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Ziel dieser Studie ist es herauszufinden, welche Rolle Gesundheit im Denken und Han-deln von Führungskräften spielt. In eher theoriebezogenen Worten geht es also darum, den gesundheitsbezogenen Anteil im Habitus von Führungskräften zu rekonstruieren.

Damit kristallisieren sich bereits grundlegende Entscheidungen in Bezug auf das For-schungsvorgehen heraus – und führen zur Auswahl der Forschungsmethoden.

Das Rekonstruieren von Habitus geschieht auf der theoretischen Grundlage von Bourdi-eus Habitus-Konzept, aber auf BourdiBourdi-eus theoretische Ausführungen wird über das Ha-bitus-Konstrukt allein hinausgehend zurückgegriffen, denn der Habitus ist eingebettet in seine Theorie der sozialen Praxis, die bereits weiter oben dargestellt wurde. Meuser beschreibt die verdienstvollen Bemühungen Matthiesens, der Bourdieus wissenssozio-logisch angelegte Forschung aus dessen Werk ,Die feinen Unterschiede‘ an die rekon-struktive Forschung anschloss. Matthiesen, so Meuser, bezeichnet Bourdieus eigene Herangehensweise als Habitus-Konstruktionen, da er sowohl qualitativ als auch quanti-tativ forscht, um aber dann mit der primären Auswertung von Fragebögen zu seinen

Ergebnissen zu gelangen: Das seien dann auf dieser Methodenbasis eben Konstruktio-nen. Dennoch sei der notwendige und sinnvolle Schritt zur Rekonstruktion zum Erfas-sen eines Habitus aber machbar. Meuser betont die für die rekonstruktive Forschung wesentlichen Schritte: „Aus der Perspektive einer rekonstruktiven Methodologie ist aber darauf zu beharren, dass das Wirken eines Habitus in der Handlungspraxis erst dann erfasst ist, wenn sich zeigen lässt, wie er sich in fallspezifischen Kontexten dokumen-tiert“ (Meuser, 2007, S. 214).48

Um Daten zu gewinnen, die eine rekonstruierende Forschung erst ermöglichen, wurde hier eine entsprechend verwertbare Methode gewählt. Zur Datenerhebung wurden leit-fadengestützte Interviews mit Vertretern der Zielgruppe Führungskräfte geführt. Vor dem Hintergrund, gesundheitsbezogene Habitualisierungen und Handlungsmuster her-auszuarbeiten, bot sich eine Einzelfallmethode an, bei der in jedem einzelnen Fall (also bei jedem Interview) individuellen Konstruktionen nachgegangen werden kann, um zu einer Rekonstruktion des Habitus der Befragten zu gelangen. Die Kenntnis des Feldes und der Zielgruppe gewährleistete, dass gezielte Fragen und Nachfragen in wenig ge-steuerten Interviews auf professioneller Augenhöhe gestellt werden konnten, was ein freies Sprechen der Führungskräfte ermöglichte. Es konnte auch auf Experten-Ebene gesprochen werden, ohne regelmäßig störende Verständnisklärungen seitens der Inter-viewerin einzufügen, was sich positiv auf den Erzählfluss auswirkte. Der genutzte Leit-faden diente als roter Faden und stellte sicher, dass die zentralen Fragen gestellt wurden.

Der Datengewinnung war eine anschlussfähige Auswertungs- und Interpretationsme-thode anzuschließen, die mit der dokumentarischen MeInterpretationsme-thode gefunden wurde, denn die Rekonstruktion eines Habitus erfordert einen subjektorientierten Blick mit einer ent-sprechend ausgerichteten Methode. Diese muss nicht nur den Blick auf das Subjekt er-möglichen, sondern auf seine Handlungspraxis und das dahinter liegende handlungslei-tende Wissen:

48 Es reiben sich immer wieder Forscher am methodischen Vorgehen Bourdieus, sein Habitus-Konzept zu entwickeln. Da die Vorteile und der zu erwartende Nutzen aber im Vordergrund stehen und bereits schlüssige Erkenntnisse und Möglichkeiten zur zielführenden Arbeit mit Bourdieu gefunden wurde, sollen diese in den Vordergrund gerückt und genutzt werden, wie dies Meuser auch tut. Dieser räumt zwar die Diskrepanz zwischen Bourdieuschen Forschungsmethoden und denen der klassischen rekon-struktiven Forschung ein, kommt aber zum Schluss: „Diese Differenz soll hier jedoch nicht weiter ver-folgt werden; vielmehr ist es die Absicht der folgenden Ausführungen zu zeigen, dass und in welcher Weise die dokumentarische Methode der Interpretation ein Instrumentarium bereithält, mit dessen Hil-fe die Habitustheorie in eine konsequent sinnrekonstruierend verfahrende Empirie umgesetzt werden kann“ (Meuser, 2007, S. 216).

„Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z.T. inkorporierte Orientierungswissen, welches die-ses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert. Den-noch wird dabei die empirische Basis des Akteurswissens nicht verlassen. Dies unterscheidet die dokumentarische Methode von objektivistischen Zugängen, die nach Handlungsstrukturen ‚hinter dem Rücken der Akteure‘ suchen“ (Bohnsack et al., 2013, S. 9).

Doch bietet die dokumentarische Methode mehr als den Zugangsweg. Vor dem Hinter-grund einer verhältnismäßig neuen Fragestellung wie im vorliegenden Fall soll die Me-thode den Prozess des Erkenntnisgewinns möglichst offen gestalten, um nicht mit be-stehenden Theorien oder Erfahrungen (auch des Forschers selbst49) Neues kategorisch auszuschließen. Das gelingt, wenn die Daten nicht mittels zuvor festgelegter Kategorien analysieren werden, wie im Falle einer Inhaltsanalyse. Die Theoriebildung vollzieht sich stattdessen „auf der Grundlage einer Rekonstruktion von Alltagspraxis und Erfah-rungswissen der Erforschten“ (Fritzsche, 2007, S. 38).

Um dies zu erreichen, werden in der dokumentarischen Analyse in mehreren Analyse-schritten Daten (hier: Interviewsequenzen) in Beziehung zueinander gesetzt. Das heißt, im Rahmen von Sequenzanalysen werden Fälle systematisch miteinander verglichen, Übereinstimmungen wie Abweichungen werden genutzt, die schließlich zu einer Ver-allgemeinerung und Typisierung führen. Dabei geht die dokumentarische Methode da-von aus, der Vergleich mehrerer Fälle zu einer Validierung der Daten führt, denn dadurch wird gewährleistet, dass der Forscher seinen eigenen Orientierungsrahmen50 verlassen kann. Der Forschende muss sozusagen den Kopf für neue Muster öffnen.

49 Nohl (2012, S. 6-7) äußert sich zu den Vorzügen der Methode, die er in der Überwindung der soge-nannten Standortgebundenheit des Interviewers/Forschers sieht, die schon mit kleinen Fallzahlen zu überwinden ist: „Hätten wir nur den einen Interviewtext vor Augen, würden wir ihn ausschließlich vor dem Hintergrund unseres eigenen (impliziten und expliziten) Alltagswissens über das jeweilige Thema (…) interpretieren. Die Interpretation wäre stark durch die ‚Standortgebundenheit‘ und ‚Seinsverbun-denheit‘ (Mannheim, 1985) der Interpret(inn)en geprägt. Indem wir nun aber die Sequenzen im ersten Interview (…) mit den — möglicher Weise sich ganz anders gestaltenden — Erfahrungen in einem zweiten und dritten Interview vergleichen, sehen wir das erste Interview nicht mehr nur vor dem Hin-tergrund unseres eigenen Alltagswissens, sondern auch vor dem HinHin-tergrund anderer empirischer Fälle.

Unser Vorwissen wird zwar nicht suspendiert, aber methodisch relativiert (…) Deshalb ist die kompa-rative Analyse der Königsweg des methodisch kontrollierten Fremdverstehens.“

50 Zu den Begriffen der dokumentarischen Methode, so auch dem Orientierungsrahmen nach Bohnsack s.

S. 69ff. zur Methode der Datenauswertung und -interpretation in dieser Arbeit.

her spielen hier neben den Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen auch kontrastierende Fälle eine große Rolle. Erst der Kontrast erlaubt, Typisches (inklusive möglicher Spiel-arten) zu erkennen und zuzuordnen.51

Die dokumentarische Methode unterscheidet dabei zwischen dem, was wörtlich gesagt wird sowie dem, wie etwas gesagt wird. Darin liegt der Schlüssel zum Erkenntnisge-winn: Mit dem Erfassen der Praxis der Einzelnen und dem Vergleich der Praxen der Vergleichsgruppe können Rückschlüsse auf (strukturell) gemeinsame soziale Erfahrun-gen und PrägunErfahrun-gen gezoErfahrun-gen werden, weil der Einzelne diese ErfahrunErfahrun-gen als atheoreti-sches Handlungswissen verinnerlicht. Im Fallvergleich lassen sich daraus kollektive Wissensbestände und Orientierungen sowie habituelle Übereinstimmungen nachzeich-nen, um zu praxeologischen Typen zu gelangen:

„Es gilt, die wissens- bzw. erlebnismäßigen Konstitutionsbedingungen der Orien-tierungsrahmen oder des Habitus von Individuen oder Gruppen zugleich als Pro-dukt und Voraussetzung einer kollektiven Handlungspraxis zu verstehen und in ihrer Prozesshaftigkeit zu rekonstruieren“ (Nentwig-Gesemann, 2007, S. 278).

Das heißt, die Typenbildung folgt der impliziten Logik der nachvollzogenen Praxis (Nohl, 2013, S. 38). Fritzsche sieht darin das Besondere der dokumentarischen Metho-de: Abseits der Bearbeitung von „Einzelschicksalen“ (2007, S. 39) wendet sich die Me-thode deren Verankerung in gemeinsamen bzw. strukturell vergleichbaren sozialen Vor-erfahrungen zu. Auf dieser Grundlage wendet sich diese Arbeit den gemeinsamen Ori-entierungen der Führungskräfte in Bezug auf ihre Gesundheit zu. Laut von Rosenberg (2011, S. 99) lassen sich nur so individuelle Konstruktionen von Gesundheit und die darauf aufbauenden Haltungen und Handlungen erschließen.

Auf der Basis der gefundenen Typiken und gebildeten Typen kann abschließend der gesundheitsbezogene Teil des Habitus der Führungskräfte beschrieben werden, um die gewonnenen Erkenntnisse theoretisch zu reflektieren, zu interpretieren und über die konkreten Ergebnisse der Arbeit hinauszublicken.

51 Vgl. Meuser (2007, S. 220), dem es gelingt, den vermeintlichen Gegensatz der Suche nach Ähnlichkei-ten bzw. Unterschieden schlüssig aufzulösen, der darin begründet liegt, dass die dokumentarische Me-thode nach Gemeinsamkeiten sucht, wohingegen Bourdieu im Habitus zunächst ein Mittel der Distink-tion sieht.