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Der Aufbau der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover

1. Die Rechtsverfassung der Gemeinde

1.2 Der Aufbau der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover

Zwar gab es in Hannover wie auch in Altpreußen keine wirkliche Gesamtorganisation der jüdischen Religionsgemeinschaft,8 anders als dort existierten jedoch rechtlich verbindliche organisatorische Bindungen der Gemeinden untereinander. In Hannover bestand nämlich eine "Art von Kirchenverwaltungsorganisation",9 die nicht allein aus der allgemeinen staatlichen Aufsichtspflicht gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft resultierte, sondern aus dem Umstand, daß die Pflege des jüdischen Religionswesens Aufgabe des Staates war.10 Inhaltlich bedeutete dies seine Aufsicht über das gesamte

7 Vgl. Esriel Hildesheimer: Jüdische Selbstverwaltung unter dem NS-Regime. Der Existenzkampf der Reichsvertretung und Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Tübingen 1994 (=

Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 50), S. 113; anders Günter Plum: Deutsche oder Juden in Deutschland. In: Die Juden in Deutschland 1933-1945.

Leben unter Nationalsozialistischer Herrschaft. Unter Mitarbeit von Volker Dahm, Konrad Kwiet u.a. hg. v. Wolfgang Benz. 3., durchges. A. München 1993, S. 72.

8 Vgl. etwa A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 56f.; Lothar Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden. Diss. jur. Göttingen 1933, S. 54.

9 A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 57.

10 Vgl. zu diesem Zusammenhang L. Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden, S. 54; A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 57.

In Preußen hatte der Staat nicht die Aufgabe der Pflege des jüdischen Religionswesens (vgl. L.

Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden, S. 54) und er sah sich - wie es Leopold Auerbach ausdrückte - "wegen seiner Unkenntnis der jüdischen Religion gegenüber nicht in der Lage, Entscheidungen hinsichtlich der jüdischen Religionsausübung, insbesondere der Kultuseinrichtungen, zu treffen; er ist deshalb genöthigt, das jüdische Kultuswesen den Synagogengemeinden bzw. ihren Vertretern allein zu überlassen und sein Oberaufsichtsrecht darauf zu beschränken, daß diese Einrichtungen nicht polizeiwidrige seien und den staatsbürgerlichen Pflichten der Gemeindemitglieder keinen Abbruch thun." (L. Auerbach: Das Judenthum und seine Bekenner in Preußen, S. 329).

Das Fehlen einer organisatorischen Verbindung zwischen den autonomen Gemeinden in Preußen bedeutete auch, daß es keine Institution gab, die über die Einheitlichkeit des Kultus wachte, so daß "so viel Sekten möglich [wären], wie Synagogengemeinden vorhanden sind, und alle könnten den Anspruch darauf erheben, das wahre Judentum im Lehrsinne zu vertreten." (A.

Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 55f.).

Synagogen-, Schul- und Armenwesen.11 An der Spitze dieser

"Kirchenverwaltungsorganisation"12 standen die Regierungspräsidenten, vor der preußi-schen Verwaltungsreform von 1885 die Landdrosten und in letzter Instanz der Oberpräsident beziehungsweise das Ministerium des Innern. Zum Zweck der Staatsaufsicht und der Verwaltung der Angelegenheiten der Synagogengemeinden war Hannover in vier Landrabbinate, nämlich Emden, Hannover, Hildesheim und Stade, ein-geteilt, die voneinander völlig unabhängig waren.13 Ein organisatorischer Zusammenhang der gesamten jüdischen Religionsgemeinschaft der Provinz bestand also nicht. Die Landrabbiner übten unter Leitung der Regierung die Aufsicht über die Gemeinden neben den Ortsobrigkeiten aus, also den Magistraten und Landräten.14 Die Gliederung in Landrabbinate war ein besonderes Charakteristikum des hannoverschen Rechts.15

Damit aus einer Kultusgemeinde im religiösen Verständnis eine Synagogengemeinde im rechtlichen Sinne wurde, mußten ihr vom Staat der Charakter einer juristischen Person und Hoheitsrechte verliehen werden.16 Aufgrund ihres Korporationsrechtes,17 einen Status, den sie mit dem Gesetz von 1842 erlangt hatten,18 besaßen die Gemeinden die "Rechtsfähigkeit auf dem Gebiete des Privatrechts und insbesondere auf dem des Vermögensrechts"19, so daß sie zum Beispiel Eigentum und Vermögen erwerben und als Erben und Legatare auftreten konnten.20 In dieser Hinsicht war ihr Status mit dem christlicher Gemeinden durchaus zu vergleichen.21

Auch übten sie durch ihre Organe ein Aufsichts- und Disziplinarrecht aus, wobei letz-teres dem Landrabbiner als obersten geistlichem22 Organ übertragen war.23 Sie besaßen

11 L. Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden, S. 54.

12 Vgl. zu diesem Begriff A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 57.

13 Ebenda, S. 57f.

14 L. Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden, S. 54.

15 Nach ebenda, S. 63; vgl. auch A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 71.

16 Vgl. ebenda, S. 90f.

17 In der juristischen Literatur finden sich unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Synagogengemeinden im Königreich, bzw. der späteren Provinz Hannover als Korporationen öffentlichen Rechts (so etwa L. Auerbach: Das Judentum und seine Bekenner in Preußen, S. 334;

ebenso I. Freund: Die Rechtstellung der Synagogengemeinden, S. 6) oder nur als "private Korporationen" (so A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 91) gelten können, wenngleich sie sich - wie A. Loeb dennoch hervorhob - von "gewöhnlichen juristischen Personen des Privatrechts unterscheiden" (A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 91) würden.

18 A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 91.

19 Ebenda, S. 93.

20 Formulierung in Anlehnung an R. Sabelleck: Jüdisches Leben in einer nordwestdeutschen Stadt, S. 163; vgl. auch A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 93.

21 Vgl. allgemein hierzu auch A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 92f.

22 Vgl. hierzu ebenda, S. 86f.; vgl. auch Lothar Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden; S. 60ff.; bes. S. 62.

23 Vgl. hierzu und zu weiteren Rechten A. Loeb: Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 90ff.; vgl.

auch L. Auerbach: Das Judenthum und seine Bekenner in Preußen, S. 334

nicht nur das Recht, von den Gemeindemitgliedern Steuern zu erheben,24 sondern auch gegebenenfalls säumige Zahlungen durch den Staat zwangsweise einziehen zu lassen.25 Der Vorteil dieses Rechts zur Zwangsvollstreckung war, langwierige und kostspielige Gerichtsverfahren zu vermeiden.26

In der zeitgenössischen rechtsgeschichtlichen Literatur wird wiederholt an der starken Position der Landrabbiner Kritik geübt. L. Auerbach meint etwa, der Landrabbiner, for-mell ein untergeordneter Beamter, habe aufgrund seiner Sachkenntnis einen weit über seine Stellung hinausgehenden Einfluß, da der Regierung, die die höchste Instanz in allen jüdisch-kirchlichen Fragen sei, die notwendigen Kenntnisse hierzu fehlten. Daher sei sie bei ihren Entscheidungen auf seine Gutachten angewiesen. Ferner könnten die Rabbiner weder von den Gemeindevertretern, Gemeindeversammlungen noch von einer sonstigen Vertretung der Laien kontrolliert werden.27 Letzteres war sicher zutreffend. Nur zeigte sich in den Verhandlungen über die Veränderung der Rechtsverhältnisse der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Provinz Hannover, daß dies kein bestimmendes Thema war. Im Zentrum der Kritik standen vielmehr die Kontrollbefugnisse der Landrabbiner.28

Ein Einfluß der Landrabbiner auf die Behörden bestand gewiß dann, wenn es darum ging, Fragen zu entscheiden, die das jüdische religiöse Leben betrafen – allerdings nur in den Fällen, in denen nicht zugleich die Interessen der Behörden berührt waren. Deutlich wird dies zum Beispiel in dem noch zu schildernden Versuch des Magistrats, einen Teil des Hildesheimer jüdischen Friedhofes in der Teichstraße zu bebauen.29 Hier gab es ein-deutige Stellungnahmen des Landrabbiners, aus denen klar hervorging, daß ein solcher Plan dem jüdischen Ritualgesetz vollkommen entgegenstehe. Nur haben diese Einwände das Vorhaben des Magistrats schließlich nicht verhindern können.

Speziell für das Hildesheimer Landrabbinat ist daneben noch etwas anderes zu beden-ken: Es ist in seiner Form von einigen Bezirksgemeinden immer wieder in Frage gestellt worden. Ein Rückhalt für den Rabbiner dürfte es hier oft nicht gegeben haben. Seine Autorität und sein Einfluß sollten daher nicht überschätzt werden.

24 A. Loeb. Die Rechtsverhältnisse der Juden, S. 92.

25 Vgl. ebenda, S. 92; L. Auerbach: Das Judenthum und seine Bekenner in Preußen, S. 334.

Vgl. zu den Vorteilen Max P. Birnbaum: Staat und Synagoge 1918-1938. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden. Tübingen 1981 (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 38), S. 4.

Für Hildesheim sind mehrere solcher Zwangsverfahren belegt (vgl. zur Einziehung rückständiger Grabstellengebühren StA Hildesheim Best. 102, Nr. 9122).

26 Vgl. M. Birnbaum: Staat und Synagoge, S. 4.

27 Nach L. Auerbach: Das Judenthum und seine Bekenner in Preußen, S. 338f.; vgl. die ähnliche Kritik bei L. Lazarus: Die Organisation der preußischen Synagogengemeinden, S. 62f.

28 Vgl. II, Kap. 1.3.

29 Vgl. StA Hildesheim Best. 101/ 321, Nr. 17; vgl. auch II, Kap. 6.2.