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Die wissenschaftlichen Forschungen über das Gesamt-Alterssicherungssystem in Taiwan sind noch in einem Anfangsstadium. Es gibt zwar viele von taiwanischen Wissenschaftlern angefertigte Arbeiten über verschiedenen Alterssicherungsmaßnahmen (Vgl. Cheng 1993, Cheng 1994, Fu 2000, Lee 1996, Lin 1998, Yang 2000), jedoch errichtete diese sekundäre Literatur weder ein komplexes analytisches Grundgerüst noch einen erklärenden Theorieansatz, dem diese Studie zugrunde liegen kann. Um diese Lücke zu schließen, wird eine pure Fallstudie durchgeführt, die

„exploratory“ ist. Es wird vor allem versucht, konkrete Hypothesen aufzustellen und einen integrierten Theorienansatz für die Analyse und die Erklärung der Entwicklung des Alterssicherungssystems seit den 1990er Jahren zu entwickeln.9 So stützt sich diese Studie neben der sekundären Literatur vorwiegend auf die Primärquellen, die das Archiv der Legislative über die Gesetzesvorlagen ausschöpfen und die parlamentarischen Diskussionen, die Gesetzesentwürfe, die Berichte und die Konferenzarchivalien der Regierung, die Zeitungsartikel sowie die statistischen Angaben aus der Datenbank der relevanten Verwaltungsbehörden umfassen. Dies betrifft vor allem die Diskussionen über die einschlägigen politischen Entwürfe, Gesetzesvorlagen, Planungsarbeiten, gesetzlichen Vorschriften und die statistischen Angaben über das Alterssicherungssystem.

Ferner nimmt diese Studie den Ansatz einer historischen Orientierung an, weil „explanation of any social institution requires consideration of the process by which it was generated…Public pensions are the output of a political process“ (Myles 1989: 3). Die Konstruierung des Alterssicherungssystems in Taiwan ergab sich aus einem langen politischen Prozess. Die

9 Zur Anwendung der „case studies“ vgl. Gerring 2007, Kap. 2. „Case studies are useful for generating new hypothesis (S. 38). They enjoy a natural advantage in research of an exploratory nature (S. 39)…are more useful when a subject is being encountered for the first time or is be in considered in a fundamentally new way (S. 40).

The primary virtue of the case study method is the depth of analysis that it offers (S. 49)“.

institutionelle Ausgestaltung und Struktur des heutigen Alterssicherungssystems waren das Resultat aus den dynamischen Wechselwirkungen der eben erwähnten drei Einflussfaktoren.

Durch die Analyse, welche die temporale Dimension des politischen Prozesses besonders berücksichtigt, werden die Interaktionenen zwischen der Entwicklung des Alterssicherungs- systems und den erwähnten Einflussfaktoren aufgezeigt.

Die Kernaufgaben dieser Studie stellen die Beschreibung und die Erklärung der Entwicklung des Alterssicherungssystems seit den 1990er Jahren dar, das sich auf das staatlich-formale Arrangement für die Alterseinkommenssicherung bezieht. Behandelt werden sowohl das Regel- Sicherungssystem, als auch das Altersversorgungssystem. Angesichts der geringeren Rolle der privaten Altersvorsorge für die Bereitstellung der Alterseinkommen wird sie aus der Diskussion ausgeschlossen. In der Arbeit wird den folgenden Fragen nachgegangen:

(1) Wie konstruiert Taiwan das Wohlfahrtssystem für die soziale Sicherung gegen Lebensrisiken?

Welche politischen und sozialen Konsequenzen ergeben sich daraus im Bereich der Alterssicherung?

(2) Warum und wie wurde die Alterssicherungsfrage während des politischen Wandels thematisiert? Welche Auswirkungen ergaben sich daraus auf die Entwicklung des Alterssicherungssystems?

(3) Welche Entwicklungen lassen sich im Alterssicherungssystem erkennen und wie lassen sie sich erklären?

These dieser Arbeit ist: Die Wechselwirkungen zwischen den drei dynamischen Institutionen während des politischen Wandels – (1) dem Wohlfahrtssystem, (2) der politischen Institution der Interesserepräsentation durch Wahlen und Parteien und (3) dem Regierungssystem hinsichtlich der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Legislative für das policy-making – bestimmen die Entwicklung des taiwanischen Alterssicherungssystems seit den 1990er Jahren, die drei Dimensionen betrifft: (1) den Auf- und Ausbau des Basisalterssicherungs- systems, das auf den aus Haushaltsmitteln finanzierten, statusspezifischen Alterszuschuss- programmen beruht, (2) die Reformen der bestehenden Institutionen der Alterssicherung – in den Berufs-Sozialversicherungen und der staatlichen und obligatorischen betrieblichen Altersversorgung, und (3) die Konstruktion des künftigen nationalen Rentensystems. In verschiedenen politischen Phasen bilden diese drei Institutionen diverse Wechselwirkungen, die sich auf unterschiedliche Dimensionen des Alterssicherungssystems auswirken und so die Entwicklungsdynamik, die institutionellen Ausgestaltungen und die Inhalte des Gesamt- Alterssicherungssystems bestimmen. Damit werden Policy und Politics des Alterssicherungssystems behandelt. Folgenden Argumente werden in dieser Studie vorgebracht.

(1) Während sich der Wohlstand mit gewissermaßen gerechter Einkommensgleichheit aus den

„growth-with-equality“ wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien ergibt bzw. die soziale Gleichheit

aus der allgemeinen 9-jährigen Pflichtbildung entsteht, verursachte die Konstruierung des taiwanischen Wohlfahrtsstaates bis zum Beginn der 1990er Jahre gravierende Unsicherheit, Ungleichheit und Stratifizierung. Diese Probleme stellten sich vor allem im Alterssicherungs- system dar: Man erkannte einen schroffen Kontrast zwischen den staatsrelevanten Personen – Beamten, Lehrern, Militärpersonal und Veteranen – und den Senioren ohne staatliche Unterstützungen. Dies bildete eine wichtige politische Basis für die Wahlkampfmobilisierung der oppositionellen DPP bei der ersten demokratischen Parlamentswahl 1992.

(2) Die politische Liberalisierung seit 1987 bzw. eine Reihe von Verfassungsreformen Anfang der 1990er Jahre führten zum graduellen Prozess der Demokratisierung durch die regelmäßig stattfindenden, freien und demokratischen Wahlen, die dem taiwanischen politischen System einen ständigen bzw. ernsthaften politischen Parteienwettbewerb bescherten, der überwiegend zwischen der dominierenden KMT und der wichtigsten Opposition DPP stattfand. Als extern entstehende Partei verfügte die DPP über keine öffentlichen Ressourcen, so dass sie versuchte, vornehmlich durch Ideologien, und zwar in erster Linie durch politische Ideologien – wie etwa die Demokratisierung, politische Reformen und die nationale Identität Taiwans – ihren Anhängerkreis zu vergrößern. Neben den parteilichen Ideologien wurden die angewendeten Wahlkampfstrategien stark durch das Wahlsystem beeinflusst. Durch das nur in wenigen Ländern praktizierte Wahlsystem – „single non-transferable vote in multimember districts (SNTV/MMD)„ – für die Parlamentswahl wurden kandidatenzentrierte Wahlverhalten gefördert und vor allem die vom KMT-Regime seit den 1950er Jahren auf kommunaler Ebene fest gebildete klientelistische Verbindung zwischen Parteien/politischen Wettbewerbern und Wählern intensiviert. Dies führte zusammen mit dem Tatbestand, dass sozioökonomisch begründete ideologische Differenzen traditionell nur eine geringe Bedeutung für das Parteiensystem Taiwans haben, zur diversen Interessenrepräsentation der Mandate, die stark von wahlkreisspezifischen, demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen abhängig war. Bei der ersten demokratischen Parlamentswahl 1992 wurde eine beitragsfreie Altersrente zuerst von einem DPP-Kandidaten als eigene Strategie für die Kultivierung von „personal vote“ in seinem Wahlkreis, in dem viele ältere Bauern wirtschaftlich auf Schwierigkeiten stießen, mit Erfolg angewendet In der Folgezeit übte die extern entstehende oppositionelle DPP scharfe Kritik an der aus dem Wohlfahrtssystem erwachsenden Ungleichheit und Stratifizierung der Alterssicherung. Sie propagierte diese Probleme, verwendete sie als zentrales Instrument zur Wahlkampfmobilisierung und forderte somit die KMT-Regierung heraus.

Durch den quasi permanenten Wahlkampf in den 1990er Jahren – außer 1999 fand mindestens in jedem Jahr der 1990er Jahre eine Wahl statt – avancierte die Alterssicherungsfrage in kurzer Zeit zum wichtigsten nationalen Thema.

(3) Inwieweit das Thema der Alterssicherung in konkrete Politik umwandelt wird, hängt im (semi-)präsidentiellen Regierungssystem maßgeblich von der Struktur der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Legislative im Blick auf das policy-making ab.

Bis zum ersten Regierungswechsel im Mai 2000 hatte die KMT in ihrer Amtszeit mit der

Dominanz in der Legislative und der Exekutive, die nach der Demokratisierung 1987 nicht gleich erschüttert wurde, das Maß an Gewaltenteilung im politischen System verringert und sie konnte somit auf den erneuten sozialpolitischen Vorstoß mit verschiedenen sachadäquaten Maßnahmen zur Alterseinkommenssicherung schnell, substantiell und punktgenau reagieren. Nach dem Regierungswechsel 2000 ergab sich wegen des „divided government“ ein hohes Maß an Gewaltenteilung, namentlich durch die Kontrolle der Exekutive und der Legislative durch zwei gegensätzliche Parteien. So sah sich die DPP-Regierung mit harten politischen Auseinandersetzungen konfrontiert und befand sich in einer schwierigen Lage, die öffentliche Politik nach ihrem Willen bzw. Interesse durchzusetzen. Dies bewirkte bei der Entwicklung des Alterssicherungssystems die Diskontinuität, die Segmentierung und ständige Änderung der Konzepte über das künftige Rentensystem. Erst nach der Parlamentswahl Ende 2001 veränderte sich die parteiliche Konstellation im Parlament und so wurde die politische Sackgasse beseitigt.

(4) Dabei wird die Ausgestaltung der eingeführten Alterssicherungsmaßnahmen gewissermaßen durch die Charakter der Parteien und die Logik der politischen Kompetition bestimmt. Die fehlende parteipolitische Ideologie hinsichtlich der sozialen Sicherung, die Orientierung der politischen Parteien an kurzfristigen Wahlerfolgen und die patronagezentrierte politische Kompetition führen bei den politischen Parteien zur Partikularität in der Sozialpolitik. So entwarf die KMT-Regierung im heftigen und scharfen politischen Wettbewerb verschiedene Ad-hoc-Alterszuschussprogramme zur Verbesserung der Alterseinkommenssicherung gegen die rentenpolitische Herausforderung der Opposition. Mit diesen Maßnahmen, die gruppenspezifisch und deshalb hoch personenkonzentriert sind, direkte Transferleistung gewähren und vor allem keine komplizierte Technik für die Verwaltung und die Finanzierung erfordern, ist es der KMT gelungen, deutliche „credits“ bei Wählern bzw. Senioren zu gewinnen. Allerdings erzeugten diese institutionell segmentierten Alterszuschussprogramme neue Ungleichheit zwischen den Senioren mit verschiedenem sozialem Status. Bei der Reform der bestehenden berufsbezogenen Institutionen für die Alterssicherung, die kaum ein Wahlkampthema darstellte und deshalb von den Wirkungen des politischen Wettbewerbs isoliert war, und der Konstruierung des nationalen Rentensystems, die vornehmlich durch die Initiative der DPP – das Vorlegen der ersten Gesetzesvorlage über die nationale Rentenversicherung im Parlament – erzeugt, aber im Wahlkampf nicht besonders betont wurde, kam der Exekutive eine zentrale Rolle zu. Nach dem Regierungswechsel 2000 blieb dies kaum verändert. Die polarisierte Parteienkonkurrenz seit 2004 führte aber dazu, dass das Problem der Ungleichheit im Alterssicherungssystem durch die vom Staatspräsidenten Chen (DPP) initiierten Maßnahmen verschärft wurde. Bei der Frage der Alterssicherung bevorzugte er eine Partikularität und interpretierte diese als Umverteilungsgerechtigkeit, nämlich die Abschaffung der Privilegien der Alterssicherung für die staatsrelevanten Personen gegenüber der Leistungserhöhung im Alterszuschussprogramm für Landwirte und Fischer. Die Alterssicherungsfrage stellt daher nicht nur eine sozialpolitische Frage dar, sondern sie ist auch eine Frage der Umverteilungsgerechtigkeit zwischen den zwei Berufsgruppen, die jeweils (vornehmlich) hinter der KMT und der DPP stehen.

(5) Das bestehende soziale Sicherungssystem bzw. seine Entwicklung beeinflussen die weitere Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. In einem von Sozialversicherungen dominierten Wohlfahrtssystem wurde eine aus Haushaltsmitteln finanzierte, auf dem Sozialbürgerrecht beruhende Volksrente von Anfang an von der Regierung in der Planung des künftigen Rentensystems abgelehnt, während hingegen einer Rentenversicherung der Vorzug gegeben wurde. Mit dem Auf- und Ausbau des Basisalterssicherungssystems, das aus den eben erwähnten Alterszuschussprogrammen besteht, wurden bis 2004 über 70% der Menschen über 65 Jahre zu Empfängern der staatlichen Transferleistung. Dadurch ging die politische Bedeutung einer universalen Institution für die Alterssicherung allmählich verloren, was an der Veränderung der Rentenentwürfe der Regierung erkannt werden kann, also weg von einer umfassenden und vor allem die bestehenden Berufs-Sozialversicherungen integrierenden Rentenversicherung hin zu einer kleinen Rentenversicherung, die nur auf die bis dahin nicht sozialversicherten Personen zwischen 25 und 65 Jahren zielen sollte, also vornehmlich auf die Hausfrauen, Studenten und Langzeitarbeitslosen.

(6) Wie erwähnt, betraf die Entwicklung des Alterssicherungssystems seit den 1990er Jahren drei Dimensionen – den Auf- und Ausbau des Basisalterssicherungssystems, die separaten Reformen in bestehenden berufsbezogenen Institutionen der Alterssicherung (in der Beamtenversicherung sowie in der staatlichen und obligatorischen betrieblichen Altersversorgung) und die Konstruktion des künftigen nationalen Rentensystems –, die jeweils ein unterschiedliches Entwicklungsmuster charakterisierten bzw. auf verschiedener Ebene (Hall 1993) erfolgten. Die layering-Entwicklung kam im Auf- und Ausbau des Basisalterssicherungssystems durch die Einführung verschiedener statusdifferenzierter Alterszuschussprogramme vor und wurde stark durch den politischen Wettbewerb beeinflusst. Die institutionelle conversion erfolgte sowohl im Regel- Alterssicherungssystem der Berufs-Sozialversicherungen (die Änderungen auf der ersten und zweiten Ebene) als auch im System der beruflichen Altersversorgung (die Änderungen auf der dritten Ebene); sie wurden vornehmlich durch die endogenen Probleme der jeweiligen Systeme erzeugt und stellten in erster Linie die Verwaltungsarbeit dar. Durch eine multidimensionelle Entwicklung erhöht sich die Komplexität des gesamten Alterssicherungssystems, was sich wiederum hemmend auf die Konstruktion eines universalen Rentensystems auswirkt, das die bisher kaum im Wohlfahrtssystem Taiwans betonte Umverteilung und soziale Solidarität fördern könnte.

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