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3. Theoretische Grundlagen

3.6 Habitusrekonstruktion

3.6.2 Das forschungsbezogene Verständnis des Habitus

In den theoretischen Rahmen der sozialen Praxis Bourdieus und seines Habitus-Konzepts wurde bereits eingeführt. Dennoch stellte sich im Zuge der Auswertung des Forschungsstands und seiner Diskussion heraus, dass es wichtig ist, den von Bourdieu in seinen eigenen Arbeiten definierten Habitus genauer zu fassen: Im Formulieren der Texte dieser Arbeit sowie in der Diskussion im Fachbereich entwickelten sich aus ei-nem Habitus mal mehrere. Dann entstanden im Austausch und im Verdeutlichen von Sachverhalten wie selbstverständlich „Bindestrich-Habitus“, wie der Manager-Habitus oder der Gesundheits-Habitus. Weist Ersterer darauf hin, dass es neben diesem rollen- und damit feldbezogenen Habitus eines Menschen noch weitere gibt, die anderen Kon-texten zuzuordnen sind, so legt Letzterer nahe, dass es in einer Person auch themen- oder anforderungsbezogene Habitus geben könnte.39 Von mehreren Habitus eines Men-schen auszugehen, widerspricht dem Ansatz von Bourdieu, der in seiner Konzeption einen Habitus annimmt, der sich ins Speichermedium Körper einschreibt und in allen (neuen) Situationen des weiteren Lebens angesprochen und ausgelebt wird. Dies ge-schieht mal passend zum Feld, aber auch mal weniger passend, je nach bisherigen Er-fahrungen in den jeweiligen Erfahrungsräumen. Diese Überlegungen, wie der Habitus von Bourdieu zu verstehen ist, sollen hiermit nicht beiseitegeschoben werden, sondern sie sollten als Impulse weiterverfolgt werden. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Bourdieus Ansätze im historischen Kontext seiner Forschungen gesehen werden können

39 Im Rahmen dieser Arbeit wird der Plural des Habitus über die lateinische u-Deklination gebildet, die auch im Plural Habitus lautet, hier aber mit langem u, also gemäß Lautschrift [u:] gesprochen wird. Ein zitierfähiger Beleg von Bourdieu kann hier nicht eingefügt werden, doch scheint dies die schlüssigste Umgehensweise.

und sollten, ergeben sich möglicherweise Anstöße für Anpassungen des Konzepts an die heutige Gesellschaft.

Es wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob nicht von mehreren Habitus auszugehen ist.

Jeder Akteur lebt in unterschiedlichen Feldern, unterliegt hier mehreren, unter Umstän-den deutlich verschieUmstän-denen Habitualisierungsimpulsen. Außerdem mag sich ein Impuls nicht auf das Handeln in allen Belangen auswirken. Um also konkret das habitualisierte Gesundheitshandeln von Führungskräften zu erforschen, könnte es demnach sinnvoll sein, von mehreren Habitus auszugehen, von denen einer – der gesundheitsbezogene Aspekt des Manager-Habitus oder, verkürzt formuliert, der Gesundheitshabitus von Führungskräften – hier zum Forschungsgegenstand wird.

Dass auch andere Wissenschaftler damit ringen, ob und wann sich ein oder eben mehre-re Habitus herausbilden, sei an diesem Beispiel gezeigt. Die in vielen Punkten wichtige Arbeit von Hermann zur Entwicklung eines Karrierehabitus vor dem Hintergrund der Gender-Perspektive (2004) arbeitet im Wesentlichen mit dem Begriff des Karriere-Habitus. Im Zuge der Kapital-Erörterung formuliert sie: „Die Ausbildung eines Karrie-re-Habitus erfolgt bereits über das Elternhaus“ (ebd., S. 197). Andere Habitus, die sich in dieser Zeit möglicherweise ebenfalls bilden, beschreibt sie nicht, was auch nicht er-forderlich ist, da es in ihrer Arbeit um diesen einen Habitus geht. An dieser Stelle fällt diese Formulierung jedoch auf, da sie einen Hinweis auf das Vorhandensein mehrerer Habitus darstellen kann, betrachtet man die Differenzierung Karriere-Habitus als Aus-sage, dass es daneben andere Habitus gibt, sozusagen als weitere Bindestrich-Habitus.

Zur Entwicklung von Habitus äußert sie sich auch: „Der Habitus ist über die Primärso-zialisation stabil, wird aber innerhalb der SekundärsoPrimärso-zialisation noch wesentlich entwi-ckelt.“ Es erscheint durchaus leicht abweichend von der vorhergegangen Formulierung, wann sich exakt welcher Habitus – oder ob sich ein umfassender mit unterschiedlichen Facetten – herausbildet. Doch sollte an dieser Stelle nicht ihre Analyse infrage gestellt, sondern darauf hingewiesen werden, wie diffizil die Herausbildung und Differenzierung von einem oder mehreren Habitus und seinen Facetten – und der treffende Sprachge-brauch – ist.

Kommen also feldspezifisch neue Einschreibungen hinzu, stellt sich die Frage, ob der eine Habitus eine feldspezifische Anpassung erfährt oder ob sich ein neuer Habitus her-ausbildet. Wie hier bereits zu sehen ist, gibt es Argumente für beide Wege, allerdings geht diese Arbeit von einem Habitus aus. Wichtig erscheint es dabei zu verdeutlichen,

wie sich die forschungsrelevante Entscheidung begründet und welche Auswirkungen sie unter Umständen hat.

Diese Differenzierung zwischen einem oder mehreren Habitus ist aber, und damit näher an Bourdieus Ausgangsansatz, auch möglich über das Neudenken des einen Habitus:

Wenn man diesen als einen mehrdimensionalen Habitus begreift, dann ist dieser Ansatz nicht neu, aber ein wichtiger Ansatzpunkt, auch für die vorliegende Arbeit, denn auf dieser Basis ist Gesundheit als ein Teil, eine Facette des Gesamthabitus zu beschreiben.

Neben den im Verlauf dieser Arbeit relevanten Ansätzen von Bohnsack (exemplarisch:

2010 und Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2007) und Nohl (2012, 2013) kommt die Arbeit von von Rosenberg (2011) hinzu. Letzterer hat sich mit den Arbeiten der ersten beiden eingehend befasst und selbst darauf aufbauend gearbeitet (von Rosenberg, 2011). Im Zuge dessen hat er seine Erkenntnisse aus den Arbeiten der Erstgenannten sehr anschaulich beschrieben. Deshalb wird die Argumentation zur Mehrdimensionalität des Habitus von von Rosenberg hier dargelegt, welche auf Arbeiten von Bohnsack und Nohl fußt. Darüber hinaus werden diese Erkenntnisse von Rosenbergs im einführenden Kapitel zur dokumentarischen Methode detaillierter thematisiert (s. S. 72-73 dieser Ar-beit).

Von Rosenberg beschäftigt sich mit ,Bildung und Habitustransformation‘ (2011), also mit grundlegenden Veränderungen im Habitus eines Menschen, die im Gegensatz zur Wandlung eines Habitus stehen, der weniger grundlegende Veränderungen meint. Einer der Ausgangspunkte für seine Theorie ist die angenommene Mehrdimensionalität des Habitus. Er verschweigt nicht, dass es sich dabei bei Bourdieu um einen „weitestgehend vernachlässigten Aspekt“ handelt (ebd., S. 76), erwähnt aber später, dass sich dieser durchaus dessen bewusst ist, dass ein Habitus nicht „konflikt- und widerspruchsfrei“ sei und zitiert ihn mit dem Begriff des „zerrissenen Habitus“ (ebd., S. 79). Bourdieu selbst schafft also mit diesem Terminus die Gelegenheit zu einer Diskussion, über die Facetten des Habitus erneut nachzudenken.

Bohnsack zeigt einen anderen Zugang zur Vielfalt des beobachtbaren Handelns, die ein Akteur zeigen kann. Er zitiert dazu Bourdieu (1989, S. 406) dass „ein und derselbe Ha-bitus je nach Zustand des Feldes zu höchst unterschiedlichen Praktiken und Stellung-nahmen führen kann“ (zitiert nach Bohnsack, 2013, S. 195). Für ihn heißt das, dass sich bei Bourdieu Tendenzen zeigen würden „eine Relationierung und Überlagerung

unter-schiedlicher Habitus mit dem Begriff des Feldes zu fassen“ (ebd.). Mit dieser begriffli-chen Gleichsetzung bringt Bohnsack also einen weiteren Ansatz ins Spiel, um die Mehrdimensionalität zu greifen.

Es soll hier nicht um Deutungen gerungen werden, es bleibt in dieser Arbeit beim Ver-ständnis des einen Habitus. Demnach bildet sich ein umfassender Habitus heraus, der aber je nach Feld und Situation andere Facetten zeigt, weil jeweils andere seiner viel-zähligen Einschreibungen und damit Facetten adressiert und aktiviert werden. Bourdieu beschreibt den Habitus als Folge unterschiedlicher Dispositionen im Wahrnehmen, Denken und Handeln.

Eine Facette kann hier folgendermaßen eingeordnet werden: Während diese Bourdieu-schen Dispositionen noch eher abstrakt zusammenwirken, finden sie in ihrem Zusam-menspiel Ausdruck – je nach Situation und Feld – über ganz bestimmte Facetten: Ein-mal tritt die Facette Geschmack hervor bzw. ins (forschungsbezogene) Blickfeld, ein anderes Mal berufliches Streben oder eben Gesundheit.

Bohnsack und Nohl haben sich in unterschiedlichen Arbeiten intensiv mit der Mehrdi-mensionalität von Erfahrungen und Habitualisierungen auseinandergesetzt. Bohnsack arbeitet in seiner Studie ‚Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppen-diskussionen mit Jugendlichen‘ „den mehrdimensionalen Charakter jugendlicher Erfah-rungsräume heraus“, wie von Rosenberg festhält (2011, S. 77). Obwohl von Rosenberg zu Recht darauf hinweist, dass Bohnsack eher mit dem Milieu- statt dem Habitusbegriff arbeitet, ist eines zentral: Handlungsleitende, implizite Muster ergeben sich aus einer Überlagerung unterschiedlicher, aber konjunktiver Erfahrungsräume (ebd.). Genau in diesen unterschiedlichen Erfahrungsräumen liegt für Bohnsack die Mehrdimensionalität (Bohnsack & Nohl, 1998, S. 262).

Wenn es später darum geht, die dokumentarische Methode als Forschungsprogramm darzustellen, um ihren Wert für diese Arbeit zu skizzieren und sie einzuführen, wird deutlich werden, dass die komparative Analyse als Kern der Methode zu einer Typen-bildung führt, die über die Mehrdimensionalität der herausgearbeiteten Typen auch die Vielschichtigkeit des Habitus aufzeigt.

Dem Ansatz der Mehrdimensionalität eines Habitus soll auch hier im Weiteren gefolgt werden, der sich dem von von Rosenberg in der aufgeführten Studie anschließt: „Bei

der Rekonstruktion von Typen muss immer von Überlappungsphänomenen ausgegan-gen werden; Typenbildunausgegan-gen sind demnach konstitutiv mehrdimensional“ (von Rosen-berg, 2011, S. 98).40

Das kann, kulturgeschichtlich begründet, dazu führen, „dass unterschiedliche Logiken der Praxis in einem Habitus durchaus hybrid und widerstreitend organisiert sein kön-nen“ (von Rosenberg, 2011, S. 78).41

Die Befragten, die in den Interviews als Führungskräfte adressiert wurden, haben – wie jeder Mensch – von Geburt an habitualisierende Einschreibungsprozesse erfahren, die zur Herausbildung ihres Habitus geführt haben; vor ihrem Eintritt ins Feld, vor der Übernahme der Position im Feld mit der Bezeichnung Führungskraft. Ebenso hat sich Gesundheit lebensbegleitend in einer ganz unterschiedlichen Weise in den Habitus ein-geschrieben, die Dispositionen haben sich jeweils in besonderer Weise ausgestaltet.42