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Diskussion und Auslassungshierarchie

4.2  Vorfeld-Ellipsen: Empirische Befunde im Korpus

4.2.1.7  Diskussion und Auslassungshierarchie

Wie sich in den bisherigen Untersuchungen zur Auslassung von Subjektprono-men im Vorfeld herauskristallisiert hat, liegen je nach grammatischer Person unterschiedliche Auslassungsbedingungen und -restriktionen vor, wobei sich zwischen den Plural-Personen ein ähnliches Verhalten zeigt. Die Zusammenfas-sung der Ergebnisse lässt sich an folgender Tabelle ablesen:

Tabelle 12: Auslassungsbedingungen aller grammatischen Personen im Vorfeld schweizerdeut-scher SMS aus dem Schweizer ‚sms4science‘-Korpus

SMS markiert unmarkiert

Realisierung (1sg) (1sg)

2sg 3sg1–3pl

Nichtrealisierung,

Ellipse (3sg)

1–3pl 1sg

2sg(3sg)

Zur Erläuterung: Hier geht es, anders als bei den obigen Tabellen zu den einzel-nen grammatischen Persoeinzel-nen, nur noch um den informellen Kontext in SMS, zu denen die hier untersuchten SMS zählen. Während die Zuteilung der 2sg sowie der Plural-Personen eindeutig ist, erscheinen die 1sg und die 3sg doppelt und in Klammer. Dies ist wie folgt zu erklären: Bei der 1sg ist die Nichtrealisierung

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die häufigere Variante. Dies kann mittel- bis langfristig dazu führen, dass die Realisierung der 1sg im Vorfeld informeller Texte zur markierten Variante wird – anhand von Beispiel (20) ist diese Option bereits diskutiert worden. Da sich dies-bezüglich derzeit möglicherweise eine Entwicklung vollzieht, befindet sich die 1sg in der Realisierungsspalte in Tabelle 12 in Klammern. Bei der 3sg ist es hinge-gen so, dass zu unterscheiden ist zwischen solchen Vorkommen, die ein salientes Antezedens vorzuweisen haben. In diesem Fall ist die Auslassung möglich und weniger stark markiert. Gibt es jedoch im Kontext keinen Koreferenten, ist die Nichtrealisierung eindeutig markiert und damit auch unter den Begriff ‚Ellipse‘

zu fassen.

Dies führt mich zur Diskussion über die Begriffe ‚Nichtrealisierung‘ und

‚Ellipse‘, die weiter oben bereits angekündigt wurde. Gemäss der Arbeitsdefini-tion, die in Kapitel 2.2.2 vorgelegt wurde, handelt es sich bei Ellipsen um syntakti-sche Elemente, die ausgespart, jedoch aufgrund syntaktisyntakti-scher oder lexikalisyntakti-scher Regularitäten rekonstruiert werden können (vgl. Bußmann 2008: 158). Die Aus-sparung, so Aelbrecht (vgl. 2010: 1), führt zu einer Diskrepanz zwischen Form und Bedeutung, wobei die elliptischen Elemente bei der Interpretation stets mit-verstanden werden. Für die Annotation war der Rückgriff auf eine solch reduktio-nistische Definition deshalb notwendig, weil die Annotation ansonsten jeglicher Grundlage entbehrt hätte: Die ausgelassenen Elemente konnten nur aufgrund der Annahme eingesetzt, kategorisiert und morphologisch annotiert werden, dass sie eine ‚Lücke‘ hinterlassen, die rekonstruierbar ist. Sieht man sich nun die Ergebnisse selbiger Annotation an, so zeigt sich bei bestimmten Ellipsen- bzw.

Auslassungsformen wie beispielsweise dem Subjektpronomen der 1sg, dass die Aussparung in diesen Fällen weniger eine Unvollständigkeit, sondern vielmehr durch die damit einhergehende Unmarkiertheit eine andere Realisierungsvari-ante repräsentiert. Geht man nämlich davon aus, dass die Nichtrealisierung des Subjektpronomens vor dem finiten Verb unmarkiert ist – und dies ist bei den ersten beiden Singular-Personen der Fall –, werden auch keine Erwartungen hin-sichtlich der syntaktischen Vollständigkeit hervorgerufen. Den Schreiber_innen schweizerdeutscher SMS steht es also offen, ob sie Deklarativsätze mit Ich-Aussa-gen mit oder ohne Subjektpronomen realisieren. Dennoch ist festzuhalten, dass es sich hierbei lediglich um zwei Varianten handelt: Diese unterscheiden sich eben darin, dass bei der ersten ein Subjektpronomen realisiert ist, während dies bei der zweiten nicht der Fall ist. Deshalb weist sie gegenüber der ersten Variante eine ‚Lücke‘ auf, da sie auf der Makroebene eine syntaktische Position weniger

umfasst bzw. eine syntaktische Position ansetzt, die nicht besetzt ist.124 Aus diesem Grund erscheint es auch sinnvoll, die zugrunde gelegte Definition beizu-behalten, allerdings in den Fällen, in denen die subjektlose Konstruktion unmar-kiert ist, von ‚Nichtrealisierung‘ statt von ‚Ellipse‘ zu sprechen, um dadurch den Fokus auf die Komponente des ‚Fehlens‘ und der ‚Unvollständigkeit‘, die stets mit dem Ellipsenbegriff verbunden sind, zu relativieren bzw. abzuschwächen. Wenn ich bei den Plural-Personen und mit Einschränkungen auch bei der 3sg aber wei-terhin von Ellipse spreche, dann ist das damit zu begründen, dass es sich hierbei eben nicht um zwei verschiedene (Valenz-)realisierungsmöglichkeiten handelt, sondern dass unrealisierte Subjektpronomen bei diesen grammatischen Perso-nen tatsächlich zu syntaktisch unvollständigen Strukturen führen und daher auch mit gewissen Restriktionen verbunden sind und die Ausnahme bilden.

Die grafische Darstellung dieser Befunde sieht so aus:

Abbildung 12: Die grammatischen Personen und ihre Auslassungsmöglichkeiten

Abbildung 12 zeigt eine Skala mit den Polen ‚Nichtrealisierung‘ auf der linken und

‚Ellipse‘ auf der rechten Seite. Der Pfeil vom Nichtrealisierungs- zum Ellipsenpol zeigt die sinkende Akzeptanz der Auslassungen an: Während Nichtrealisierun-gen (z. B. der 1sg) am stärksten akzeptiert sind, gelten Ellipsen als Ausnahmeer-scheinungen mit geringer Akzeptanz. Die grammatischen Personen von der 1sg bis zur 3pl sind auf der Skala entsprechend den aus der Annotationsauszählung gewonnenen Ergebnissen angeordnet worden.

Parallel zur Akzeptanz liegt der Interpretationsaufwand (siehe den Pfeil unten): Mit sinkender Akzeptanz einer Auslassung steigt gleichsam die zu inves-tierende Interpretationsleistung. Schaut man sich das anhand der einzelnen grammatischen Personen noch etwas genauer an, zeigt sich folgendes: Die 1sg, die häufiger unrealisiert bleibt, befindet sich ganz links am Pol der

Nichtrealisie-124 Die Beispiele zu den einzelnen Personen sind daher auch bewusst so gewählt worden, dass sie bis auf das Subjektpronomen sehr ähnlich sind.

Nichtrealisierung Ellipse

1sg 2sg 3sg 1pl 2pl

3pl sinkende Akzeptanz

steigender Interpretationsaufwand

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rung. Die 2sg ist ebenfalls am Nichtrealisierungspol angesiedelt, weil hinsicht-lich deren Realisierung mehr oder weniger frei variiert werden kann. Die ersten beiden Singular-Personen benötigen praktisch keinen Interpretationsaufwand, weil aus pragmatischer Perspektive die Rekonstruktion der Autor_innen- und Rezipient_innenrolle ohne weiteres möglich ist:125 Um es mit Eisenberg (2013:

170) auszudrücken: „Sprecher und Adressat sind in der normalen Äusserungs-situation anwesend, deshalb gibt es keinerlei Schwierigkeiten bei der Referenz-fixierung […]“. Bei der dritten Person hat sich gezeigt, dass eine Auslassung nur unter spezifischen Bedingungen möglich ist, was auch daran liegt, dass die dritte Person nicht direkt am Diskurs beteiligt ist. Eisenberg (ebd.) schreibt dazu: „Das Besprochene ist vielfältig, es ist anwesend oder nicht anwesend, und was im Mit-telpunkt des Interesses steht, kann sich im Verlauf eines Diskurses ändern.“

Die erste Person Plural unterscheidet sich von den beiden anderen Plural-Personen insofern, als sie insgesamt in viel grösserer Anzahl vorkommt; das Aus-lassungsverhältnis unterscheidet sich jedoch nicht signifikant von dem der 2pl und 3pl. Der Interpretationsaufwand bei den Plural-Personen erhöht sich durch den (möglichen) Synkretismus bei den finiten Verbformen. Bei der dritten Plu-ralperson liegt zudem, wie bei der 3sg, ein Bezug auf eine sich ausserhalb der Kommunikationssituation befindliche Entität vor, während bei der 1pl und 2pl die entsprechenden Singular-Personen mit eingeschlossen sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die 2pl und 3pl im Allgemeinen sehr selten im schweizerdeut-schen Korpus auftreten. Eine Auslassung ist daher kaum möglich. Es scheint in Bezug auf die Subjektpronomen im Vorfeld so zu sein, dass ein häufigeres Auftre-ten auch ein häufigeres Auslassen ermöglicht.

Es bleibt also festzuhalten: Die Auslassung von Subjektpronomen im Vorfeld schweizerdeutscher SMS gliedert sich entlang der grammatischen Personen in (a) unterschiedliche Vorkommenshäufigkeiten, die (b) hierarchisch auf einer Akzep-tanzskala abgebildet werden können; sinkende Akzeptanz von Auslassungen geht dabei mit erhöhtem Interpretationsaufwand einher.

125 Bezieht man hingegen andere Kommunikationsplattformen wie WhatsApp oder Facebook mit ein, so gestaltet sich die Identifikation von Adressat_innen unter Umständen um einiges schwieriger. Das ist etwa in einem Gruppenchat auf WhatsApp oder einer Statusmeldung auf Facebook der Fall. Letztere richtet sich gar an ein disperses Publikum, das sich je nach Privat-sphäre-Einstellungen des Profils unterschiedlich zusammensetzt (vgl. dazu ausführlich Frick 2014: 25 f.). Aus diesem Grund wird in solchen Mehrpersonenkonstellationen oftmals auf andere Strategien der Adressierung zurückgegriffen: So ist es beispielweise üblich, die angesprochene Person durch die Verwendung der Kombination @+Vorname anzusprechen (z. B.: @Mirjam).

Das @ erfüllt dabei die Funktion des Adressierungsindexes, ebenso wie in E-Mail-Adressen.

Bisher konnte also gezeigt werden, dass insbesondere drei innersprachliche Faktoren einen Einfluss darauf haben, ob das Subjektpronomen realisiert wird oder nicht: die grammatische Person, der Numerus sowie die Art des nachfolgen-den Verbs. Im Folgennachfolgen-den soll nun die Frage geklärt wernachfolgen-den, ob allenfalls auch aussersprachliche Faktoren einen Einfluss auf die Realisierung des Subjektpro-nomens haben können.