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Steigender Altenquotient als potentielle wirtschaftliche und sozialpolitische Probleme

Kapitel 1 Politische, Wirtschaftliche und demographische Entwicklung seit 1945 als Hintergrund der wohlfahrtsstaatlichen Konstruierung

4. Steigender Altenquotient als potentielle wirtschaftliche und sozialpolitische Probleme

Neben der schnell alternden Bevölkerungsstruktur ist der Altenquotient – die Anzahl der Alten ausgedrückt als Anteil an den Erwerbsfähigen – der am häufigsten verwendete Indikator zur Kennzeichnung einer Bevölkerungsstruktur und zur Analyse ihrer Entwicklung.39 In der Übersicht 1-2 (Spalt G) ist zu erkennen: Der Altenquotient in Taiwan stieg innerhalb eines knappen Vierteljahrhunderts (zwischen 1980 und 2004) um ca. 50%. Anders formuliert: Standen 1980 einem alten Mensch noch 14,8 Personen im erwerbsfähigen Alter gegenüber, so sank diese Ziffer auf 7,5 im Jahr 2004. Der Prognose zufolge wird sich diese Ziffer bis 2024, also in zwanzig Jahren, halbieren (CEPD 2004).

Der steigende Altenquotient stellt aufgrund seiner Konsequenzen ein wirtschaftliches und insbesondere sozialpolitisches Problem dar. Wirtschaftlich wird oft von einer Belastung der

„Aktiven“ durch die „nicht Aktiven“ in der Bevölkerung gesprochen. Nach den staatlichen statistischen Angaben sank der Gesamtlastquotient – die Anzahl der nicht erwerbsfähigen Jugendlichen und Alten ausgedrückt als Anteil an den Erwerbsfähigen – ab den 1960er Jahren kontinuierlich durch die drastische Abnahme des Jugendquotienten gegenüber einer milden Zunahme des Altenquotienten. Diese günstige demographische Lage wird sich allerdings in näherer Zukunft ändern. Schätzungsweise wird der Gesamtlastquotient nach seinem Tiefstand im Jahr 2012 kontinuierlich steigen, und zwar vorwiegend durch eine starke Erhöhung des Altenquotienten verursacht (CEPD 2004). Dies lässt sich auch in der Abbildung 1 erkennen.

Die Abbildung 1-1 zeigt die Entwicklung bzw. den Trend der drei Altersgruppen, und zwar anhand ihrer Anteile an der Gesamtbevölkerung. Trotz des drastisch sinkenden Anteils der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung seit ungefähr der 1960er Jahre blieb die Zunahme des Anteils der Erwerbsfähigen unverändert, was vornehmlich auf die schleichende Steigerung des Seniorenanteils an der Gesamtbevölkerung zur

ückging

. Dies wird sich aufgrund des demographischen Wandels ca. ab 2015 anderes darstellen: Ab diesem Zeitpunkt werden die Anteile jeweils von Jugendlichen und Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung stark sinken, während der Seniorenanteil deutlich ansteigt. So könnte das etwaige Problem aufgrund des zunehmenden Seniorenanteils im Vergleich zur schrumpfenden Gruppe der wirtschaftlich Aktiven im nächsten Jahrzehnt zustande kommen.

39 Die erwerbsfähige Bevölkerung wird von der Europäischen Kommission und der UN jeweils als Menschen zwischen 20 und 64 Jahren bzw. zwischen 15 und 60 Jahren und in Taiwan als Personen zwischen 15 und 64 Jahren definiert.

Abbildung1-1: Entwicklung der drei Altersgruppen zwischen 1951 und 2050

0 10 20 30 40 50 60 70 80

1951 1960 1970 1980 1993 2003 2015 2025 2035 2045 2050 In %

Unter 14 15-64 Jahre Über 65

Im sozialpolitischen Zusammenhang werden vor allem mit Hinweis auf den steigenden Altenquotient die Finanzierungsschwierigkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung genannt, und damit einhergehend die – scheinbar notwendige – Auflösung des Generatioensvertrags postuliert. Dieses Problem wurde in Taiwan aufgrund der Struktur des Sozialversicherungssystems nicht thematisiert. Da die Altersleistungen aus den risikengemischten Berufs-Sozialversicherungen als einmaliger Pauschalbetrag gewährt werden, ist das Verhältnis zwischen laufenden Beitragszahlern und Beziehern der Altersleistungen nicht unmittelbar zu erkennen. Dennoch weisen die bisher dargestellten Diskussionen darauf hin, dass mit dem schnellen Alterungsprozess seit den 1990er Jahren das künftige Wohlfahrtssystem den Faktor des demographischen Wandels in Rechnung stellen muss.

Zusammenfassung: Wesentliche Auswirkungen der endogenen und exogenen Entwicklung auf die Konstruktion des Wohlfahrtssystems Taiwans

Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten floh das KMT-Regime 1949 nach Taiwan und verlegte den Regierungssitz der Republik China dorthin. Während des Kalten Kriegs gelang es der KMT mithilfe der US-amerikanischen Regierung ein Regime mit höherer Autonomie zu konsolidieren, das in Taiwan über ein halbes Jahrhundert regierte und

umfangreichen Einfluss auf die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung genommen hat.

Durch das Kriegsrecht und viele autoritäre Maßnahmen wurde für knapp vier Jahrzehnte das verfassungsmäßige Regierungssystem außer Funktion gesetzt, das Amt des Präsidenten zum eigentlichen Machtzentrum gemacht, die Wahlen auf nationaler Ebene wurden suspendiert und vor allem wurden zahlreiche politische Freiheitsrechte untersagt. Damit sicherte sich das KMT-Regime die Dominanz in den zentralen Vertretungsorganen und Regierungsverwaltungen.

Nur auf kommunaler Ebene fanden die Wahlen seit den 1950er Jahren statt. Sie wurden zwar immer von der KMT mit Hilfe wirkungsvoller politischer bzw. finanzieller Strategien kontrolliert, doch gewann die oppositionelle Strömung dadurch immerhin eine Entwicklungsmöglichkeit. Da die politische Sphäre – verglichen mit der wirtschaftlichen und sozialen – am strengsten eingeschränkt wurde, wirkte sich der demokratische Wandel seit Ende der 1980er Jahre unmittelbar auf diesen Bereich intensiv aus.

Die Wirtschaft, die als regulierte Marktwirtschaft gekennzeichnet wurde, stellte während der autoritären Zeit eine bedeutende freie Arena für Taiwaner dar, die auf nationaler Ebene politisch marginalisiert wurden. Durch die erfolgreiche Landreform und die Wirtschaftsentwicklung mit

„growth-with-equality“ gab es keine aus ökonomischer Unsicherheit und Deprivation sowie aus sozialer Marginalisierung erzeugten wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die leicht von oppositionellen Kräften hätten mobilisiert werden können oder direkte wohlfahrtsstaatliche Tätigkeiten erfordert hätten. Im sozialpolitischen Zusammenhang verdienen die Unternehmensstruktur und das private Versicherungswesen gesonderte Erwähnung. Diese überwiegend von kleinen und mittleren Betrieben ausgeprägte Unternehmensstruktur befindet sich in einer ungünstigen Lage, mit der Erhöhung der Lohnnebenkosten umzugehen. Dies erklärt, warum die taiwanischen Unternehmen bezüglich der Gewährung der betrieblichen Sozialleistungen einschließlich der beruflichen Ausbildung nur eine marginale Rolle spielen.

Private Versicherungen, die in vielerlei Hinsicht die staatlichen und betrieblichen Sozialleistungen ergänzen oder sogar übernehmen können, waren durch die Kontrolle des Staates über das Finanz- und Banksystem sowie die Lizenzen bis Anfang der 1990er stark unterentwickelt.

Der demographische Faktor hat bislang keinen entscheidenden Druck auf den Aufbau der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen bzw. des Alterssicherungssystems ausgeübt, da trotz der Überalterung der Bevölkerung seit den 1990er Jahren das aus dem demographischen Wandel resultierende Problem erst im kommenden Jahrzehnt akut auftreten wird.

Durch den erhöhten allgemeinen Bildungsstand aufgrund der 9 Pflichtschuljahre, die Vollbeschäftigung, den flexiblen Arbeitsmarkt und die stete wirtschaftliche Prosperität verschafften sich viele Taiwaner grundlegende berufliche Kenntnisse, ein sicheres Einkommen und die Chance einer sozialen Aufwärtsmobilität. Auf diese Art und Weise wurde eine andere Art

der ökonomischen und sozialen Sicherung gewährleistet und somit ließ sich ein minimales Wohlfahrtssystem für die Absicherung der Lebensrisiken aufrechterhalten. Dies erfolgte vor allem in Zeiten einer jüngeren Bevölkerungsstruktur. Durch den politischen, wirtschaftlichen und demographischen Wandel seit den 1990er Jahren wurden diese Parameter gewissermaßen verschoben und stattdessen neue Kontextbedingungen gebildet, welche die Konstruktion des Wohlfahrtsstaates auf eine andere Grundlage als zuvor stellen können.

Bei dem Strukturwandel ist die politische Transformation von eminenter Bedeutung. Die Aufhebung des Kriegsrechtes bzw. die Reformen hinsichtlich Politik und Verfassung verändern die Art und Weise der Formierung der legitimen Regierung und der öffentlichen Politik. Die regelmäßig stattfindenden Wahlen bringen „competitive politics“ mit sich und stellen die wichtigste Quelle der politischen Legitimität dar. Während die KMT in seiner Regierungszeit mit eindeutiger Mehrheit im Parlament und der Dominanz in der Exekutive die gesamte öffentliche Politik bzw. die Wirtschafts- und Sozialpolitik nach ihrem Interesse steuern konnte, lässt sich die Formierung und Implementierung der öffentlichen Politik nach der Demokratisierung bzw. nach dem Regimewechsel nicht mehr einseitig durch homogene und hoch konzentrierte Entscheidungen von Oben vollziehen. Sie wird vielmehr von den neu geschaffenen institutionellen Vetopunkten bestimmt, die sich durch die Ausdifferenzierung der politischen Institutionen, vor allem der konstitutionellen Gewaltenteilung zwischen dem Staatspräsidenten, der Exekutive und der Legislative ergeben. Die Auswirkung der politischen Transformation in Form einer massiven Ausweitung der Staatstätigkeiten in der sozialen Sicherung bzw. der Alterssicherung werden in den folgenden Kapiteln erörtert.

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