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Theoretische Einbettung der nachgestellten du-Realisierung

5  Detail-Analyse 2: Du-Realisierung im Mittelfeld

5.1  Theoretische Einbettung der nachgestellten du-Realisierung

Die bisherigen Untersuchungen zu den Vorfeld-Ellipsen haben ergeben, dass die (Nicht)Realisierungsbedingungen des Subjektpronomens im Vorfeld schwei-derdeutscher SMS von unterschiedlichen Faktoren wie beispielsweise Person, Numerus, aber auch Alter und Muttersprachlichkeit abhängig sind. So ist dort etwa die Nichtrealisierung der zweiten Person Singular nicht nur problemlos möglich, vor Modalverben ist sie sogar präferiert. Durch die einfache Identifi-zierbarkeit im situativen Kommunikationskontext – das du wird mit den Emp-fänger_innen der Nachricht verknüpft –, sowie durch die eindeutig ausgeprägte Verbalflexion ist die Auslassung der 2sg unmarkiert.

DOI 10.1515/9783110517859

Open Access © 2020 Karina Frick, publiziert von Walter de Gruyter GmbH.

lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz. Dieses Werk ist

Diese (teilweise) Unmarkiertheit der Subjektnichtrealisierung beschränkt sich allerdings grundsätzlich auf die Vorfeldposition im schweizerdeutschen V2-Satz. Nimmt man demgegenüber andere Satzmodi in den Blick, wie beispiels-weise Interrogativstrukturen mit nachgestellten Personalpronomen im Mittel-feld, liegen andere Auslassungsbedingungen vor. So betonen unter anderen176 Sigurðsson/Maling (vgl. 2010: 64), dass referentielle Nullsubjekte in germani-schen Sprachen auf eine leere Vorfeldposition begrenzt seien. Auch Fries (vgl.

1988: 22) schränkt das Vorkommen des von ihm als ‚pronoun zap‘ bezeichneten Phänomens auf die präverbale Position in V2-Sätzen ein. Cooper (vgl. 1995: 59) fasst die theoretischen Annahmen zu Nullsubjekten im (Schweizer)Deutschen wie folgt zusammen:

It’s a common assumption that null subjects are typical of Romance languages such as Italian and Spanish, whereas the Germanic languages do not allow the omission of referen-tial subjects, apart from the phenomenon of null topics.

In anderen Positionen sind Auslassungen von Subjektpronomen entsprechend restringiert bzw. gelten sie als verbotene Konfigurationen (vgl. Weir 2008: 13), wie auch Rosenkvist (2009: 151) betont: „In all of the Modern Germanic standard languages, referential null subjects […] are disallowed.“ Dazu folgen einige Bei-spielsätze, welche die Ungrammatikalität nachgestellter Subjektpronomen im Vergleich mit den Nullsubjekten im Vorfeld aufzeigen:

(95) Ich sehe nicht gerne Schreibfehler in SMS.

Ø Sehe nicht gerne Schreibfehler in SMS.

* In SMS sehe Ø nicht gerne Schreibfehler (96) Heute mache ich eine Ausnahme.

Ø mache heute eine Ausnahme.

* Heute mache Ø eine Ausnahme.

Die konstruierten Beispiele verdeutlichen zum einen, was in der Analyse oben empirisch nachgewiesen worden ist: Dass die Subjektnichtrealisierung im Vorfeld akzeptabel und in der SMS-Kommunikation je nach grammatischer Person sogar üblich und erwartbar ist. Zum anderen führen elliptische Subjektpronomen aber bei der Umstellung des Satzes – und damit einhergehend der Verschiebung des Subjekts in die Mittelfeldposition – zu ungrammatischen Äusserungen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Nichtrealisierung des Subjektpronomens

176 Vgl. dazu beispielsweise auch Fries (1988), Zifonun et al. (1997), Haegeman (2007) oder Ro-senkvist (2009).

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im Deutschen topologisch restringiert ist und nur im Vorfeld vorkommen darf (vgl. Cooper 1995: 59), wohingegen eine Auslassung im Mittelfeld nach dem finiten Verb grundsätzlich inakzeptabel ist (vgl. Weir 2008: 13).

Dass aber diese Restriktion gerade nicht auf alle germanischen Varietäten zutrifft, darauf weist Rosenkvist (vgl. 2009: 152) hin, der in seinem Aufsatz das Vorkommen von referentiellen Nullsubjekten in verschiedenen germanischen Sprachen kontrastiv untersucht. Dabei zeigt er auf, dass sowohl in altgermani-schen Sprachen177 wie auch in einer Anzahl moderner germanialtgermani-schen Mundarten aus dem Süden Deutschlands, der Schweiz und Österreich sowie im Friesischen und Jiddischen die Auslassung nachgestellter referentieller Subjekte durchaus möglich ist. Die genannten Varietäten unterscheiden sich dabei insofern, als sie unterschiedliche Restriktionen hinsichtlich der Auslassbarkeit der gramma-tischen Personen und den damit einhergehenden Bedingungen aufweisen (vgl.

ebd. 2009: 161).

Für die vorliegende Arbeit interessieren aufgrund der zu untersuchenden Datenbasis hauptsächlich die Bedingungen im Schweizerdeutschen, für welches gilt, dass insbesondere die zweite Person Singular in nachgestellter Position fehlen kann (vgl. Glaser 2003: 46; Zifonun 1997: 416). Darauf weist auch Cooper (1995: 60) hin, die sich in ihrem Aufsatz mit Zürichdeutschen Nullsubjekten und Klitika auseinandersetzt: „German dialects […] allow the omission of a 2SG subject pronoun after the inflected verb, be it in second contexts or in verb-initial interrogatives.“

Zur Veranschaulichung dieses Phänomens folgen zunächst einige konstru-ierte Beispiele:

(97) a) Häsch du Freud a Linguistik?

b) Häsch Ø Freud a Linguistik?

c) Hast du Freude an Linguistik?

d) ? Hast Ø Freude an Linguistik?

(98) a) Gester häsch du no Freud a Linguistik ka.

b) Gester häsch Ø no Freud a Linguistik ka.

c) Gestern hattest du noch Freude an Linguistik.

177 Vgl. dazu auch die Studie zur althochdeutschen Syntax von Axel (2005), die sich darin mit den syntaktischen Eigenschaften von referentiellen Nullsubjekten im Althochdeutschen (AHD) auseinandersetzt. Darin beschreibt sie das Vorkommen solcher Nullsubjekte bereits in den frü-hesten AHD-Stufen in allen grammatischen Personen und Numeri: „Referential null subjects are attested in all persons and numbers. However […], it is only in third person singular and plural that the null variant is used more frequently than the overt one.” (ebd.: 35). Letztere Beobach-tung trifft, wie die vorliegende Arbeit zeigt, in den modernen germanischen Dialekten wie dem Schweizerdeutschen nicht mehr zu.

d) ? Gestern hattest noch Freude an Linguistik.

(99) a) Ich glaub scho, dass du Freud a Linguistik häsch.

b) Ich glaub scho, dass Ø Freud a Linguistik häsch.

c) * Ich glaube schon, dass Ø Freude an Linguistik hast.

d) Ich glaub scho, dass(t) Freud a Linguistik häsch.

(100) a) Hani der scho gseit, dassi Freud a Linguistik ha?

b) Ha Ø der scho gseit, dassi Freud a Linguistik ha?

c) * Habe Ø dir schon gesagt, dass ich Freude an Linguistik habe?

d) Hämmer der scho gseit, dassmer Freud a Linguistik hen?

Im nicht-dialektalen Deutsch wird die Frage danach, ob Kommunikationspart-ner_innen Freude an Linguistik haben, üblicherweise wie in (97)c) formuliert.

Jedoch wäre es grundsätzlich auch denkbar, die Variante (97)d) als akzeptabel zu betrachten, zumal in informellen, gesprochensprachlichen Kontexten oder je nach Sprachregion (vgl. Zifonun et al. 1997: 416). Das Beispiel (97)b) zeigt hinge-gen auf, dass die Nichtrealisierung des du-Pronomens in der schweizerdeutschen Interrogativkonstruktion nicht nur problemlos möglich, sondern vielmehr wie Cooper (1995: 59) es ausdrückt „perfectly acceptable“ ist. Diese Feststellungen treffen neben den Interrogativstrukturen auch auf die V2-Strukturen in den Bei-spielen (98) zu, in denen sich exakt dasselbe Bild zeigt.

Ähnlich verhalten sich im Weiteren auch Subordinationsstrukturen, wie die Beispiele unter (99) zeigen: Die Nichtrealisierung des nachgestellten du-Prono-mens ist im schweizerdeutschen Beispiel (99)b) vollkommen akzeptabel,178 im nicht-dialektalen Beispiel (99)c) hingegen nicht. Hier zeigt sich demnach zwi-schen der dialektalen und der nicht-dialektalen Variante insofern ein deutli-cherer Unterschied als in (97), als die Auslassung in Subordinationsstrukturen im nicht-dialektalen Deutsch ungrammatisch und auch nicht unter bestimmten informellen, gesprochen-sprachlichen oder regionalen Umständen akzeptabel ist. Subordinationsstrukturen unterliegen daher in Bezug auf das nicht-dialek-tale Deutsch stärkeren Restriktionen als dies bei Interrogativstrukturen der Fall ist (vgl. Cooper 1995: 61).

In Beispiel (99)d) wird ein weiteres Phänomen der nachgestellten Prono-menauslassung sichtbar: die Flexion des Komplementierers (vgl. ebd.: 68), die einen Einfluss auf die (Nicht)Realisierung des Personalpronomens haben kann.

178 Zu diesem Phänomen lassen sich auch zahlreiche Beispiele im Korpus finden, zwei seien hier exemplarisch aufgeführt: Pfus guet und danke dass Ø sTreffe mit dä Moni id Hand gno häsch!

(1168); […] wemmer läbt dänkt.. um das gahts dänk.. das Ø glücklich wirsh..und das wirsch au..

[…] (7585)

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Im Bairischen179 ist es beispielweise so, dass die Flexion des Komplementierers die Auslassung des Subjektpronomens überhaupt erst lizensiert (vgl. Cooper 1995: 69; Fries 1988: 23; Rosenkvist 2009: 162). Eine Nichtrealisierung des Perso-nalpronomens der 2sg (und 2pl) ist dort nur möglich, wenn der Komplementierer Flexionsmerkmale trägt. Dabei kommt es zu typischen Konstruktionen der Form wennst kommst etc., die von einer doppelten Flexionsmarkierung – am Komple-mentierer und am Verb – geprägt sind und die ein Charakteristikum westgermani-scher Mundarten darstellen (vgl. Rosenkvist 2009: 162). Im Schweizerdeutschen ist die Komplementierer-Flexion zwar keine unbedingte Voraussetzung für die nachgestellte Auslassung des Subjektpronomens (vgl. ebd.: 166),180 sie ist aber, wie das Beispiel (99)d) zeigt, fakultativ möglich.

Der letzte Beispielblock (100) zeigt schliesslich auf, dass die nachgestellte Nichtrealisierung von Subjektpronomen nicht auf die 2sg beschränkt, sondern im Schweizerdeutschen auch bei der ersten Person Singular grundsätzlich möglich ist. Dies ist in Beispiel (100)b) sichtbar (vgl. auch ebd.: 165). Allerdings ist diese Option beschränkt auf solche Fälle, in denen die Nichtrealisierung vor schwachen Pronomen stattfindet (in Beispiel (100)b): der (‚dir‘)), die klitisch interpretiert werden können (vgl. Cooper 1995: 63). Diese nachgestellte Auslassungsmöglich-keit der ersten Person Singular besteht hingegen in nicht-dialektalen Konstrukti-onen nicht, wie (100)c) zeigt.

Auch im Schweizerdeutschen nicht weglassbar sind dagegen die Personal-pronomen der 3sg, 3pl sowie die 2pl. Die 1pl muss ebenfalls realisiert werden, dies geschieht aber oftmals durch Affigierung des Pronomens an die Flexionsen-dung, wie in Beispiel (100)d): häm-MER (vgl. analog dazu aber auch (100)a), wo das i- ebenfalls direkt an das finite Verb affigiert wird).

Obwohl auch die Analyse der (Nicht)Realisierungsbedingungen bei den Subordinationsstrukturen aufschlussreiche Ergebnisse erwarten liesse, liegt der Fokus im Folgenden ausschliesslich auf Interrogativkonstruktionen. Diese Auswahl lässt sich damit begründen, dass Fragen aufgrund ihres dialogischen Charakters in den zu untersuchenden SMS nicht nur grundsätzlich häufig auftre-ten, was eine ausreichende Datenbasis gewährleistet, sondern in der Regel auch unmittelbar auf Nachrichtenempfänger_innen ausgerichtet sind.

179 Mit den Bedingungen des ‚pronoun zap‘ im Bairischen setzt sich Fries (vgl. 1988: 23) näher auseinander.

180 Vgl. dazu auch ausführlicher die Diskussion der Komplementierer-Rolle im Zürichdeut-schen du-Drop bei Cooper (vgl. 1995: 62). Die Autorin geht davon aus, dass das -t als Überbleibsel der alten Flexionsform -scht sich vom Verb disloziert hat und nun nur noch als Suffix von Kom-plementierern und WH-Elementen fungieren kann, die ihrerseits eingebettete Sätze einleiten (vgl. ebd.: 70).

In den obigen theoretischen Ausführungen ist also deutlich geworden, dass in schweizerdeutschen Interrogativstrukturen die Auslassung nachgestellter Sub-jektpronomen erlaubt ist. Tatsächlich aber ist diese Variante nicht nur möglich, sondern sie widerspiegelt durch die Häufigkeit ihres Vorkommens die sprachli-che Realität (vgl. Rosenkvist 2009: 170). Spysprachli-cher (2004: 24) geht in seiner Arbeit zu SMS-Nachrichten ebenfalls auf dieses Phänomen ein und hält dazu entspre-chend fest:

In den im Korpus analysierten Nachrichten fehlt das Subjektpronomen du öfter, als dass es verwendet wird. Der Grund dafür liegt in der speziellen Verwendung der zweiten Person Singular im Schweizerdeutschen. […] Die deutsche Endung -st wird in der Mundart immer zu -sch. In Fragesätzen kann das Pronomen in dieser Endung bereits enthalten sein. Es ist somit nicht mehr nötig, ein du zu schreiben, weil dies bereits in der Verbform. [sic] enthal-ten ist.181

Spycher bringt damit einen zentralen Aspekt der nachgestellten du-Auslassung zur Sprache, indem er von einer Integration der Personalform in die finite Verb-form ausgeht. Mit anderen Worten: Die nachgestellte Nichtrealisierung ist dem Umstand geschuldet, dass das Pronomen bereits in der Flexionsendung des finiten Verbs (also im -sch) enthalten ist. Da die doppelte Codierung des Subjekts durch eine zusätzliche Realisierung des du auf der Makroebene nicht nur unnötig, sondern auch kommunikativ und syntaktisch unökonomisch wäre, stellt sie die Ausnahme dar; dem gegenüber steht die Nichtrealisierung als Default.

Damit verhält sich die nachgestellte du-Auslassung insofern anders als die oben behandelte ich- (bzw. du-)Nichtrealisierung im Vorfeld, als bei Letzterer die Realisierung nicht die Ausnahme, sondern lediglich eine Variante darstellt. Das heisst auch, dass bei der 1sg im Vorfeld sowohl Realisierung wie auch Nichtreali-sierung unmarkiert sind, beim nachgestellten 2sg-Pronomen hingegen ist davon auszugehen, dass die Realisierung die markierte Variante darstellt – und zwar nicht nur in informellen, sondern auch in formellen Kontexten. Tabelle 16 erfasst dies:

181 Spycher (2004: 25) reklamiert allerdings im selben Zusammenhang eine Beschränkung der Pronomentilgung auf Fragesätze: „Der Satz Du hast meine SMS bekommen. kann in der Über-setzung Du hesch mis SMS becho. nicht ohne das Pronomen stehen.“ Diese Aussage steht im Kontrast zu den Befunden der vorliegenden Arbeit. Das legt die Annahme nahe, dass die du-Nichtrealisierung zur Zeit von Spychers Studie (2004) noch kaum oder mindestens viel seltener aufgetreten ist, was wiederum dafür spräche, dass eine Entwicklung in Richtung verstärkter Ak-zeptabilität von Auslassungen im Vorfeld stattfindet.

Theoretische Einbettung der nachgestellten du-Realisierung  165

Tabelle 16: Realisierungsbedingungen für die 2sg im Mittelfeld 2sg Mittelfeld

Interrogativstrukturen formell informell

Realisierung markiert markiert

Nichtrealisierung unmarkiert unmarkiert

Man könnte also sagen, dass die Nichtrealisierung der 2sg im Mittelfeld bedeu-tend weiter geht als diejenige des 1sg-Subjektpronomens im Vorfeld, indem sie nicht nur den ‚Normalfall‘, sondern präziser ausgedrückt, den strukturellen

‚Regelfall‘ widerspiegelt.

Die bisherigen Feststellungen können anhand der nachfolgenden Grafik ver-anschaulicht werden:

Abbildung 26: Realisierungsbedingungen von nachgestellten Subjektpronomen in schweizer-deutschen Interrogativsätzen

Die Grafik verdeutlicht die Regelhaftigkeit der Nichtrealisierung des nachgestell-ten 2sg Pronomens. Ich möchte daher in diesem Zusammenhang noch einmal auf den weiter oben eingeführten Terminus der ‚Mikrorealisierung‘ von Ágel (1995) zurückkommen. Wie in Kapitel 4.2.1 erläutert, beinhaltet der Begriff die mikrova-lenzielle Integration des Subjektpronomens im finiten Verb, weshalb für die VfE-Analyse der Terminus ‚Nichtrealisierung‘ favorisiert wurde. Für das Phänomen des nachgestellten 2sg-Subjektpronomens im Schweizerdeutschen eignet sich das Konzept der Mikro- und Makrorealisierung hingegen sehr gut, wie in Abbil-dung 26 ersichtlich ist: Kennzeichen des Default-Falles ist es ja gerade, dass das

2sg-Pronomen ausschliesslich in der Flexionsendung – also auf der Mikroebene – ausgedrückt wird. Die Ausnahme bildet demgegenüber die syntaktische Realisie-rung des du auf der Makroebene. Ich werde daher für die folgende du-Analyse auf die Ágel‘schen Begrifflichkeiten zurückgreifen.

Erklärungsansätze für die besondere Situation im Schweizerdeutschen (und in den anderen germanischen Mundarten) im Hinblick auf die Auslassung nach-gestellter du-Pronomen lassen sich in einer diachronen Perspektive in früheren Sprachstufen finden. Weber (vgl. 1987: 174) erläutert diesbezüglich in seiner Zürichdeutschen Grammatik, dass die Flexionsendung der 2sg ursprünglich ein finales -t aufgewiesen hat, in der Form -scht (häscht, bischt, chunnscht etc.), das später weggefallen sei.182 Cooper (vgl. 1995: 70) führt aus, dass jüngere Spre-cher_innen des Zürichdeutschen solche Beispiele als inakzeptabel zurückweisen und sie mit anderen Schweizer Dialekten assoziieren würden. Dass in manchen hochalemannischen Dialekten diese Realisierung (zumindest in Teilen) bis heute erhalten geblieben ist, zeigt das folgende Beispiel aus der WhatsApp-Beispiel-sammlung (vgl. Kapitel 7):

(101) […] bi jedem wiahnachtshock wone bis jätz gse bi isches thema und zitvertriib gse und hät am huuufa „mei wäscht no“ usglöst…[…] 183

‚bei jedem weihnachtshock wo ich bis jetzt gewesen bin ist es thema und zeitvertrieb gewesen und hat einen haufen „ach weisst noch“ ausgelöst…‘

Beispiel (101) belegt, dass das finale -t am finiten Verb (wäscht; weisst du) offen-bar in manchen Dialekten noch in Gebrauch ist (vgl. dazu auch Siebenhaar 2003:

133 f.).184 Das der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegende Subkorpus enthält jedoch keinen Beleg für ein solches Vorkommen.

Auer (1993) führt zur Erklärung der nachgestellten du-Mikrorealisierung ebenfalls eine diachrone Perspektive an, wobei er insbesondere auf den Aspekt der Doppelcodierung der 2sg eingeht:

In den deutschen Dialekten (z. B. Bairisch, Alemannisch) kann man auch argumentieren, dass die Endung -st, die ja historisch auf ein Pronomen zurückgeht, nie als reines Flexi-onssuffix verstanden worden ist. –st plus nachfolgendes Pronomen du wurde als doppelte

182 Weber (vgl. 1987: 174) führt den Wegfall des -t auf Ausstossungen in Konsonantengruppen und auf Angleichungen zurück.

183 Das Beispiel stammt von einer Schreiberin aus dem Fürstentum Liechtenstein.

184 Siebenhaar (2003: 133 f.) stellt in seiner Untersuchung zu sprachgeografischen Aspekten in schweizerdeutschen Chats fest, dass die t-Flexion in den Alpinmundarten „[…] noch nicht völlig verschwunden ist und sogar in modernen Kommunikationsformen unter jungen Leuten noch Verwendung findet, wenn auch auf sehr tiefem Niveau.“

Du-Realisierung in Fragesätzen: Empirische Befunde im Korpus  167

Markierung zumindest von einem Teil der Sprecher abgelehnt, so dass in diesem Fall nie eine dem heutigen Standard entsprechende Form auftreten konnte. Trotzdem ist auch in diesen Fällen ein Pronomen vorhanden, nämlich das alte, in der nachfolgenden Sprachent-wicklung als Suffix reinterpretierte. (Auer 1993: 199)

Auer betont hier die Regelhaftigkeit der nachgestellten du-Mikrorealisierung, indem er festhält, dass eine dem Standard entsprechende Form mit makroreali-siertem du gar nie aufgetreten sei.

Aus diesen Auführungen ergibt sich folgende Konklusion: In schweizerdeut-schen Interrogativsätzen wird im Gegensatz zum nicht-dialektalen Deutsch auf-grund der Integration des Subjekts in die Flexionsendung in der Regel kein nach-gestelltes du-Pronomen (makro)realisiert. Geschieht dies dennoch – zusätzlich zur Personenmarkierung in der Flexionsendung –, so ist dies als Ausnahme zu begreifen, da die 2sg in diesem Fall doppelt codiert ist: sowohl syntaktisch auf der Makroebene als auch morphologisch auf der Mikroebene. Nach der Präsentation der Resultate aus der Korpusauszählung wird im Anschluss zu klären sein, unter welchen Umständen eine solche Doppelmarkierung stattfindet.

5.2  Du-Realisierung in Fragesätzen: Empirische Befunde im