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10. Typologie

10.1 Die Gesundheitstypik

10.1.1 Der Selbstverwirklicher

Grundlage dieses Typs ist die Orientierung am Wohlfühlen-Konzept in der Dimension Gesundheitskonstruktionen, wobei sich das Gemeinsame beim Wohlfühl-Verständnis der Fälle am besten damit beschreiben lässt, dass hinter dieses Wohlfühlen im übertra-genen Sinn ein Doppelpunkt gesetzt wird und die Befragten dahinter ein eigenes Refe-renzsystem für ihre Gesundheit setzen. Dieses liegt außerhalb der Orientierungen von rein messbarem Funktionieren, von Leistungsfähigkeit oder auch der Abwesenheit von Krankheit als Kriterium für Gesundheit. Wohlfühlen verweist auf etwas, das hinter dem Begriff steht.

Obwohl Wohlfühlen als Begriff in zwei Fällen nicht explizit vorkommt, passt die Orien-tierung auch da insofern, als dass das Gesagte entsprechend dieser Kategorie interpre-tiert werden kann: Eine positive, als angenehm empfundene Gefühlslage wird als we-sentlicher Bestandteil von Gesundheit für den Betreffenden dargestellt.

In der zweiten Dimension, dem Muster des Gesundheitshandelns, ist es die Orientie-rung des reagierenden Gesundheitshandelns, das durchgängig auszumachen ist. Reakti-on heißt dabei, alle Befragten wurden durch besReakti-ondere Impulse, also Ereignisse dazu angeregt, ein dem Auslöser entsprechend abgeleitetes Gesundheitshandeln an den Tag

zu legen. Erneut decken sich hier die Aussagen der Befragten nicht, inwiefern welcher Impuls wozu führt, aber hier geht es um den strukturellen Vergleich.

Es gibt zwei Fälle, die einer weiteren Erklärung bedürfen, weil ihre Reaktionen bzw. ihr Handlungsmuster sich strukturell nicht genau mit dem der anderen deckt. Es sind dar-über hinaus die einzigen beiden Führungskräfte, die sich (unter anderem) in der Orien-tierung ‚Ausbleiben von Gesundheitshandeln‘ wiederfinden. Logisch ist es zwar nicht möglich, einerseits Nicht-Gesundheitshandeln als Orientierung eines Falls zu identifi-zieren und daneben im selben Fall weitere Orientierungen, die dann positiv ein Vor-kommen von Gesundheitshandeln belegen, aufzunehmen. Warum solche dennoch hier verortet wurden, sollen die weiteren Ausführungen erklären.

Herr Werner ist mit den formulierten Vorsätzen, die aber von ihm zugegebenermaßen nur sporadisch umgesetzt werden, dort mit seiner Orientierung eingeordnet worden. Er hat durch das einmal für ihn bedeutsam erlebte Kranksein (und der damit verbundenen Krankschreibung) einen Impuls erfahren, der ihn zu der Erkenntnis führte, ein anderes, achtsameres Gesundheitshandeln pflegen zu müssen. Im Spannungsfeld mit einer weite-ren habituellen Disposition, die „Pflichterfüllung“ vor die eigene Gesundheit positio-niert, konnte er für sich noch kein systematisches, an dieser Erkenntnis gereiftes Ge-sundheitshandeln entwickeln. Seine Vorsätze sich mehr zu bewegen bspw. beschreibt er so: „Also in einer regelmäßigen Unregelmäßigkeit, so kann man es eigentlich beschrei-ben. Also dann, wenn Zeit ist, dann wenn die Kraft und die mentale Einstellung aus-reicht“ (Werner, 195), wobei er Letzteres dann selbst durch die oben angesprochene Einstellung zur Pflichterfüllung einschränkt. Durch den erfolgten Impuls und die im-merhin sporadische Umsetzung der Erkenntnisse erfolgte die Zuordnung zu dieser Ori-entierung. Allerdings wurde er durch das prinzipiell doch ausbleibende Handeln als Konsequenz der habituellen Arbeitshaltung gleichermaßen der Orientierung ‚Ausblei-ben‘ zugeordnet.

Herr Ehrmann wurde aus ähnlich ‚grenzgängerischen‘ Gründen in beide Orientierungen eingruppiert. Er formuliert die Gründe selbst, die zu einem konsequenten Gesundheits-handeln führen sollten, wie das Erleben, dass er heutzutage beim Lauf zur abfahrenden Bahn schneller außer Atem ist als früher oder belastungsbedingte Symptome („Flackern vor den Augen“). Er reagiert insofern, als er die im Unternehmen angebotenen Gesund-heitschecks für Führungskräfte nutzt und sich durch die positive Rückmeldung

beruhi-gen lässt. Proaktives Gesundheitshandeln als Reaktion auf die spürbar nachlassende Ausdauer, die er bspw. beschreibt, als er die Bahn noch erreichen wollte, erfolgt nicht.

Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als er mehr als die meisten anderen Führungs-kräfte dafür sensibilisiert sein müsste, weil er mit einer nur kurzen Lebenszeit verhei-ßenden Herzkrankheit zur Welt gekommen ist. Dies könnte als Auslöser im Leben er-fahren werden, der durchaus das Potenzial hat, Gesundheitshandeln zu fördern oder bei dem aktives Gesundheitshandeln zumindest als naheliegend erscheint. Aber in den ei-genen Begründungen, was Gesundheitshandeln auslösen sollte, finden sich andere aktu-ellere Auslöser. Hier könnte auf der Suche nach Erklärungen ein weiterer Blick in den Fall geworfen werden: Die Einstellung, dann gesund zu sein, wenn man sich so fühlt oder jeder Situation (auch in der Krankheit) etwas Positives abzugewinnen, scheint hier maßgeblich und das abzubilden, was für diese Führungskraft unter Gesundheitshandeln zu sehen ist. Da dies an dieser Stelle zu sehr in Richtung der Einzelfall-Analyse gehen würde, soll der Hinweis auf eine besondere Habitualisierung genügen. Damit sind die beiden durchgängig festzustellenden Orientierungen als tragendes Element der relatio-nalen Typenbildung beschrieben.

In der dritten Dimension, den Treibern des Gesundheitshandelns, bestimmt die Ori-entierung ‚Innen‘ den Selbstverwirklicher.

Der Innentreiber, wie zuvor (vgl. S. 122) ausführlich beschrieben, beinhaltet drei Orien-tierungen. Neben dem bereits als wesentlich beschriebenen ‚Wohlfühlen‘ sind das: das Anliegen, etwas zu (er)schaffen sowie Freude oder Spaß bei dem zu erfahren, was gera-de die Tätigkeit ist. Der letztgenannte Begriff steht hier bewusst an gera-der Stelle von Job, Beruf oder Aufgabe, weil er das eigenbestimmte Aktivwerden betonen soll. Dieser Ausdruck wurde von einer der Führungskräfte übernommen, die genau dies betont – die Befriedigung aus einer schaffenden Tätigkeit, die auch nicht unmittelbar mit dem Beruf einhergehen muss.

Durch die vergleichende Arbeit stellte sich bei der Datenanalyse heraus, dass das bereits zuvor beschriebene und in einer Dimension als Orientierung erkannte Wohlfühlen eine weitere Bedeutung erhält: Im Kontext der individuellen Konstruktionen kam es zwar zunächst in Gestalt eines Bestandteils davon daher. In der dritten Dimension zeigt sich nun Wohlfühlen jedoch nicht nur im Sinne eines Bestandteils einer individuellen

Kon-struktion, sondern auch im Sinne einer Handlungsorientierung aus einem inneren Anlie-gen heraus.

Das Typische an der Innen-Orientierung wurde erst dann sichtbar, als sich eine kontras-tierende Orientierung (‚Außen‘) zeigte. Daher werden zur Beschreibung der Orientie-rung hier die Kontraste dargestellt: Das kontrastierende Moment zwischen der Innen- und Außenorientierung lässt sich genauer damit beschreiben, dass der Innentreiber in der Darstellung der Führungskraft auf sich selbst zurückverweist: sich wohlfühlen, Be-friedigung in einer Sache finden. Das deutet auf das eigene Anliegen hin, auch wenn es soziale Auswirkungen hat oder Wechselwirkungen zu erkennen sind. Vor dem Hinter-grund, diese Bestrebungen auch in feldbezogenen, also in bestimmten sozialen Kontex-ten zu verwirklichen, ist es naheliegend, dass das persönliche Streben auch Auswirkun-gen im Umfeld hat. So hat zum Beispiel aktives Gesundheitshandeln in Form von festen Sportzeiten unter Umständen Einfluss auf die Planung von Terminvereinbarungen mit Kollegen.

Die kontrastierenden Fälle zeigen eine deutlich stärkere soziale Ausrichtung in der Handlungsorientierung ihres Treibers. Das heißt, sie setzen sich auf unterschiedliche Weise erkennbar in Beziehung zu bestimmten Akteuren und richten ihr Handeln danach aus. Sie orientieren sich daran, aber das heißt nicht, dass sie ihr Tun den Vorstellungen anderer anpassen, also eigene Wünsche zwingend nachordnen. Herr Werle betrachtet beispielsweise Gesundheitshandeln im Sinne einer Investition, die er entsprechend be-wertet und einsetzt. In der Logik von Kapitaleinsatz und Ertrag soll sich der Einsatz lohnen. Hier geht es um eine Investition aus dem Kapitalstock Gesundheit. Das meint, durch hohe quantitative (Zeit) wie qualitative (wenig Freizeit, Überstunden usw.) Inves-titionen aus diesem Kapitalstock heraus wird dieser bewusst verringert – in der Berech-nung entsprechender Rückzahlung. Hier wird Gesundheitshandeln also unter anderen Vorzeichen betrachtet. Dieser Fall entspricht einer Logik, etwas vom aktuellen Kapital abzugeben, um im Feld etwas zu erreichen, statt es als Ressource zu betrachten, die zur Möglichkeit des Kapitaleinsatzes überhaupt erst führen kann. Deshalb wäre dieses eher nachhaltig zu pflegen bzw. auch als Ressource vorzuenthalten, um leistungsfähiges Ar-beiten langfristig zu gewährleisten. Die Außenorientierung drückt sich also im Investiti-onsgeschäft aus, das naturgemäß einen Handelspartner bzw. einen Abnehmer involviert.

Im Fall Werner, der zuvor bereits im Zusammenhang mit dem Ausbleiben von Gesund-heitshandeln erwähnt wurde, ist die Zuordnung zu einem Treiber nicht so eindeutig.

Denn während des gesamten Interviews spricht er immer wieder davon, „stimmig“ han-deln zu wollen. Auch er hat sein eigenes Referenzsystem entwickelt, wobei dies nicht bedeutet, dass es jenseits der Einflüsse Dritter liegt. Prägungen aus dem Elternhaus be-nennt er klar und von sich aus, woraus er für sich im Laufe der Jahre ein System entwi-ckelt hat, dass sein Handeln leitet. Dieses handlungsleitende System von Einstellungen, Werten und „Tugenden“, wie er an einer Stelle ausdrückt, stellt sich im Interview als ausgesprochen strukturiert dar. Strukturgebend sind dabei Aspekte, die sehr unmittelbar an ein ‚Außen‘ anschließen. So hängen seine Entscheidungen für oder gegen ein Ge-sundheitshandeln davon ab, ob er in der Lage ist, ein bestimmtes Leistungsvermögen abzurufen. Dieses kann er prozentual benennen und leitet daraus den eigenen Anspruch an seine Arbeitsfähigkeit ab. Arbeits- und leistungsfähig zu sein geht über den An-spruch an die eigene Person hinaus. Er erweitert diesen zur gesellschaftlichen Größe und erklärt, man habe die „Pflicht“ im Sinne der Ressourcenpflege etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Zum Handlungstreiber gesellt sich unter derselben Überschrift ein Handlungsverhinderer, der sich ebenfalls wieder am „Außen“ orientiert und ausschlag-gebend dafür war, diesen Fall als kontrastierend im Sinne des Haupttyps einzuordnen.

Herr Werner würde eher ein Gesundheitshandeln zeigen, wenn er eine Befugnis von einem Erlauber von außen erhielte, also bspw. im Falle einer sichtbaren Erkrankung explizit ermuntert oder sogar aufgefordert werden würde, nun für sich zu sorgen.

So ist zu erklären, wie sich ein Fall, bei dem sich ein dezidiertes Referenzsystem ausge-bildet hat und entlang explizit dargelegter Werte und Ansprüche agiert wird, in die Di-mension ‚Außentreiber‘ einzureihen ist.

Schließlich bringt das Kontrastieren den aufschlussreichsten Fall dieser Dimension zum Vorschein, der darüber hinaus in seinen möglichen Folgerungen sogar insgesamt als herausragend zu betrachten ist. Der Fall Althaus wurde oben bereits skizziert. Das, was ihn in der vergleichenden Typenbildung so wertvoll und aufschlussreich macht, ist die fall-immanente Veränderung einer zentralen Dimension: Durch ein Ereignis entspre-chend der Orientierung „Reaktion“ in der zweiten Dimension (Muster des Gesundheits-handelns) erhält sein Habitus einen Transformationsimpuls von einer Außen- zu einer Innenorientierung. Die Führungskraft, die einst ihre Gesundheit und ihr Gesundheits-handeln deutlich hinter den vermeintlichen Erwartungen und Erfordernissen des Berufs priorisiert hat, also im ‚Außen‘ verharrt, erfährt eine Erschütterung des Habitus.

Dadurch setzt ein Bewusstwerden dessen ein, wodurch er sich zukünftig neu orientiert:

an einem nun ebenfalls herausgebildeten eigenen Referenzsystem, das in höchstem Ma-ße erfahrungsgeleitet ist und situativ immer wieder herangezogen wird. Die Frage nach den erklärenden Zusammenhängen liegt hier auf der Hand und hat die Fragestellungen im Zuge der Typenbildung maßgeblich beeinflusst.

Die vierte Dimension entwickelte sich strukturell ähnlich wie die dritte: Es wurde eine zentrale Orientierung ausgemacht: das umfassende Übernehmen der Verantwortung für das eigene Gesundheitshandeln. Das mag selbstverständlich klingen, doch die Durchgängigkeit mit der dieses Thema, auch ohne explizit angesprochen worden zu sein, Raum einnahm, war beachtlich und führte zur einer genaueren Betrachtung, die dann über feine Kontrastierungen die Typisierung stützte. Keineswegs unterstrichen alle Führungskräfte gleichermaßen nachdrücklich ihre vollumfängliche Eigenverantwortung hinsichtlich ihres Gesundheitshandelns. In zwei Fällen wurden Abweichungen sichtbar.

Auch in dieser Dimension soll zum Hervorheben des Haupttyps auf die Ausgestaltung der kontrastierenden Fälle eingegangen werden.

Auf die Frage, wer in seinen Augen für die Gesundheit einer Führungskraft verantwort-lich ist, reagiert Herr Ehrmann prompt, was den Eindruck vermittelt, seine Haltung im Formulieren noch anzupassen: „MIT auch der nächste Vorgesetzte. UND natürlich die Führungskraft auch selber, indem sie auch ein Signal setzt zum nächsten Vorgesetzten:

das funktioniert jetzt so nicht. Also BEIDE“ (Ehrmann, 230). Diese vermittelnde Zu-schreibung von Verantwortung ist besonders, denn der nächste Vorgesetzte, üblicher-weise auch eine Führungskraft, wird nur bei ihm sowie bei noch einem zweiten Ge-sprächspartner genannt.

Der zweite besonders liegende Fall zeigt ein defensives Sorgetragen für sich. Die Erzäh-lungen von Herrn Werle lassen kaum darauf schließen, dass er proaktiv die Verantwor-tung für sein Gesundheitshandeln übernimmt. Er sieht über seine Rolle im Unternehmen (und seine oben beschriebene kapitalisierende Haltung) seine Gesundheit grundsätzlich investiert und in Anspruch genommen. Daraus resultiert für ihn die defensive Haltung:

darauf achten, dass nicht zu viel davon genommen wird und dass die Bilanz stimmt.

Diese Haltung entspricht nicht der proaktiven gesundheitsförderlichen Haltung bei der Mehrzahl der interviewten Führungskräfte, die ein eigenmotiviertes Bestreben zum Ge-sundheitshandeln zeigen (entsprechend der dargestellten Treiber und Muster).