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Elliptische99 vs. realisierte100 Subjektpronomen

4.2  Vorfeld-Ellipsen: Empirische Befunde im Korpus

4.2.1.1  Elliptische99 vs. realisierte100 Subjektpronomen

Die prozentuale Verteilung aller ausgelassenen Subjektpronomen im Vorfeld sagt jedoch noch nicht besonders viel aus, da hierbei nur die ausgesparten Prono-mina berücksichtigt sind. Um Aussagen über die Auslassbarkeitsbedingungen der Subjektpronomen der einzelnen grammatischen Personen treffen zu können, müssen die VfE immer auch im Verhältnis zu ihren Realisierungen betrachten werden.

Abbildung 8: Realisierte und elliptische Subjektpronomen im Vorfeld, aufgegliedert nach grammatischen Personen

Die viel grössere absolute Vorkommenshäufigkeit von ich über das ganze Subkor-pus hinweg hat beispielsweise zweifellos einen Einfluss auf die Tilgungsfrequenz, aber auch grundsätzlicher: auf die Tilgbarkeit des Pronomens.101 Deshalb ist eine Darstellung notwendig, die das Verhältnis zwischen elliptischen und realisierten

99 Der Einfachheit halber wurde für alle Grafiken, Tabellen und sonstigen Darstellungen der Begriff ‚elliptisch‘ verwendet; inwiefern dieser angebracht ist, wird weiter unten diskutiert.

100 Zu den realisierten Subjektpronomen ist anzumerken, dass sie manuell ausgezählt werden mussten, da bei der Annotation nur die ausgelassenen Subjekte annotiert wurden. Dies geschah über das normalisierte Ellipsenkorpus, das dieselben (vgl. aber Fussnote 47) SMS enthält wie das annotierte Subkorpus. Dazu wurde je nach grammatischer Person die normierte Variante des jeweiligen Subjektpronomens (z. B.: ich) gesucht und auf Vorkommen im Vorfeld hin durchgear-beitet. Die manuelle Auszählung ist mehrfach überprüft worden.

101 Damit meine ich Folgendes: Die erste Person kommt im Allgemeinen am häufigsten vor und ist entsprechend als Sender_innenquelle häufig selbst Thema der Nachricht. Dass dem so ist und dass die Kommunikationsteilnehmenden sich darüber hinaus dessen bewusst sind, erleichtert die Rekonstruierbarkeit und damit in der Konsequenz auch die Auslassbarkeit der 1sg.

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Subjektpronomen bei den grammatischen Personen sichtbar macht, wie es oben in Abbildung 8 geschieht. Hier zeigt sich bereits ein etwas anderes Bild, was die Auslassbarkeit der einzelnen grammatischen Personen im Vorfeld des V2-Satzes im Schweizerdeutschen anbelangt. Die Grafik zeigt, dass die erste Person auf-grund der generell sehr hohen Frequenz ihres Vorkommens nicht nur absolut am häufigsten ausgelassen und realisiert wird, sondern dass sich das Verhältnis gar so darstellt, dass die elliptischen Subjektpronomen die realisierten übertreffen.

Das prozentuale Verhältnis zwischen den beiden Varianten beträgt dabei 59 % zu 41 %; das heisst, in deutlich mehr als der Hälfte aller Fälle wird das ich-Pronomen im Vorfeld nicht realisiert. Dieser Befund legt den (auch bei Androutsopoulos/

Schmidt (2002: 68) für das nicht-dialektale Deutsch gezogenen) Schluss nahe, dass die Nichtrealisierung der ersten Person Singular im Vorfeld schweizerdeut-scher SMS-Nachrichten den unmarkierten Default-Fall darstellt und damit zur Regel geworden ist.

Abbildung 9: Realisierte und elliptische Subjektpronomen im Vorfeld in Proportionen, aufgegliedert nach grammatischen Personen

Bei den restlichen grammatischen Personen ist es hingegen so, dass die syntak-tisch realisierte Variante des Pronomens häufiger ist als die ellipsyntak-tische. Dabei gestalten sich die Verhältnisse zwischen realisierten und elliptischen Pronomen

bei jeder grammatischen Person anders:102 Während die 2sg, deren Auslassbar-keit in der Theorie generell als unproblematisch betrachtet wird, nur ganz knapp mehr realisierte Pronomen aufweist (Verhältnis: 53 % zu 47 %), steigert sich der prozentuale Wert der realisierten Varianten bei den darauffolgenden grammati-schen Personen – so weist die 3sg einen Anteil von 59 % realisierten Subjektpro-nomen auf, bei der 1pl sind es 80 % und bei der 2pl sogar 86 % realisierte Sub-jektpronomen – bis er schliesslich bei der 3pl (77 % realisierte Subjektpronomen) wieder etwas sinkt.

Ein Blick auf die Proportionen zwischen den einzelnen grammatischen Per-sonen macht die Verhältnisse noch etwas deutlicher. Das Mosaik in Abbildung 9 oben bringt die proportionalen Verhältnisse zwischen den grammatischen Perso-nen durch die Breite der jeweiligen Flächen zum Ausdruck. Hier zeigt sich noch einmal die zahlenmässige Dominanz der ersten Person Singular. Die Spalten der 2g, 3sg und 1pl sind in etwa gleich breit, das heisst, sie kommen insgesamt gesehen ungefähr gleich oft vor (plus minus 40 Vorkommen). Ein deutlicher Fre-quenzunterschied zeigt sich dann allerdings wieder bei der zweiten und dritten Pluralperson.

Die proportionale Darstellung ist auch insofern aufschlussreich, als sie Rück-schlüsse darüber zulässt, wie häufig die jeweiligen grammatischen Personen in den SMS überhaupt Erwähnung finden und damit auch Gegenstand des SMS-Inhalts sind; einschränkend ist aber festzuhalten, dass die Auszählungen nur für das Vorfeld durchgeführt wurden. Allerdings bleibt die Tendenz auch dann eindeutig, wenn man im normalisierten Korpus103 nach dem gesamten Vorkom-men der PersonalpronoVorkom-men sucht. Schauen wir uns dazu exemplarisch die Reali-sierungen der Plural-Personen an: Im 3999 SMS umfassenden Subkorpus finden sich insgesamt 435 wir-Realisierungen (279, und damit mehr als die Hälfte davon,

102 Diese Aussage lässt sich statistisch belegen. Berechnet man die Signifikanz zwischen den Verhältnissen bei den einzelnen grammatischen Personen mithilfe eines Chi-Quadrat-Tests, so stellt sich heraus, dass bei allen eine signifikante Abweichung (bei einem Signifikanzniveau von 0.05) von einer zuvor anhand aller Realisierungen und Ellipsen errechneten Grundtendenz be-steht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man auch, wenn man die grammatischen Personen gegeneinander testet; dabei kommt heraus, dass alle ein signifikant abweichendes Verhalten aufweisen – mit Ausnahme der Plural-Personen: Deren Verhalten zeigt keine signifikanten Un-terschiede. Dieses Ergebnis ist auch darauf zurückzuführen, dass bei den Plural-Personen (zu-mindest bei der 2. und 3.) generell sehr wenige Vorkommen zu verzeichnen sind. Darauf komme ich weiter unten noch zu sprechen.

103 Die Suche im normalisierten Korpus ist an dieser Stelle deshalb wichtig, weil damit alle verschiedenen orthografischen Realisierungsformen der Pronomen erfasst werden. So wird zum Beispiel ihr unter anderem als er, ihr oder dir realisiert.

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befinden sich im Vorfeld, wie Abbildung 8 darlegt). Das Subjektpronomen der 1pl kann entweder eine Personengruppe im Umfeld der sendenden Person oder aber beide Kommunikationsbeteiligten – also Sender_in und Empfänger_in – umfas-sen und hat deshalb eine potentiell einschliesumfas-sende Funktion (vgl. Eiumfas-senberg 2013: 170). Die Sender_innenquelle, also das ich, ist in diesem wir aber immer enthalten, was dessen relativ hohe Anzahl zu erklären vermag. Das Personalpro-nomen der 2pl ihr104 kommt demgegenüber nur 10-mal vor. Das ist zunächst ein weiterer Beleg dafür, dass über SMS eine Eins-zu-Eins-Kommunikation prakti-ziert wird, wobei die geringe Frequenz des 2pl-Personalpronomens davon zeugt, dass SMS zumeist an eine Einzelperson gerichtet sind. Interessant wäre in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Gruppenchats in WhatsApp: Aufgrund der dortigen kommunikativen Konstellation – es handelt sich dabei um eine Viele-zu-Viele-Kommunikation105  – müssten sich rein hypothetisch mehr 2pl-Perso-nalpronomen finden lassen. Zu bemerken ist allerdings, dass mit dem ihr neben der primären Adressierung der empfangenden Person auf weitere Personen in deren Umfeld verwiesen wird. Das du ist aber darin stets enthalten106 (genauso wie das ich im wir, siehe oben; vgl. Eisenberg 2013: 170). Noch seltener als die Realisierung des ihr-Pronomens ist das Vorkommen des 3pl-Personalpronomens sie, das neben den oben aufgeführten Vorfeld-Vorkommen nur weitere 10-mal, also insgesamt 27-mal, zu finden ist. Daraus lässt sich schliessen, dass andere Personen(gruppen), die weder im einschliessenden wir enthalten noch mit dem Anrede-ihr angesprochen sein können, seltener Thema der SMS-Interaktion sind (vgl. auch Spycher 2004: 24). Zumindest trifft das auf die pronominale Form zu, es wäre allerdings zu überprüfen, wie häufig die 3sg als lexikalisches Subjekt auf-tritt.107

Bemerkenswert ist im Übrigen auch die Auszählung der du-Realisierungen, von denen im normalisierten Korpus 950 Vorkommen zu finden sind. Im Vorfeld sind es jedoch, wie Abbildung 8 zeigt, nur gerade 195. Es scheint also so zu sein, dass die 2sg in anderen Äusserungsformen bzw. Satzmodi als dem V2-Aussagesatz bedeutend häufiger erscheint, also beispielsweise in Fragen (vgl. dazu auch die

104 Die Realisierungen als Possessivpronomen sind von dieser Anzahl abgezogen worden.

105 Hier ist allerdings anzufügen, dass Gruppenchats auch nur zwischen zwei Personen geführt werden können.

106 Nübling (vgl. 2010: 260) hält fest, dass die 2sg und die 2pl die Adressatenfunktion gemein-sam haben.

107 Es ist darüber hinaus zu bedenken, dass Kürze ein wichtiges Kontextualisierungsmittel in der Kommunikationsform darstellt (Thurlow/Poff 2013: 176). Dafür eignen sich Pronomen als kurze Lexeme im Grunde genommen gut, allerdings nur dann, wenn der Verweis eindeutig iden-tifizierbar ist.

theoretischen Ausführungen von Thomas 1987). Das macht mit Blick auf die Rol-lenverteilung in der SMS-Interaktion natürlich Sinn – Nachrichtensender_innen tätigen üblicherweise nicht deklarative Aussagen über ihr Gegenüber, sondern erhoffen sich bestimmte Auskünfte (etwa über das Befinden der Empfänger_in oder über die Verfügbarkeit in Bezug auf eine Verabredung), z. B. durch den gewählten Fragemodus.

Ich halte daher fest: Betrachtet man die Vorkommenshäufigkeit einzelner grammatischer Personen im Vorfeld, aber auch im Allgemeinen, lassen sich daraus Rückschlüsse über die in der Nachricht thematisch integrierten Akteur_innen ziehen. So hat sich mit Blick auf das schweizerdeutsche Subkorpus für die Plural-Personen beispielsweise ergeben, dass die erste Person aufgrund ihrer Einschluss-funktion vergleichsweise häufig vorkommt, während die dritte Person Plural, die auf eine mit den Interaktionsbeteiligten nicht in Verbindung stehende Menschen-gruppe verweist, kaum in Gebrauch ist. Mit anderen Worten: Personenbezogene Thematiken in SMS tangieren in der Regel die durch Sender_innen- oder Emp-fänger_innenrolle beteiligten Interaktand_innen. Dies entspricht dem Verständnis von SMS als hochgradig sozialer Technologie, die der Bildung und Erhaltung von Beziehungen dient (vgl. Thurlow/Poff 2013: 167, 174).

Damit komme ich zurück zu den Ergebnissen aus Abbildung 8 und Abbil-dung 9. Dort hat sich gezeigt, dass den in der Theorie getroffenen Vorhersagen in quantitativer Hinsicht tendenziell zuzustimmen ist: Die 1sg fehlt häufiger als sie realisiert wird, während sich bei der 2sg ein relativ ausgeglichenes Realisierungs- vs. Ellipsenverhältnis zeigt. Die dritte Person zeigt eine Tendenz zu einer norm-grammatisch erforderlichen Realisierung, ebenso wie die Plural-Personen, die insgesamt nur sehr selten fehlen. Weiter unten soll ein detaillierter Blick auf die Auslassungsverhältnisse bei den einzelnen grammatischen Personen weiteren Aufschluss darüber geben, wie sich diese hinsichtlich ihrer Weglassbarkeit ver-halten. Anschliessend ist zu überprüfen, ob Faktoren wie Alter oder Mutterspra-che einen Einfluss auf die (Nicht)Realisierung des Subjektpronomens im Vorfeld ausüben. Zunächst gilt es aber noch zu klären, welche weiteren innersprachli-chen Faktoren neben Person und Numerus Einfluss auf die Weglassbarkeit des Vorfeld-Subjektpronomens haben.