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Du-Realisierung in Fragesätzen: Empirische Befunde im Korpus

5  Detail-Analyse 2: Du-Realisierung im Mittelfeld

5.2  Du-Realisierung in Fragesätzen: Empirische Befunde im Korpus

Vor der Darstellung der Ergebnisse ist zunächst ein Wort zur Methodologie bei der Auszählung der du-Vorkommen in Interrogativstrukturen zu sagen. Da die nachgestellten du-Makro- und Mikrorealisierungen im Korpus nicht annotiert worden sind, mussten sie manuell erhoben werden. Zu diesem Zweck ist das nor-malisierte Subkorpus zum Einsatz gekommen, das in Umfang und in Bezug auf die darin enthaltenen Nachrichten dem annotierten Ellipsenkorpus entspricht (vgl. dazu Kapitel 3). Auf diese Weise war es möglich, nach den Glossen der für diesen Zusammenhang untersuchten Verben und dem Pronomen du zu suchen, die gemäss dem gewählten Operator entweder unmittelbar aufeinanderfolgend oder mit Zwischenelement auftreten sollten.185 Durch diese Vorgehensweise konnten alle orthografischen Realisierungsformen sowohl der Verben als auch des 2sg-Personalpronomens gefunden werden. Für die nichtrealisierten Prono-men gestaltete sich die Auszählung etwas aufwändiger, weil dazu alle (ebenfalls im normalisierten Korpus gesuchten) Vorkommen der jeweiligen Verben

durch-185 Dies ist beispielsweise für Äusserungen wie häsch den du kei Fröid a Linguistik? (konstruier-tes Beispiel, KF) wichtig.

gesehen und daraufhin überprüft werden mussten, ob es sich um eine Interroga-tivstruktur ohne nachfolgendes du oder um einen anderweitigen 2sg-Gebrauch des entsprechenden Verbs handelt. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass dadurch auch alle zuvor separat gesuchten realisierten du-Vorkommen noch einmal kontrolliert werden konnten.

Für die Analyse sind exemplarisch Fragestrukturen mit den fünf Verben haben, sein, kommen, gehen, können im Hinblick auf die nachfolgende (Nicht)-Realisierung des du-Pronomens ausgezählt worden. Die Auswahl gründet dabei einerseits darauf, dass es sich um relativ häufige Verben verschiedener Katego-rien (Voll-, Kopula- und Modalverben) handelt, die andererseits im Zusammen-hang mit Fragestrukturen erwartbar sind.186 Die nachfolgend abgebildete Grafik zeigt die quantitativen Ergebnisse der manuellen Auszählung zur du-Verteilung nach dem finiten Verb im Mittelfeld von Fragesätzen:187

Abbildung 27: Prozentuale und absolute du-(Nicht)Realisierung nach den Verben haben, sein, kommen, gehen, können im Mittelfeld schweizerdeutscher Fragestrukturen

186 Die Auswahl bleibt aber trotzdem in vielerlei Hinsicht beliebig, z. B. was die Wahl des Mo-dalverbs angeht. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist aber auch nicht ein flächendeckendes Bild der du-(Nicht)Realisierung im SMS-Korpus, sondern vielmehr eine explorative Annäherung an das Phänomen.

187 Da die Nichtrealisierung bei diesem spezifischen Phänomen nicht nur den Normal-, son-dern vielmehr den Regelfall darstellt, habe ich die Darstellung entsprechend umgekehrt zu den VfE oben perspektiviert. Die Nichtrealisierung bildet quasi die Basis, anhand derselben die ab-weichenden Formen – hier die Realisierungen – bemessen werden.

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Der Blick auf die Grafik in Abbildung 27 bestätigt die oben erwähnten theoreti-schen Annahmen und zeigt eine deutliche Tendenz zur Mikrorealisierung des 2sg-Subjektpronomens in schweizerdeutschen Interrogativstrukturen. Bei allen fünf Verben überwiegt der Anteil an mikrovalenziell realisierten Pronomen gegenüber den makrorealisierten – wenn auch nicht überall gleich deutlich. Am klarsten zeigt sich dies bei Fragen mit haben und kommen, in denen 84 % der Vorkommen nach dem finiten Verb kein du-Pronomen auf der Makroebene aufweisen. Auch beim Verb sein überwiegt die Anzahl mikrorealisierter Pronomen mit 78 % deut-lich. Der Blick auf die du-Verteilung bei den Verben gehen und können hingegen zeigt ein weniger eindeutiges Bild: Während beim Modalverb können die Anzahl an Mikrorealisierungen mit 54 % noch etwas stärker überwiegt, ist das Verhältnis bei gehen annähernd ausgeglichen (52 % Mikrorealisierungen). Die beiden letzt-genannten Verben treten allerdings auch insgesamt deutlich weniger häufig auf, wie die proportionale Darstellung aufzeigt:

Abbildung 28: Proportionen der du-(Nicht)Realisierung nach den Verben haben, sein, kommen, gehen, können im Mittelfeld schweizerdeutscher Fragestrukturen

Die Grafik in Abbildung 28 zeigt, dass die häufigsten Verben auch die deutlichste Tendenz zur Mikrorealisierung aufweisen. Statistische Signifikanzberechnun-gen mit dem Chi-Quadrat-Test ergeben, dass sich die Verben haben (p-value =

0.0158),188 können (p-value = 1.011e-05) und gehen (p-value = 0.001016) signifikant abweichend von der Grundtendenz verhalten, die eindeutig in Richtung Mi kro-realisierung zeigt. Damit bestätigen die Berechnungen in Bezug auf die letzten beiden Verben (können und gehen) das, was in den Grafiken in Abbildung 27 und Abbildung 28 ersichtlich ist: Dass sich die Realisierungsverhältnisse bei diesen Verben offenbar anders gestalten als bei den anderen. Auf die Frage, weshalb diese beiden Verben eine weniger starke Mikrorealisierungstendenz aufweisen, gehe ich weiter unten anhand von Beispielen ein (vgl. 5.3).

Vorab ist jedoch zu betonen, dass trotz unterschiedlichen Verhaltens grund-sätzlich und ausnahmslos bei allen Verben die Mikrorealisierung überwiegt.

Somit belegt die empirische Korpusauszählung die theoretischen Annahmen, denen zufolge die Nichtrealisierung des Personalpronomens – und damit einher-gehend dessen einfache Codierung in der Flexionsendung – den Regelfall dar-stellt, während die Realisierung als doppelte Markierung die Ausnahme bildet.

Dies zeigt auch der Blick auf die folgenden Beispiele (102)–(111) aus dem SMS-Korpus, die für jedes der untersuchten Verben einen Beleg mit und einen ohne nachgestelltes du enthalten:

(102) Was hesch du welä? (5059)

‚Was hast du gewollt?‘

(103) Bi ez dihei wa häsch welä? (5330)

‚Bin jetzt daheim was hast gewollt?‘

(104) Wänn bisch du dihei? (6248)

‚Wann bist du daheim?‘

(105) Hoi Wen bish dihai? (2733)

‚Hoi Wann bist daheim?‘

(106) Hoi mami, wenn chunsch du hei? Lg (2828)

‚Hoi mami, wann kommst du heim? Liebe grüsse‘

(107) Wenn chunsch hei? Mama (9729)

‚Wann kommst heim? Mama‘

(108) Gohsch du hüt obig mitam velo? Alg (5891)

‚Gehst du heute abend mit dem velo? Ein lieber gruss ‘ (109) Gahsh hüt abig an bhf? (6189)

‚Gehst heute abend an den bahnhof?‘

(110) chasch du no e why mitbringe? (2521)

‚kannst du noch einen wein mitbringen?‘

(111) Ja da paßt, kash dän au na was z knabbre mitbringe? (2784)

‚Ja das passt, kannst dann auch noch was zu knabbern mitbringen?‘

188 Der abweichende Wert bei haben zeugt davon, dass die Tendenz zur Mikrorealisierung hier noch stärker ist als bei den anderen untersuchten Verben.

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Es sind, wie weiter oben schon, jeweils ähnliche Beispiele ausgewählt worden, um so den Unterschied zwischen den unmarkierten nichtrealisierten und den markierten realisierten Formen anschaulicher zu machen. Da es sich hierbei nicht um Auslassungen, sondern um vollständige, regel- und normgerechte Formen handelt, ist in den Beispielen ohne du auf das Ellipsenzeichen verzichtet worden.

Bevor auf die Ursachen für die exzeptionelle Realisierung einzugehen ist, werde ich in einem Exkurs noch auf einen Spezialfall der du-Realisierung eingehen.

Bei der Durchsicht der Beispiele mit und ohne du-Realisierung im Mittelfeld fällt eine besondere Realisierungsstruktur auf: Die untersuchten Verben weisen einzelne Fälle auf, bei denen ein dem finiten Verb vorausgehendes du realisiert ist, trotz der Tatsache, dass es sich bei der Äusserung um eine Interrogativstruk-tur handelt. Die nachfolgenden Beispiele (112)–(117) veranschaulichen dieses Phänomen:

(112) endli wiedermal!du bisch demfall au am chränkele? (10019)

‚endlich wieder einmal!du bist demfall auch am kränkeln?‘

(113) und du bisch fit?du, übrigens, Blerim kann auch am samschti… (3884)

‚und du bist fit?du, übrigens, Blerim kann auch am samstag…‘

(114) Dferie sind mega shön gsi.. du hesh au ferie gha? (5278)

‚Die ferien sind mega schön gewesen.. du hast auch ferien gehabt?‘

(115) Bi eus strahlt d sune,es isch sogar richtig heiß!Du heschs au guet? (4691)

‚Bei uns strahlt die sonne,es ist sogar richtig heiss!Du hast es auch gut?‘

(116) Hey Luc! Gäll du chunsch hüt abig au uf winti? Greez (10201)

‚Hey Luc! Gell du kommst heute abend auch auf winterthur? Greez‘

(117) So und du gosch au gad nochem zmitag is battlefield? (7040)

‚So und du gehst auch gleich nach dem mittagessen ins battlefield?‘

Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass es sich hierbei um eine Art Inversionsstruktur handelt, was sich allerdings bei genauerem Hinsehen als Trugschluss erweist. Dagegen spricht zum einen, dass die Realisierung des ersten du ein zweites, nachgestelltes du nicht blockiert (vgl. dazu auch die Beispiele mit Doppelrealisierung weiter unten). Damit zusammenhängend handelt es sich zum anderen bei dem vorangestellten du in den Beispielen (112)–(117) um ein in seiner syntaktischen Funktion andersartiges du als das nachgestellte Subjektpronomen.

Die Funktion, die das vorangestellte du hier übernimmt, ist die eines Vokativs.189

189 Ich schliesse mich der vortheoretischen, funktionalen Vokativ-Definition von Sonnenhau-ser/Noel Aziz Hanna (2013: 1) an, die darunter „[…] forms and structures used for direct address […]“ verstehen. In der Einführung zu ihrem Sammelband über den Vokativ, den sie als unter-erforscht konstatieren, schreiben die Herausgeberinnen, dass die Adressierfunktion das einzig unumstrittene an dieser ansonsten aus linguistischer Sicht problematischen Erscheinung sei

Dieser indiziert durch die ihm inhärente Adressierungsfunktion einen (potentiel-len) Sprecher_innenwechsel. Das ist etwa an Beispiel (114) ersichtlich: Die Sende-rin erwähnt, dass ihre Ferien schön gewesen seien und fragt im Anschluss daran die empfangende Person danach, ob sie ebenfalls schöne Ferien gehabt habe.

Das du fungiert dabei als Anredepronomen, mit dem das Rede-bzw. Schreibrecht in Form einer Frage an die empfangende Person übergeben wird. Das folgende Beispiel (115) funktioniert ganz ähnlich: Der SMS-Sender berichtet zunächst vom schönen Wetter und fragt anschliessend bei der adressierten Person nach, ob es ihr auch (au) gut gehe. Die Partikel auch stellt dabei den Bezug zwischen den beiden Äusserungen her und macht deutlich, dass die Frage an die empfangende Person aus der zuvor gemachten eigenen Äusserung resultiert – entsprechend weisen fast alle Beispiele ((112), (114), (115), (116), (117)) die Partikel auch auf.190

Da dieses Phänomen nicht den Fokus der vorliegenden Untersuchung bildet, gehe ich darauf nicht weiter ein. Mit diesem kurzen Exkurs sollte lediglich aufge-zeigt werden, dass es sich nicht um eine invertierte Form handelt, sondern dass hier ebenfalls eine regelhafte Einfachcodierung des 2sg-Subjektpronomens ohne nachgestellte Makrorealisierung vorliegt.