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Kapitel 1 Politische, Wirtschaftliche und demographische Entwicklung seit 1945 als Hintergrund der wohlfahrtsstaatlichen Konstruierung

2. Wesentliche Auswirkungen der Wirtschaftsentwicklung

2000: 217 f.), profitierten die neu entstehenden Pachtbauern in hohem Maße von der Landreform und galten deshalb als eine der wichtigsten Quellen der politischen Unterstützung für das KMT-Regime (Hwang 1995, Chen 1981). Ferner wurden im Zuge der Landreform die Bauerngenossenschaften auf dem Lande gegründet, die durch ihre vielfältigen Aktivitäten für die Bauern von großer Bedeutung waren, wie z.B. die Kreditvergabe, die Einführung neuer landwirtschaftlicher Techniken und den Transport für Agrarprodukte. Nach der Landreform übte das KMT-Regime mit seiner Dominanz in den Bauerngenossenschaften weiterhin die soziale Kontrolle über die ländlichen Regionen aus.

(2) „compressed“ Industrialisierung und ihre Konsequenzen für die Landwirtschaft

Nach der Landreform gab es Anfang der 1960er Jahre einen Überschuss von ungefähr einer Million Arbeitskräften aus den ländlichen Regionen, die gut ausgebildet waren und ein niedriges Lohnniveau hatten.34 Auf dieser Grundlage wurde eine arbeitsintensive, auf ausländischen Investitionen beruhende, von privaten kleinen und mittleren Unternehmen betriebene exportorientierte Industrialisierung in Gang gebracht. In der Folgezeit hatte Taiwan sich als Weltfabrik für die industrielle Verarbeitung von arbeitsintensiven Textil-, Chemie- und Elektroprodukten etabliert. Die Industrialisierung wird oftmals als „compressed“ bezeichnet:

Innerhalb von 15 Jahren galt sie in Taiwan als vollendet, während es in Japan und Großbritannien jeweils 25 und 50 Jahre gedauert hatte (Wade 1990: 42). 1964 war eine wirtschaftliche Wende eingetreten: Die Wachstumsrate betrug bereits über 10% und zeigte eine deutlich steigende Tendenz. Der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft kann anhand der folgenden Merkmale festgemacht werden: Die Produktion aus dem Sekundärsektor übertraf die aus dem Primärsektor, dominierte die gesamte Wirtschaft und so verlagerte sich der Export von landwirtschaftlichen hin zu industriellen Gütern (Liu u.a. 1995: 40). Diese „compressed“

Industrialisierung hatte wirtschaftliche, soziale und demographische Konsequenzen für die Landwirtschaft: Der Primärsektor schrumpfte nach der Industrialisierung dramatisch.35 Dies führte zur Stagnation des Einkommens der Bauernfamilien, Verringerung ihres „self-esteem“, einer massiven Auswanderung jüngerer Arbeitskräfte (Chen Yu-hsi 1995: 138 ff.) und nicht zuletzt zum sichtbaren Problem der fehlenden Alterssicherung.36

(3) Vollbeschäftigung, offener und dynamischer Arbeitsmarkt sowie die Einschränkung der Arbeiterrechte zu Lasten der Bildung eines Arbeiterbewusstseins und der

34 Zu dieser Zeit betrug der durchschnittliche Stundelohn in Taiwan ungefähr ein Fünftel bzw. ein Zehntel der Löhne in Japan bzw. in den USA (Liu u.a. 1995: 123).

35 Während der Anteil der landwirtschaftlichen Produktion am GNP 1952 36% betrug, halbierte er sich im Jahr 1969.

1989 betrug er nur noch 5,9% (Liu u.a. 1995: 61).

36 Den wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge bildeten die aus den ländlichen Regionen ausgewanderten Arbeitskräfte bzw. jungen Frauen den Kern der Industrialisierung Taiwans, was die Alterung der Arbeitskräfte in der ländlichen Gegend zufolge hatte. 1978 waren über die Hälfte der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft Frauen zwischen 40 und 59 Jahren (Liu u.a. 1995: 170 f.). Dies stellteeinen wesentlichen Anlass für die damalige Opposition dar, die Alterssicherung bei den demokratischen Wahlen Anfang der 1990er Jahre zu thematisieren.

Arbeiterklasse

Die Industrialisierung in Taiwan erfolgte nicht im industriellen Ballungsgebiet, sondern in den auf dem Lande und in kleinen Städten verbreiteten kleinen und mittleren Betrieben (Liu u.a. 1995:

171). Somit gehörte das Pendeln zwischen Arbeitsplatz und Wohnort zur Normalität. Bei einer faktischen Vollbeschäftigung – die Arbeitslosenquote bis zur Mitte der 1990er Jahre betrug weniger als 2% – konnten Arbeitnehmer bei unzufriedenen Arbeitsbedingungen die Stelle wechseln oder nach einigen Jahren der Beschäftigung zum Besitzer eines kleinen Unternehmens werden. Dies ermöglichte mit der Pflichtschulzeit von neun Jahren eine soziale Mobilität nach oben und vor allem führte sie zum offenen und dynamischen Arbeitsmarkt (ebd.: 173 ff.). All dies verhinderte allerdings zusammen mit der Einschränkung der Arbeiterrechte die Bildung eines Arbeiterbewusstseins und der Arbeiterklasse.

(4) Positive Auswirkungen des Wirtschaftswunders auf Wohlstand, politische Konsolidierung und Diplomatie

Die erfolgreiche exportorientierte Industrialisierung brachte ein kontinuierliches Wachstum mit sich, das unmittelbar zur Steigerung der Einkommen führte und somit quasi die absolute Armut beseitigte (Wade 1990: 53). Verglichen mit der VR China war die schnelle Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens besonders auffällig: Während dies 1950 in Taiwan ungefähr dem Niveau der VR China glich, betrug es 1989 bereits gut das 21-fache des Festlandsniveaus (zum Vergleich: US$ 7.500 in Taiwan, US$ 350 in China) (Economist 14. Juli 1990). 2000 überstieg das Einkommen US$ 14.000, was ungefähr dem Stand Westeuropas Mitte der 1980er Jahre entsprach. Entscheidend ist in dem Zusammenhang, dass die Aufschwungsphase mit einer im internationalen Vergleich homogenen Einkommensverteilung einherging (Chu 1999):

Das Einkommensverhältnis des höchsten Fünftel im Vergleich mit dem niedrigsten Fünftel der Einkommensempfänger lag vor 1990 unter dem Fünffachen, so dass Taiwan als Beispiel für

„growth-with-equity“ angeführt wird (Fei u.a. 1979, Mehmet 1999). Demzufolge fehlte auf Taiwan ein aus ökonomischer Deprivation und sozialer Marginalisierung erzeugtes, von oppositionellen Kräften leicht zu mobilisierendes gesellschaftliches Protestpotential (Schubert 1993: 87).

Die erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung war eine der wesentlichen Quellen für die Konsolidierung des autoritären Regimes (Haggard und Cheng 1987: 104). Mit dem Wirtschaftswunder erwarb sich das KMT-Regime bei der Inselbevölkerung den Ruf eines konsequenten und effizienten Modernisierungsagenten, der es verstand, den Aufschwung auch für jeden Einzelnen spürbar zu machen (Schubert 1993: 86). Sein politisches Legitimationsdefizit wurde damit in hohem Maße ausgeglichen.

Die wirtschaftliche Prosperität schaffte nicht nur eine materielle Basis für etwaige

Militärrückeroberungen auf dem Festland, sondern man wollte damit gegenüber der chinesischen Bevölkerung und vor allem der internationalen Öffentlichkeit für das „andere, freie China“

(Schubert 2003: 331) im Wohlstand werben. Die höheren Auslandsreserven dienten als Quelle gegen ernsthafte finanzielle Herausforderungen bzw. als Abfederung eines wirtschaftlichen Schocks.37 Dies ist vor allem aus dem Grunde wichtig, da Taiwan kein Mitgliederstaat in den zentralen internationalen Wirtschaftsorganisationen wie z.B. IMF oder Weltbank ist. In der jüngeren Zeit nutzte die KMT-Regierung den Wirtschaftserfolg als diplomatische Strategie, also quasi als Widerstand gegen die außenpolitische Niederlage und internationale Isolierung (Tang 2000: 67).38

(5) Ungünstige Unternehmensstruktur für die Gewährung betrieblicher Ausbildung und Sozialleistungen sowie für strukturelle Transformation

Die auf kleinen und mittleren Unternehmen beruhende Wirtschaftsstruktur hat Vor- und Nachteile, die ganz anderes als in einer von großen und öffentlichen Unternehmen ausgeprägten Struktur sind. Sie lassen sich durch völlige merkantile Energie und vor allem durch Flexibilität charakterisieren. Ihre Konkurrenzfähigkeit ergibt sich überwiegend aus dem niedrigen Lohnniveau. So sind sie sehr sensibel über die steigenden Lohnnebenkosten, wodurch sie nachdrücklich belastet werden. Ferner sind sie wenig bereit, betriebliche Ausbildung und Sozialleistungen zu gewähren sowie eine strukturelle Transformation durchzusetzen. Dies erklärt gewissermaßen die weitgehende Verlagerung der arbeitsintensiven Produktion Taiwans in die VR China seit den 1990er Jahren, die durch einen Strukturwandel erzeugt wurde und eine strukturbedingte hohe Arbeitslosigkeit zur Jahrhundertwende verursacht hat. Durch die Fortentwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft und Wissenswirtschaft, fehlende Bildungsstruktur in Betrieben und mangelnde Anpassungsmaßnahmen von Seiten der Regierung kann ein hohes Arbeitslosrisiko besonders ältere Arbeiter treffen, die meistens ein niedriges Bildungsniveau haben und in arbeitsintensiven Branchen tätig sind (Lin Da-jun 2004).

(6) Strukturwandel als künftige Herausforderung

In der Übersicht 1-1 erkennt man ein sich verlangsamendes Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit seit Mitte der 1990er Jahre, was sich im neuen Jahrhundert zugespitzt hat. 2001 erlitt Taiwan die erste Rezession im Verlauf von fünf Jahrzehnten. Diese wurde sogar von einer ungewöhnlich hohen Arbeitslosigkeit begleitet (über 4,5%). Langfristig sieht sich Taiwan einem schwierigen Strukturwandel gegenüber. Durch die wirtschaftliche Liberalisierung Ende der 1980er Jahre ist der Binnenmarkt immer enger an das

37 Bis Anfang der 1990er Jahre hatte Taiwan hinter Japan die zweitgrößten Auslandsreserven auf der Welt.

38 Zu dieser Situation schrieb Tang (2000: 67): „China has often accused Taipei of using its financial clout to attract diplomatic support. Taiwan was often accused of conducting ‘dollar diplomacy’ when it promised foreign aid to developing countries in return for diplomatic recognition. In June 1999, its foreign minister pledged US $300 million of aid to the reconstruction of Kosovo, a gesture widely criticized by the opposition parties.“

globale Kapitalsystem gebunden. So hat die von kleinen und mittleren Unternehmen getriebene Exportwirtschaft der Inselrepublik in Zeiten eines weltweiten Konzentrationsprozesses nur noch einen bedingten Wettbewerbsvorteil. Viele von diesen Unternehmen können schon heute im internationalen Wettbewerb, der sich durch die Mitgliedschaft Taiwans in der WTO noch erheblich verschärft hat, kaum mehr bestehen. Da mittlerweile nicht nur die arbeitsintensiven Wirtschaftszweige, sondern auch in wachsendem Maße die Entwicklung und Produktion von Hochtechnologie in kostengünstigere Länder – vor allem in die VR China – verlegt werden, stellt sich in Taiwan zunehmend die Frage nach den Beschäftigungsmöglichkeiten für die in den nächsten Jahren freigesetzten Arbeitskräfte. Qualifizierungs- und Beschäftigungsinitiativen, aber auch eine innovative Bildungspolitik und Maßnahmen gegen soziale Marginalisierung – für taiwanesische Verhältnisse eher ungewohnte Politikfelder – werden größere Bedeutung erlangen (Schubert 2001a).

Demographische Entwicklung

Einer der zentralen Anlässe für weltweite Diskussionen um die Reform des Wohlfahrtsstaates im Allgemeinen und des Alterssicherungssystems im Besonderen betrifft den demographischen Wandel, der sich vor allem durch die Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet und als eine der wichtigsten Herausforderungen an den Wohlfahrtsstaat betrachtet wird (World Bank 1994, Esping-Andersen 2003). Dieses Problem zeigt sich ebenfalls in Taiwan, was im Folgenden dargestellt wird.

1. Allgemeine Tendenz der Bevölkerungsentwicklung: Schrumpfende Zahl der Bevölkerung

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