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Jakob Guttmann (1874-1892)

5. Die Hildesheimer Rabbiner

5.2 Jakob Guttmann (1874-1892)

Sein Nachfolger Jakob Guttmann9 ist der überregional wohl bedeutendste Landrabbiner gewesen, den die Hildesheimer Gemeinde im 19. und 20. Jahrhundert besaß. J.

Guttmann wurde am 22.4.1845 in Beuthen geboren. Von 1861 an studierte er in Breslau.10 Seine theologische Ausbildung genoß er an dem bis dahin einzigen Rabbinerseminar auf 'deutschem' Gebiet, dem religiös eher konservativ eingestellten, 1854 begründeten Breslauer Seminar. Daneben studierte er Philosophie an der dortigen Universität. Am Seminar hatte er berühmte Lehrer, darunter etwa dessen Gründer Zacharias Frankel sowie den Historiker Heinrich Graetz, den Verfasser der ersten Gesamtgeschichte des jüdischen Volkes. 1870 erlangte er das Rabbinerdiplom, die Prüfung hierfür bestand er mit 'vorzüglich'. Offenbar trat er schon in seiner Studienzeit – wie ein erhaltenes Gutachten seines Lehrers Z. Frankel zeigt11 – als Prediger hervor. Die Annahme dieser liturgischen Neuerung ist ein erstes Indiz für die Nähe J. Guttmanns zur religiösen Reform, die auch später in seiner Zeit als Rabbiner in Hildesheim nachzuwei-sen ist.

Vor dem Abschluß seiner theologischen Studien promovierte J. Guttmann 1868 an der Breslauer Universität mit einer preisgekrönten Schrift über die Beziehung von Spinoza und Descartes. Religionsphilosophie, später insbesondere jene des Mittelalters blieb eines seiner Hauptarbeitsgebiete. Die 'Jüdische National-Biographie' nennt ihn einen

"der bedeutendsten Forscher auf dem Gebiete der jüdischen Religionsphilosophie".12 Ganz offensichtlich verstand sich J. Guttmann nicht nur als religiöser Lehrer und geistliche Autorität, sondern auch im säkularen Sinne als 'Gelehrter'.

Ausdruck seiner außergewöhnlichen Begabung war auch, daß er, gerade etwa fün-fundzwanzigjährig, den Breslauer Rabbiner Joel im Amte vertrat.13 Breslau war allein schon aufgrund seiner Größe eine der bedeutendsten Gemeinden im deutschem

9 Vgl. zu den biographischen Angaben, wenn nicht anders angegeben: Große Jüdische National-Biographie mit mehr als 8000 Lebensbeschr. namh. jüd. Männer und Frauen aller Zeiten und Länder. E. Nachschlagewerk für das jüdische Volk u. dessen Freunde. Hg. v. S. Wininger, Bd. 2, S. 567f.; Karl Schwarz Artikel 'Guttmann, Jacob'. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklop. Handb.

d. jüd. Wissens. Begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner. Bd. 2. Berlin 1929, Sp. 1305; B.

Suler: Artikel 'Guttmann, Jacob'. In: Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7. Berlin 1931, Sp. 743f.; The Universal Jewish Encyclopedia. An Authoritative and Popular Presentation of Jewes and Judaism since the Earliest Times. Ed. by Isaac Landmann.

Vol. 5, S. 136.

10 Vgl. etwa M. Brann: Nachruf auf Jakob Guttmann. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 64. Jg. NF 28. Jg. (1920), S. 2.

11 Belege und Zitate nach dem Gutachten von Z. Frankel in NHStA Hannover Hann. 180 Hild., Nr.

3946.

12 Große Jüdische National-Biographie, Bd. 2, S. 567f.

13 Vgl. Große Jüdische National-Biographie, Bd. 2, S. 568.

Sprachraum und konnte zudem auf eine lange Reihe großer Rabbinerpersönlichkeiten verweisen – zu denen auch Abraham Geiger gehörte.14

Jakob Guttmann trat in Hildesheim erst 1874 sein Amt an, vier Jahre nach dem Tod seines Amtsvorgängers. Die lange Pause bis zur Neubesetzung der Stelle erklärt sich vor allem daraus, weil es zwischen den Gemeinden des Bezirks Streit darüber gab, ob oder in welcher Form das Landrabbinat weiter bestehen sollte.15 Bei der Wahl, die am 1.9.1873 stattfand, hatte er sich bereits im ersten Wahlgang gegen die weiteren Kandidaten, Dr.

Michaelis/ Schwerin und Dr. Wedell/ Posen, klar durchgesetzt.16

Soweit zu sehen, ließ auch er die religiösen Neuerungen, die seine Vorgänger einge-führt hatten, bestehen. So nahm er zum Beispiel selbst Konfirmationen vor.17 In seine Amtszeit fällt auch der Bau einer neuen Schule 1881, für die er sich maßgeblich einge-setzt hatte.18 J. Guttmann engagierte sich im Verein jüdischer Lehrer in der Provinz Hannover19 und gestaltete dessen Arbeit entscheidend mit: Er hielt hier Vorträge über verschiedene pädagogische Themen – über die Stoffauswahl oder über den Umgang mit Schülern. Er bemühte sich daneben auch um die Verbesserung der finanziellen Situation der Lehrer.20

Von Jakob Guttmann ist eine Rede zur Einweihung des jüdischen Schulhauses über-liefert,21 die einige aufschlußreiche Passagen zum Wesen seines jüdischen Selbstverständnisses und dem Verhältnis zur übrigen Gesellschaft enthält. Die Darstellung solch grundlegender Einstellungen auf der Basis einer einzelnen Rede wird gerade einer vielgestaltigen Persönlichkeit wie J. Guttmann kaum gerecht. Mehr als eine

14 Große Jüdische National-Biographie, Bd. 2, S. 393.

15 Vgl. hierzu etwa die Bescheide des Oberpräsidenten vom 19.4.1872 (NHStA Hannover Hann.

122a, Nr. 4220) und der Minister des Innern und der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom 19.3.1873 (NHStA Hannover Hann. 180, Nr. 3946).

16 Vgl. Bericht der Landdrostei an den Oberpräsidenten vom 4.9.1873 (NHStA Hannover Hann.

122a, Nr. 4220).

Leider waren anhand der vorhandenen Nachschlagemöglichkeiten keine biographischen Hinweise zu den übrigen Kandidaten zu ermitteln.

Am 12.3.1874 wurde er auf die getreue Führung seines Amtes vereidigt und einen Tag später durch Oberbürgermeister Boysen im Rahmen einer Feier in der Synagoge in sein Amt eingeführt (Bericht der Landdrostei an den Oberpräsidenten vom 25.3.1874 (NHStA Hannover Hann. 122a, 4220)).

17 Vgl. Lebenserinnerungen von Frau Johanna Meier, Blatt 62 [Das unveröffentlichte Manuskript befindet sich im Privatbesitz von Herrn G. Netzer/ Israel. Eine Kopie dieses Berichts besitzt das Roemer- und Pelizaeus-Museum/ Abteilung Stadtgeschichte. Diese wurde mir von Herrn Günter Hein freundlicherweise zur Verfügung gestellt.].

18 Allgemeine Zeitung des Judenthums. 45. Jg. Nr. 45 vom 8.1.1881, S. 747.

19 Sally Katz: Geschichte des Vereins jüdischer Lehrer in der Provinz Hannover. Aktenmäßig dargest. u. d. Verein z. Feier seines 50jährigen Bestehens gewidmet v. seinem Vorsitzenden.

Nienburg 1913, S. 27ff.

20 Vgl. ebenda, S. 38; S. 39.

21 [Jacob] Guttmann: Rede zur Einweihung des neuerbauten Schulhauses der Synagogengemeinde zu Hildesheim am Simchas-Thora-Fest 5642 (16. Oktober 1881). Hildesheim 1881.

grobe Skizze kann sie nicht sein. Dennoch sei sie versucht, da die Rede wohl nicht nur für J. Guttmann selbst Kennzeichnendes enthält, sondern auch für die Gemeinde: J.

Guttmann war vom Gesamtvorstand als Kandidat für das Rabbineramt ausgewählt wor-den. Daher ist eine hohe Übereinstimmung zwischen seinen Auffassungen und denen der Gemeinde als wahrscheinlich vorauszusetzen. Daß die Ansprache auch für die Gemeinde Kennzeichnendes ausdrückte, dafür ist nicht zuletzt auch ihr Anlaß ein entscheidendes Indiz. Dieser war ein für die Gemeinde bedeutsames Ereignis und Fest. Daher enthielt die Rede wohl kaum Provokantes, sondern sie war vielmehr auf Konsenssuche und -schaffung angelegt.

Patriotische Bekenntnisse und Loyalitätsbekundungen gegenüber Staat und Königshaus finden sich auch in den erhaltenen Stellungnahmen22 seines Vorgängers, Meyer Landsberg. Zudem sind sie für sich genommen wenig aussagekräftig. Ähnliche Einstellungen wurden auch von Orthodoxen,23 die ja an messianischen Vorstellungen – wie etwa der Hoffnung auf die Rückkehr nach Zion – festhielten, geteilt – nicht selten verbunden auch mit einer Identifikation mit der deutschen Kultur.24 Auch für Zionisten war die Loyalität gegenüber dem Staat, in dem sie lebten, eine schlichte Selbstverständlichkeit.25

Die 1881 wohl unter dem Eindruck des verschärften Aufbrechens antisemitischer Tendenzen26 gehaltene Rede J. Guttmanns geht über ein 'bloßes' patriotisches Bekenntnis hinaus. An ihr läßt sich nämlich ein verändertes jüdisches Selbstverständnis erkennen.

Bis zum "Anfang des 19. Jahrhunderts war die Sehnsucht nach Zion und die Rückkehr ins Heilige Land integraler Bestandteil des Glaubens",27 das Prinzip der Einheit von jüdischer Religion und jüdischem Volk stand außer Frage.28 In seiner Rede rückt J. Guttmann deutlich von diesen tradierten Vorstellungen ab, wie das Verwenden von Begriffen wie 'Nation', 'Vaterland' oder 'Volk' zeigt. 'Volk' wird exklusiv für das deutsche verwendet, dem man sich vollständig zugehörig fühlte:

22 M [eyer] Landsberg: Gott und Vaterland. Festrede, gehalten am ersten Tage des Wochenfestes im Jahre 5620, d. i. am 27. Mai 1860, am Geburtstage Sr. Majestät Georg V. Königs von Hannover, in der Synagoge zu Hildesheim. Hildesheim 1861.

23 Hermann Greive: Die politische und nationale Identität der deutschen Juden. In: Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945. Im Auftr. d. Bundesministeriums der Verteidigung zur Wanderausstellung Hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt. 3., erw. u. überarb. A. Herford u.a. 1987, S. 94.

24 Vgl. als Beispiel hierzu etwa ebenda.

25 Vgl. ebenda.

26 Vgl. etwa [J.] Guttmann: Rede zur Einweihung des neuerbauten Schulhauses der Synagogengemeinde, S. 11.

27 Julius H. Schoeps: Die mißglückte Emanzipation. Zur Tragödie des deutsch-jüdischen Verhältnisses. In: Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945. Im Auftr. d. Bundesministeriums der Verteidigung zur Wanderausstellung Hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt. 3., erw. u.

überarb. A. Herford u.a. 1987, S. 97.

28 Vgl. ebenda.

"Trotz mancher schmerzlichen Zurücksetzung, die wir um unseres Glaubens willen erfahren, fühlen wir uns eins mit unserem deutschen Volke und wollen dieses Gefühl als ein heiliges Erbe auch auf unsere Kinder übertragen."29

Ein Hinweis auf das Bestehen eines eigenen jüdischen Volkes dagegen fehlt völlig.

Bemerkenswert ist, daß dies auch für jene Passagen zutrifft, in denen J. Guttmann auf die Aufgaben der Schule bei der Erziehung zum Judentum eingeht.30

Ebenso eindeutig fiel auch sein Bekenntnis zum deutschen Vaterland und Kultur aus:

"Um wie viel freudiger werden wir diesem Rufe Folge leisten, um wie viel heiliger wird uns die Pflicht sein, an dem Wohl und Gedeihen der Gesammtheit mitzuwirken, die wir uns ganz und voll als Söhne unseres deutschen Vaterlandes fühlen und uns in der Liebe zu demselben auch durch das wüste Geschrei jener irregeleiteten Geister nicht erschüttern lassen, die uns als heimathlose Fremdlinge brandmarken wollen. Ja, auch wir reden ebensogut wie die Angehörigen anderer Bekenntnisse in unserem Vaterlande mit unseren Kindern in den Lauten der deutschen Muttersprache; auch wir geben in ihr den heiligsten Empfindungen unserer Seele Ausdruck; auch wir bemühen uns, den Geist und das Herz unserer Jugend an den herrlichen Geistesschätzen des deutschen Volkes zu bilden;

auch in unseren Schulen wird die Jugend in der glorreichen Geschichte unseres Vaterlandes unterwiesen; auch wir führen ihr die erleuchteten Geister und die edlen Heldengestalten des deutschen Volkes und ganz besonders unseres erhabenen preußischen Herrscherhauses vor Augen, um sie mit Liebe und Begeisterung für ihr Vaterland zu erfüllen und sie für den Dienst desselben vorzubereiten."31

Wenngleich der Text deutlich auf antisemitische Vorurteile und Angriffe reagiert, wäre es verfehlt, deshalb J. Guttmann eine innere Überzeugung gegenüber dem Gesagtem abzusprechen.

Allerdings entstünde ein schiefes Bild, würde man außer acht lassen, in welchem Maße er bei aller, auch kulturellen Identifikation zugleich jüdisches Bewußtsein zu stär-ken bestrebt war.32 Etwas anders ist bei einem so exzellenten Kenner jüdischer Kultur auch kaum denkbar. Gekennzeichnet war der innerjüdische Standpunkt J. Guttmanns ferner dadurch, daß er an einer universalistischen Messiasvorstellung festhielt und dem Zionismus ablehnend gegenüberstand.33

29 [J.] Guttmann: Rede zur Einweihung des neuerbauten Schulhauses der Synagogengemeinde, S.

11f.

30 Ebenda, S. 12f.

31 Ebenda, S. 11.

32 Vgl. etwa ebenda, S. 12-14.

33 Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 64. Jg. NF 28. Jg. (1920), S. 257.

Im Jahre 1892 verließ J. Guttmann Hildesheim, um eine Stelle als Rabbiner in Breslau anzutreten. Die Gemeinde gab ihm unter großer Beteiligung ihrer Mitglieder ein Abschiedsfest, auf dem der damalige Vorsteher August Dux die Amtstätigkeit Jakob Guttmanns "feierte" und darauf hinwies, daß sein "Scheiden die Gemeinde so schmerz-lich berührt und in tiefe Trauer versetzt" hätte.34

Jakob Guttmanns neue Wirkungsstätte Breslau war zwar eine Einheitsgemeinde, aber die orthodoxe und die liberale Fraktion besaßen verschiedene Rabbiner35 – Jakob Guttmann wurde Rabbiner der letzteren.36 Auch das spricht für seine – bereits herausge-stellte – Reformbereitschaft. In seiner Breslauer Zeit setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit fort.37 Auch war er zugleich in mehreren jüdischen Verbänden aktiv wie dem Centralverein.38 Zudem er war Vorsitzender des Allgemeinen deutschen Rabbinerverbandes – und damit einer der Vorgänger Leo Baecks.39

Man übertreibt wohl nicht, wenn man Jakob Guttmann nicht nur zu den bedeutendsten Forschern auf dem Gebiet der jüdischen Religionsphilosophie zählt, sondern ebenso zu den zentralen Führungspersönlichkeiten innerhalb des deutschen Judentums seiner Zeit. Am 29.9.1919 starb Jakob Guttmann in Breslau.

J. Guttmann war Mitunterzeichner einer Erklärung des 'Geschäftsführenden Vorstands des Rabbinerverbandes in Deutschland' gegen den Zionismus und seine Zielsetzungen (vgl. Yehuda Eloni: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987 (= Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel-Aviv 10), S. 87).

34 Vgl. hierzu insgesamt Der Gemeindebote. Beilage zur 'Allgemeinen Zeitung des Judenthums'.

56. Jg. (Nr. 11) vom 11.3.1892, S. 3.

35 S. Volkov: Die Juden in Deutschland, S. 31.

36 Bernhard Brilling: Artikel 'Breslau'. In: Encyclopaedia Judaica. Vol. 4. Jerusalem 1971, Sp.

1355.

37 Waren in Hildesheim etwa Werke über Abraham ibn Daud (1879) und über das Verhältnis Thomas von Aquins zum Judentum und der jüdischen Literatur (1891) entstanden, folgte nun z.B. eine Arbeit über die Scholastik des 13. Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judentum und zur jüdischen Literatur (1902) (vgl. zu den Werken J. Guttmanns Encyclopaedia Judaica.

Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7, Sp. 743f.).

Daneben arbeitete er an der 'Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums' mit, ferner an der Herstellung eins Planes für das 'Corpus tannaiticum', der 'Germania Judaica' usw.

(M. Brann: Nachruf auf Jakob Guttmann. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 64. Jg. NF 28. Jg. (1920), S. 4).

38 Ebenda.

39 Max Dienemann: Artikel 'Rabbinerverband in Deutschland'. In: Jüdisches Lexikon, Bd. IV, Sp.

1212.