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6. Methode der Datenauswertung und -interpretation

6.4 Das Vorgehen der relationalen Typenbildung

Der Unterschied zwischen der klassischen dokumentarischen Methode mit ihren sozio-genetischen Typen und den relationalen Typen liegt in der verschiedenen Vorgehens-weise nach der Bildung der sinngenetischen Typen. Wenn hiermit herausgearbeitet ist, in welchen unterschiedlichen Orientierungen sich die Interviewten bewegen, verlässt Nohl den klassischen Weg der dokumentarischen Methode, die im nächsten Schritt die Erarbeitung der sozialen Zusammenhänge und deren Genese vorsieht: Vor dem Hinter-grund noch offener Zusammenhänge, ggf. quer zu den gesellschaftlichen Differenzkate-gorien (Nohl, 2013, S. 55), werden die erfassten Orientierungen in Dimensionen neben-einandergelegt und regelmäßige Verbindungen zwischen ihnen herausgearbeitet (exemplarische Dimensionen: vgl. ebd., S. 56).

Dann werden in einem zweiten Schritt die Verbindungen zwischen einer typisierten Orientierung der einen Dimension mit einer ebenfalls typisierten Orientierung einer weiteren Dimension gesucht. Wichtig dabei ist, dass hier der Weg zurück über den Ein-zelfall verläuft, da derartige Verbindungen nicht abstrakt als gegeben angenommen werden können, sondern am konkreten Fall rekonstruiert werden müssen (ebd., S. 58).

Sobald es gelingt, mehrere derartige Verbindungen von Orientierungen zwischen den Dimensionen festzuhalten, kann der Weg vom Einzelfall zurück zur abstrakten Typisie-rung führen (ebd., S. 58).

Schließlich, und hier liegt der Erkenntnisgewinn der Methode, sind die Relationen nicht nur nachzuzeichnen, sondern in ihrer Sinnhaftigkeit zu erklären. Damit ist die Chance gegeben, neue soziale Zusammenhänge zu erfassen und zu beschreiben (ebd., S. 58).

Dieses Vorgehen und diese Entscheidung zur Modifizierung der Methode entspricht nicht dem „aus der Not“ Geborenen, wie es Nohl in Bezug auf seine erste Anwendung der Methode beschreibt (ebd., S. 55). In seiner Studie, die die Entwicklung dieser Me-thode hervorbrachte, schlug die geplante soziogenetische Typenbildung fehl. Bei der vorliegenden Studie ist die Ausgangslage eine andere: Hier scheint mit dem Einsatz der Methode eine Chance geboten, um sich angemessen dem komplexen Forschungsgegen-stand zu nähern. Denn wie zuvor im Zuge des ForschungsForschungsgegen-stands dargestellt, bieten die bisherigen Annäherungen an das Thema noch keine Erklärungen zum Gesundheitshan-deln von Führungskräften und dessen sozialen Entstehungszusammenhängen.

Die Mehrdimensionalität der dokumentarischen Methode und die Dimensionalität des Habitus

Der Entschluss mit der dokumentarische Methode zu arbeiten oder sich auch nur an dieser zu orientieren, ist leichter gefasst als ausgeführt, denn mit dem zunehmend inten-siveren Befassen damit und den Projekten, die mittels der Methode bearbeitet wurden, zeigte sich, dass sich auch die dokumentarische Methode im Laufe der Zeit entwickelt hat. Ihr maßgeblicher ‚Ziehvater‘, Ralf Bohnsack, hat im Laufe der Zeit die verwende-ten Begriffe angepasst und sein Modell dementsprechend auch modifiziert.

Der Kern der Methode wurde zuvor bereits skizziert. Durch die nicht immer einheitliche Verwendung von Begriffen und dem damit einhergehenden abweichenden Umgang mit der Methode entsteht Erklärungs- oder Abgrenzungsbedarf. Daher folgen hier zunächst ergänzende Erklärungen zu Bohnsack und ‚seiner‘ dokumentarischen Methode. Dabei werden die Begriffe aufgeschlüsselt, mit denen er operiert. Zentral ist, dass Bohnsack zunächst den Orientierungsrahmen mit dem Habitus gleichsetzt und darin das konjunk-tive Wissen bzw. die Strukturierung der Handlungspraxis sieht (vgl. Bohnsack, 2013, S.

81). In anderen, älteren Veröffentlichungen spricht er gleichbedeutend im Wechsel vom Orientierungsrahmen oder von Orientierungsmustern oder -figuren (vgl. Bohnsack,

2007, S. 233-234). Dann kann der Orientierungsrahmen aber auch bereits einem Typus entsprechen, nämlich dann, wenn dieser bei mehreren Fällen zu erkennen ist. Dieser übereinstimmende Orientierungsrahmen heißt dann ‚Basistypik‘, wenn er als grundle-gend für die weitere Auswertung betrachtet wird (vgl. Bohnsack, 2007, S. 237).

Für den Studien vergleichenden Leser wird es dann begrifflich schwer fassbar, wenn Nohl, der auf den Ansätzen von Bohnsack aufbauend forscht, in Studien zur dokumen-tarischen Methode nur von Orientierungen statt Orientierungsrahmen spricht oder in anderen abwechselnd von beiden, wobei beides dem eigentlichen Orientierungsrahmen nach Bohnsack entsprechen. Das wird klarer, wenn man die Methode in ihrer Entwick-lung betrachtet. So zitiert Nohl 1996 Bohnsack wiederum aus dem Jahre 1989 mit ei-nem Ansatz zu den „kollektiven Orientierungen“, wobei sich aus dem Kontext bereits andeutet, dass diese nur der begriffliche Vorläufer zu der später aufkommenden Be-zeichnung Orientierungsrahmen ist (vgl. Nohl, 1996).

In heute aktuellen Arbeiten (vgl. Bohnsack, 2013) differenziert er klar(er) zwischen Orientierungsrahmen im engeren oder weiteren Sinn und dem Habitus, was dem Begriff des Orientierungsrahmens das Anschließen an andere Konstrukte erleichtert (wie z.B.

dem der Rolle).

Abbildung 2: Darstellung von Orientierungsrahmen bei Bohnsack mit entsprechendem Bezugsrahmen (Bohnsack 2013, S. 182)

Von Rosenberg wiederum baut auf Bohnsack und Nohl auf und lehnt in einer Arbeit die Verwendung des so zentralen Begriffs des Orientierungsrahmens kategorisch ab, was er folgendermaßen begründet:

„In der Folge wird aus Gründen der metatheoretischen Anschlussfähigkeit zum Feldbegriff mit dem Habitusbegriff gearbeitet und nicht wie in der dokumentari-schen Methode oft gebräuchlich mit dem Begriff des Orientierungsrahmens. Da-bei wird in der Folge nicht von einem Habitus, sondern von unterschiedlichen Habitusformen gesprochen. Dies soll anzeigen, dass habituelle Muster immer mehrdimensional strukturiert sind, beispielsweise durch die unterschiedlichen Dimensionen von Generation, Milieu und Geschlecht“ (von Rosenberg, 2008, S.

277).

Bei von Rosenberg kommt auch gleich der Aspekt der Mehrdimensionalität des Habitus zur Sprache, die er als unterschiedliche Erfahrungsräume ansieht, die „unterschiedliche Logiken von Praxis versammeln“ (von Rosenberg, 2011, S. 78) und damit zu einem mehrdimensional angelegten Habitus führen: „Ein Habitus kann also als ein mehrdi-mensionales Überlagerungsverhältnis von unterschiedlichen Logiken der Praxis gesehen werden“ (ebd., S. 79).

Die Mehrdimensionalität des Habitus hat sich als diskussionswürdig und -bedürftig her-ausgestellt, was auch Bremer und Teiwes-Kügler (2010) aufdecken, um dann selbst einen ganz neuen Begriff einzuführen, indem sie von Habitus als „Syndrom“ sprechen.

Dabei knüpfen sie nach ihren eigenen Worten an Adornos Syndromkonzept an. Die Art, wie Adorno ein soziales Syndrom anlegt (= das Zusammenfügen verschiedener Züge und Dispositionen zu einem Typ, um dies zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufü-gen), übernehmen sie auch für ihre Auffassung des Habitus (ebd.). Typenbildung erfolgt nach ihrem Ansatz über die Exploration von Habitusmustern. Auf den Habitus des Ein-zelnen bezogen gibt es bei ihnen dann die einEin-zelnen Habituszüge, die in Summe den Habitus ausmachen.

Wenn Bremer und Teiwes-Kügler ihren eigenen Ansatz vom demjenigen Bohnsacks abgrenzen, wird die Herangehensweise beider noch einmal anschaulicher – und eine eigene Forscherhaltung kann sich quasi als Synthese herausbilden. Die beiden sehen ihre Methode zur Bildung von Habitustypen durchaus in der Nähe der

dokumentari-schen Methode zu verorten, doch sie zeigen deutliche Unterschiede auf, die sich zuerst mit einer diametralen Ausgangslage beschreiben lässt: Wo Bohnsack auf der Basis von verschiedenen Erfahrungsräumen Orientierungsrahmen an Orientierungsrahmen fügt (also damit Habitus an Habitus, folgt man seinem Verständnis sehr wörtlich) und so zu einer mehrdimensionalen Typologie kommt, da kommen Bremer und Teiwes-Kügler von der anderen Seite: Für sie ist die Mehrdimensionalität schon im Habituskonzept selbst enthalten, also der eine Habitus ist an sich mehrdimensional angelegt – und ergibt sich nicht erst aus der Betrachtung unterschiedlicher Felder oder Erfahrungsräumen (vgl. Bohnsack, 2013, S. 195).

Diesem Ansatz wird auch in dieser Arbeit gefolgt. Diese genannten Habituszüge ent-sprechen in ihrem Ansatz dem, was in der vorliegenden Arbeit als Facette beschrieben wird.

So wird auch nachvollziehbar, wenn sie den Habitus so zu fassen versuchen, wie es Bourdieu tat: als ‚modus operandi‘, der sich im Wahrnehmen und Handeln selbst ver-mittelt – und an der Klassifikation der Akteure zeigt. Sie brauchen dazu kein Vehikel, wie den Orientierungsrahmen, als Grundlage, auf deren Basis Wahrnehmungen und Handlungsweisen erfahrungsraumspezifisch erfasst, typisiert und dann wieder zusam-mengeführt werden (ebd., S. 270).

Überdies bezweifeln Bremer und Teiwes-Kügler, dass sich durch die strukturelle Tren-nung der Erkenntnisse aus einzelnen Orientierungsrahmen entsprechend aus verschie-denen Erfahrungsräumen letztlich wirklich zielführend ist: „Andererseits stellt sich die Frage, ob bzw. wie die Dimensionen innerhalb der Typen und Typologie wieder zu-sammengeführt werden, was also letztlich dann den Typ ausmacht und von der Typik unterscheidet“ (ebd., S. 270-271).

Erfahrungsräume werden bei Bohnsack dazu genutzt, soziogenetische Typen zu bilden.

Nur auf der Basis einer guten und vergleichbaren Kenntnis der biographischen Ein-schreibemomente können diese entwickelt werden. Da in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Nohls relationale Typenbildung bewusst nach etwas Typischem und nach Verbindungen gesucht werden, die nicht in klassischen soziographischen Kategorien zu finden sind, spielt hier nur der gemeinsame Erfahrungsraum ‚Führungskraft im Unter-nehmen‘ die zentrale Rolle in der Typenbildung. Daher konzentrierte sich die Datener-hebung auf den Status quo des jeweiligen Interviewpartners, der eine Rekonstruktion

des aktuellen Habitus ermöglichen soll. Die Rekonstruktion ist nicht so angelegt, über ein biographisches Interview die Genese eines Habitus detailliert nachzuzeichnen.

Die unterschiedlichen Operationalisierungsansätze zur Rekonstruktion eines Habitus unterstreichen sehr anschaulich, wie komplex ein Habitus angelegt ist. Diese Komplexi-tät aufzubrechen und einen Einblick in eine Facette – hier Gesundheit im Habitus von Führungskräften – zu geben, soll das Ziel sein.

Wie zuvor bei den Ausführungen zur Mehrdimensionalität des Habitus geht es hier um eine Klarheit bei der Verwendung von Begrifflichkeiten. Darüber hinaus gibt diese Dis-kussion einen Hinweis darauf, dass und wie Weiterentwicklungen der Methode als Im-pulse aufgegriffen werden können.

Neben der Arbeit zur Mehrdimensionalität des Habitus (von Rosenberg) ist die Ent-wicklung der Methode zur relationalen Typenbildung durch Nohl, wie oben skizziert, zu betonen. Nohl hat mit seinem Ansatz die dokumentarische Methode deutlich weiterent-wickelt und mit der relationalen Typenbildung ganz neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet. Mit dem Entkoppeln der Typenbildung von der verbindlichen soziogeneti-schen zur relationalen hat er die Tür zur Entdeckung neuer sozialer Typen aufgestoßen.

War diese Methode nach eigenen Angaben eher aus der Not geboren, so lässt sie sich auch ohne Not, sondern mit dem Interesse nach habituellen Mustern sehr sinnvoll ein-setzen, wie diese Arbeit belegt.

Kramer überträgt den von Bohnsack kollektiv angelegten Orientierungsrahmen auf eine zusätzliche individuelle Ebene. Dabei geht er den Weg zurück über Bohnsacks Orientie-rungsrahmen, der mehr oder weniger dem Habitus von Bourdieu entspricht und dement-sprechend, so hat man den Eindruck bei Bohnsack, kollektiv angelegt ist. Kramer geht dem nach und setzt sich mit Aussagen von Bourdieu auseinander, die ihm den Weg be-reiten, neben der kollektiven Komponente auch explizit eine individuelle zu erkennen (vgl. Kramer, 2011). Dabei merkt er ausdrücklich an, dass Bourdieu, wie auch die For-scher, die sich im Weiteren auf diesen beziehen, die individuelle Komponente zuguns-ten der kollektiven vernachlässigt bzw. vernachlässigen (ebd., S. 50). Kramer baut auf dem individuellen Ansatz auf und geht den Weg weiter.

Diese Schritte wiederum führen zu einem anderen Ziel – bzw. außerdem gleich Aus-gangspunkt weiterer Forschungsmöglichkeiten: zu möglichen Veränderungen, also zu

Transformationen des Habitus. Denn nach Kramer schaffen genau diese individuellen prägenden Ereignisse Zäsuren, die Veränderungsimpulse setzen, was schon Bourdieu wahrnimmt. Dabei kann Kramer im Jahr 2013 bereits Forscherkollegen zitieren, die ebenfalls an diesem Aspekt arbeiten (Kramer, 2013, S. 14), wozu auch der bereits er-wähnte von Rosenberg zählt.

Auch dieser Aspekt in der Forschung wird hier berücksichtigt, denn im Zuge der vorlie-genden Arbeit ergab sich die sehr zentrale Frage, wie bedeutsam Gesundheitsereignisse für den Habitus sind. Dieser Frage wird im Zuge der Analyse unter der Überschrift „Ge-sundheitshandeln als Reaktion“ nachgegangen (vgl. 10.1.6: Reaktives Gesundheitshan-deln: Effekt der Katalysatoren auf das Gesundheitshandeln)

Diese oben genannten Forscher greifen die dokumentarische Methode auf und machen sie sich im Sinne ihres Forschungsanliegens zunutze. So konnte die Methode auch für neue Themen erschlossen und weiterentwickelt werden. Der starke Fokus auf die kom-parative Analyse, die den Fall zunehmend hinter dem Typus zurückstehen lässt, hat sich im Zuge der Forschung mit der dokumentarischen Methode entwickelt und bspw. dazu geführt, dass die Bedeutung ausführlicher Falldarstellungen abnahm.

Es zeigt sich, dass die dokumentarische Methode offen für Entwicklungen ist, die sich aus der zunehmenden Forschung mit ihr ergeben. In diesem Sinne bildet auch hier die dokumentarische Methode die Basis – mit Anpassungen, die sich aus dem Forschungs-anliegen ergaben, was im folgenden Kapitel nochmals zusammengefasst wird.