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Die zweite Person Singular: freie Variation

4.2  Vorfeld-Ellipsen: Empirische Befunde im Korpus

4.2.1.4  Die zweite Person Singular: freie Variation

Im Anschluss an die Analyse der ersten Person Singular geht es im Folgenden um die zweite Person Singular. In Abbildung 8 wird ersichtlich, dass das Ver-hältnis zwischen realisierten und elliptischen du-Pronomen im Vorfeld relativ ausgeglichen ist: 53 % realisierten stehen 47 % nichtrealisierte Subjektpronomen gegenüber. Diese Beobachtung entspricht den Voraussagen von Zifonun et al.

(1997) zur als ‚Adressaten-Ellipse‘ bezeichneten du-Tilgung: Aufgrund der

einfa-116 Gemäss Luckmann (1986: 202) sind kommunikative Gattungen historisch und kulturell ge-wachsene, „[…] mehr oder minder wirksame und verbindliche ‚Lösungen’ von spezifisch kom-munikativen ‚Problemen’.“ Aus linguistischer Perspektive befassen sich Günthner/Knoblauch (1994) ausführlich mit dem Konzept der kommunikativen Gattungen.

117 Diese Faktoren begünstigen, wie an anderer Stelle schon angedeutet, die Auslassbarkeit von einfach rekonstruierbaren Elementen. Eine Zuordnung der einzelnen SMS-Beispiele zu kommunikativen Gattungen könnte diesen Zusammenhang möglicherweise erhellen, ist aber im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt worden. Das ist einerseits damit zu begründen, dass eine solche Vorgehensweise in der zugrundeliegenden Fragestellung nicht vorgesehen ist. An-dererseits entstammen die meisten Beispiele aus dem Korpus ohnehin einem privat-informellen Kontext, was aus den aufgeführten Beispielen unmittelbar ersichtlich wird; dass eine Kategori-sierung zu neuen Einsichten geführt hätte, darf deshalb bezweifelt werden. Und noch etwas ist anzumerken: In formellen schriftlichen Kontexten findet im Schweizerdeutschen ohnehin oft ein Wechsel ins nicht-dialektale Deutsch statt (vgl. Dürscheid/Spitzmüller 2006: 25). Das ist al-lerdings nicht immer der Fall, wie etwa das folgende Beispiel aus dem Korpus belegt: Guete obig herr [LastName] Ich weiss nöd ob sie das wüsset aber ich (und die vom handball) chönd de sam.

nöd cho mer hend match […] (3465)

chen Identifizierbarkeit der durch das Pronomen hergestellten Referenz auf im unmittelbaren Kontext greifbare Empfänger_innen der Nachricht kann das du ohne weiteres ausgelassen werden. Die eindeutige Flexionsendung der 2sg, die im Schweizerdeutschen durch auslautendes -sch(t) gekennzeichnet ist, erleich-tert die zweifelsfreie Zuordnung zur grammatischen Person.

Die ausgewerteten Zahlen des schweizerdeutschen Subkorpus zeigen aber auch, dass die Nichtrealisierung des 2sg-Subjektpronomens im Vorfeld nicht, wie dies bei der ersten Person Singular der Fall ist, zum häufiger praktizierten Fall geworden ist. Vielmehr halten sich die beiden Varianten in etwa die Waage.

Hierzu zunächst wieder einige Beispiele mit realisierten und ausgelassenen du-Subjektpronomen:

(23) Du bisch so en Schatz, danke viel, vielmol fürs sms und dis Kunstwerk vo ere Charte.

[…] (8035)

‚Du bist so ein Schatz, danke viel, vielmals fürs sms und dein Kunstwerk von einer Karte.‘

(24) […] danke för dini fürsorg gester!Ø besch en riise schatz! […] (9520)

‚danke für deine fürsorge gestern! bist ein riesen schatz!‘

(25) […] dihei simmer ersch morn abig. Du chasch aber gern alüte, bi da… (915)

‚daheim sind wir erst morgen abend. Du kannst aber gerne anrufen, bin da…‘

(26) […] Bi drum erscht am spötere abig dihei.. Ø Chasch aber denn immr na ahlüte. Bis dänn! (10538)

‚Bin darum erst am späteren abend daheim.. Kannst aber dann immer noch anrufen.

Bis dann!‘

(27) Du häsch es erchännt:o)bi früsch verliebt..:o) […](10019)

‚Du hast es erkannt:o)bin frisch verliebt..:o)‘

(28) […] Nöchschtmal chaufi echt en mac. Ø Häsch mich überzügt! (11138)

‚Nächstesmal kaufe ich echt einen mac. Hast mich überzeugt!‘

Die Beispiele zeigen, ähnlich wie oben bei der 1sg, dass bei der zweiten Person Singular zwischen Realisierung und Nichtrealisierung variiert werden kann, ohne dass ein syntaktisch realisiertes Personalpronomen zwangsläufig mit einer bestimmten pragmatischen Funktion verbunden sein muss. Es gibt jedoch durch-aus auch Beispiele, in denen genau das der Fall ist:

(29) Nei Ø musch doch nid nervös si , du chasch doch alles super ! […] (8306)

‚Nein musst doch nicht nervös sein , du kannst doch alles super!‘

Die erste mögliche Position für das du (vor dem finiten Verb musch) bleibt unbe-setzt. Erst in der zweiten Vorfeldposition (vor dem finiten Verb chasch) wird das Subjektpronomen realisiert. Diese zweite Realisierung, die weder aus strukturel-len noch aus verständnistechnischen Gründen notwendig gewesen wäre, dient

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hier der Betonung des ausgedrückten Sachverhalts – in diesem Fall als Kompli-ment an die Nachrichtenempfängerin.

Betrachtet man die Kategorie des Folgeverbs (vgl. Abbildung 11), so zeigt sich bei der zweiten Person Singular, dass nur Voll-, Kopula- und Modalverben mit realisierten und nicht realisierten Subjektpronomen der 2sg im Vorfeld auftreten.

Interessant ist dabei insbesondere das Verhalten vor Voll- und Modalverben:118 Während du-Pronomen vor einem Vollverb (VV) deutlich häufiger realisiert statt ausgelassen werden – hier scheint also eine Restriktion vorzuliegen –, fallen sie vor Modalverben (MV) deutlich häufiger aus, als sie realisiert werden. Nachfol-gende Vollverben wirken sich also eher negativ auf die Auslassbarkeit des 2sg-Subjektpronomens im Vorfeld aus, Modalverben hingegen positiv. Diese Wegfall-Präferenz des 2sg-Pronomens vor Modalverben stellt bereits Weber (vgl. 1987: 238) in seiner Zürichdeutschen Grammatik fest, in der er schreibt, dass das du meist nur bei Modalverben fehlen würde.119 Bezüglich des Verhaltens vor den Verbkate-gorien unterscheiden sich die 1sg und 2sg also deutlich. Während die 1sg vor Voll-verben besonders häufig ausfällt, ist der Wegfall der 2sg hier restringiert. Diese kann dafür aber vor Modalverben präferiert ausgelassen werden.

Für die zweite Person Singular ergibt sich schliesslich ein ähnliches Bild (vgl.

Tabelle 9) wie für die 1sg. Allerdings gibt es hier nicht grundsätzlich eine präfe-rierte Variante, sondern nur in Abhängigkeit zum Folgeverb: Vor Modalverben ist die Auslassung präferiert, vor Vollverben die Realisierung. Ansonsten kann zwi-schen Realisierung und Nichtrealisierung mehr oder weniger frei variiert werden:

Tabelle 9: Realisierungsbedingungen für die 2sg im Vorfeld in formellen vs. informellen Kontexten

2sg Formell Informell

Realisierung unmarkiert unmarkiert (präferiert vor VV) Nichtrealisierung markiert unmarkiert

(präferiert vor MV)

118 Diese beiden Verbkategorien zeigen gemäss einem durchgeführten Chi-Quadrat-Test signi-fikante Abweichungen von der für die 2sg errechneten Grundtendenz.

119 Als Beispiele für Konstruktionen mit fehlenden du-Pronomen nennt Weber (vgl. 1987: 238) u. a.: Chasch tänke! Chasch es glauben oder nüüd! Bisch nüd gschyd! Häsch rächt! Chönsch na recht haa! Wiirsch dänn gsee! Aber muesch nüd mäine! Muesch kä Angscht haa!