regierung. Als Vertreter der Hildesheimer Gemeinde nahm der Vorsitzende des Gemeindevorstandes Dr. Berg teil, ebenso der Landrabbiner Dr. Lewinsky.88 Dabei ging es – wie es als Vertreter des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Ministerialdirektor Trendelenburg ausdrückte – um Folgendes:

"Vielmehr sei es die besondere Aufgabe dieser Sitzung, darüber zu beraten, welches Schicksal der für Hannover charakteristischen übergemeindlichen Organisation-Zusammenfassung der Synagogengemeinden unter Landrabbinate zu Landrabbinatsbezirken – innerhalb der geplanten Neuordnung widerfahren solle."89

82 Nachrichtenblatt. Jüdische Wochenzeitung. Amtliches Organ für die Synagogen-Gemeinden Hannover und Braunschweig vom 15.2.1929 (Nr. 7).

Die 42 an der Tagung teilnehmenden Gemeinden verfügten über insgesamt 66 Stimmen.

83 Ebenda.

84 M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 154ff

85 Vgl. hierzu ebenda, S. 157ff.

86 Begriff übernommen von ebenda, S. 157.

87 Vgl. Niederschrift des Protokolls der Besprechung bei Oberpräsident Noske "über die Überleitung der Judengesetzgebung im hannoverschen Rechtsgebiet" vom 12.1.1932 (NHStA

87 Vgl. Niederschrift des Protokolls der Besprechung bei Oberpräsident Noske "über die Überleitung der Judengesetzgebung im hannoverschen Rechtsgebiet" vom 12.1.1932 (NHStA