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Kapitel 2 Die Konstruierung des Wohlfahrtsstaates seit 1945

C. Inkrafttreten des „Gender Equality in Employment Act“

3. Struktur der Sozialausgaben der Zentralregierung

Ein Überblick über die Verteilung wohlfahrtsstaatlicher Ressourcen bietet die Übersicht 2-11, die die Struktur der Sozialausgaben der Zentralregierung für das Jahr 1999 auflistet, beziffert nach der Höhe der Ausgaben und deren Anteile an den Sozialausgaben.43 Die institutionelle Aufteilung zeigt, für welche Institutionen bzw. in welchem Umfang die Ausgaben vergeben wurden und welches Gewicht diese Institutionen im Wohlfahrtssystem haben. Folgende Strukturen werden hier deutlich:

(1) Eine überragende Rolle im Wohlfahrtssystem spielt die Sozialversicherung: Gut die Hälfte (50,58%) der Sozialausgaben wurden hierüber abgewickelt. Dies erfolgte vornehmlich durch die Beitragszahlung der Regierung für die Nationale Gesundheitsversicherung und die vier Berufs-Sozialversicherungen. Dadurch erkennt man: Die Regierung gab den die Produktion

43 Aufgrund der komplizierten und vor allem schwer zugänglichen statistischen Angaben über die Sozialausgaben in Kommunen bezieht sich die diesbezügliche Diskussion auf die Ebene der Zentralregierung.

fördernden Ausgaben für Gesundheit einen Vorzug, während sie – wie im Folgenden dargestellt wird – den Ausgaben für Einkommenssicherung und Soziale Dienste eine geringe Bedeutung zumaß. Die Erwerbstätigkeit wurde zwar betont, dennoch förderte die Regierung diese nicht mit direkten Sozialleistungen, sondern mit Hilfe des Beitragszuschusses für die Sozialversicherungen.

(2) Mit einem Anteil von 30,23% der Sozialausgaben schlugen die Wohlfahrtsdienste zu Buche.

Dabei wurden ca. 55% dieser Ausgaben allein für den Alterszuschuss verwendet.

(3) Wie erwähnt hat die Sozialhilfe nur eine geringe Bedeutung im Wohlfahrtssystem Taiwans: Sie umfasste 8,37% der Sozialausgaben.

(4) Das Gesundheits- und Sanitätswesen umfasste 9,5% der Sozialausgaben. Die Volksbeschäftigung hatte nur einen nachrangigen Stellenwert: nur 1,32% der Sozialausgaben wurden für berufliches Training und Arbeitsvermittlung gezahlt.

(5) Der unangemessenen Zuordnung zufolge hatten die Sozialausgaben einen größeren Umfang als vorgesehen z.B. wurden vor 1998 bzw. 2000 die „Entschädigung für Importverluste bei landwirtschaftlichen Produkten“ und die „Entschädigung für Preisunterschiede beim Reiskauf“ jeweils der Sozialhilfe und Wohlfahrtsdienste zugeordnet. Nach intensiver Kritik von wissenschaftlicher Seite wurden sie aus den Sozialausgaben ausgeschlossen.

(6) Quantitativ auffällig sind die Ausgaben für die Alterszuschussprogramme: Würde man all diese Ausgaben summieren, also die Aufwendungen für die Lebensunterhaltshilfe für Veteranen, den Alterszuschuss für Landwirte und „Altersehrenzuschuss“ (im Bereich Wohlfahrtsdienste) sowie den Lebensunterhaltszuschuss für Alte in Haushalten mit mittleren und niedrigen Einkommen (im Bereich der Sozialhilfe), dann beliefe sich dieser Etat auf knapp 20% der Sozialausgaben der Zentralregierung. Würden die Sozialversicherungs- ausgaben, die personen- und altersneutral sind, und die Ausgaben für die „Entschädigung für Preisunterschiede beim Reiskauf“, die nicht der „sozialen Wohlfahrt“ zuzurechnen sind, ausgeschlossen, hätte die Zentralregierung 1999 46% aller Sozialausgaben für Senioren ausgegeben. Der Ausbau des Alterssicherungssystems seit 2002 hatte starke finanzielle Auswirkungen auf die Zentralregierung : Durch die Einführung des Alterswohlfahrts- zuschusses und die Erhöhung des Alterszuschusses für Landwirte und Fischer, die von der Zentralregierung aus Haushaltmitteln finanziert werden, könnte das Budget für ältere Menschen in näherer Zukunft einen steigenden Anteil an den Sozialausgaben der Zentralregierung betragen, wodurch sich ein seniorenzentriertes Wohlfahrtssystem etablieren könnte

Übersicht 2-11: Struktur der Sozialausgaben der Zentralregierung 1999 Leistungs-

empfänger

Ausgaben Ausgaben in % der Sozialausgaben In 10.000 In 10 Mio. NT$ In %

Sozialversicherung 1.426 50,58

Nationale Gesundheitsversicherung 2.091,2 837 29,69

Arbeiterversicherung 759,4 280 9,93

Versicherung für Beamte und Lehrer 62,5 120 4,26

Versicherung für Landwirte und Defizitzuschuss 180,5 82 2,91

Militärversicherung k.A.1 78 2,77

Sonstige - 29 1,03

Wohlfahrtdienste 852,3 30,23

Lebensunterhaltshilfe für Veteranen 12,4 225 7,98

Einrichtung für Alte, Behinderte und Kinder - 195 6,92

Alterszuschuss für Landwirte 43,1 160 5,68

Entschädigung für Preisunterschied des Reiskaufs2 - 97 3,44

Unterhaltszuschuss für Behinderte - 90,3 3,20

- Heimpflege 6,0 11,4

-- Lebensunterhaltszuschuss 10,0 68,7

-- Zuschuss zu Ausstattungen mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln

4,9 10,3

-Altersehrenzuschuss 40,9 80 2,84

Entschädigung für die Opfer des 2-28 Zwischenfalls - 5 0,12

Sozialhilfe - 236 8,37

Lebensunterhaltszuschuss für Alte im Haushalt mit mittleren und niedrigen Einkommen

20,2 98 3,48

- Leistungsniveau 6.000 10,2 67

-- Leistungsniveau 3.000 10,0 31

-Lebensunterhaltszuschuss (LUZ) - 36,7 1,30

- LUZ für Familien 4,7 23,2

-- LUZ für Schüler 1,1 4,7

-- Arbeit statt Hilfe 7,9 6,4

-- Bildungszuschuss 0,6 0,6

-- Beihilfe für bestimmte Feiertage 8,2 1,8

-Entschädigung für Importverlust der landwirtschaftlichen Produkte2

- -

-Sonstige - 101,3 3,59

Volksbeschäftigung - 37 1,32

Gesundheits- und Sanitätswesen 268 9,51

Insgesamt 2.819 100

Anmerkungen:

1 k. A.= keine Angabe.

2Die Ausgaben für „Entschädigung für Preisunterschied des Reiskaufs“ sowie für „Entschädigung für Importverlust der landwirtschaftlichen Produkte“ sind seit 2000 sowie seit 1998 aus den Sozialausgaben der Zentralregierung ausgeschlossen worden.

Quelle: Innenministerium 2002: 27, Yearbook of Financial Statistics, Republic of China 2001: 42.

Wesentliche Probleme im Wohlfahrtssystem: Unsicherheit, Stratifizierung und Ungleichheit

Vor der sozialpolitischen Expansion der 1990er Jahre waren eine eindeutige Unsicherheit,

Stratifizierung und soziale Ungleichheit im sozialen Sicherungssystem erkennbar.

DieUnsicherheit resultierte vor allem daher, dass die Sozialpolitik Taiwans in erster Linie auf die Absicherung der Staatsklientel zielte und sich graduell auf die Beschäftigten der Privatwirtschaft ausdehnte. Das Wohlfahrtssystem wies große Lücken hinsichtlich der sozialen Sicherung für die schützbedürftigen Personen auf, die zumeist nicht im Arbeitsmarkt involviert waren. Betrachtet man beispielhaft die in Taiwan vielgelobte Gesundheitsvorsorge, so zeigt sich, dass arme Menschen und Behinderte erst seit 1990 sowie Kinder und Senioren erst nach der Einführung der NGV 1995 krankversichert sind. Mit dem sozialpolitischen Ausbau der 1990er Jahre, der sowohl die Integration der sozialen Randgruppen in das bestehende System als auch die Einführung neuer spezifischer Maßnahmen betraf, wurde diese Sicherungslücke gewissermaßen ausgefüllt, und zwar vorwiegend in der Gesundheitsvorsorge, jedoch nicht hinsichtlich der Einkommenssicherung.

Das Problem der Stratifizierung resultierte aus dem unterschiedlichen Maß der Institutionalisierung von korporatistischen Sozialversicherungen sowie aus ihren gesetzlichen Regelungen. Während die Militär- und Beamtenversicherung, die genauso wie die Arbeiterversicherung in den 1950er Jahren eingeführt wurden, hinsichtlich des erfassten Personenkreises, der gedeckten Risiken und gewährten Leistungen von Anfang an institutionalisiert waren, gewann die AV mit der Gewährung wichtiger Versicherungsleistungen erst allmählich an Bedeutung – z.B. der ambulanten medizinischen Vorsorge ab 1970 – und vor allem der Erweitung der Zielpersonen – z.B. die Ausdehnung auf kleine Unternehmen mit fünf Beschäftigten sowie auf Selbständige ab 1979. Eine Sozialversicherung für landwirtschaftlich Beschäftigte gibt es erst seit 1985, die im Vergleich zu den erwähnten drei Berufs- Sozialversicherungen allerdings keine Altersleistungen gewährt. Dieses Stratifizierungsmuster – also Militärpersonal, Beamte und Lehrer als die am besten abgesicherten, gefolgt von den Arbeitnehmern der Privatwirtschaft und den landwirtschaftlich Beschäftigten – wird durch die einschlägigen separaten Gesetze verschärft, welche unterschiedliche Zugangskriterien, Anspruchsvoraussetzungen, Berechnungsgrundlagen für Beiträge und Leistungen sowie Berechnungsformeln für die Leistungen vorschreiben. In der Folge werden den Versicherten beim Auftreten des gleichen Risikos auf Grundlage ihres Beschäftigungssektors unterschiedlich hohe Versicherungsleistungen gewährt. So wird in den folgenden Kapiteln gezeigt, dass die Staatsbeamten im Durchschnitt eine deutlich höhere Altersleistung aus der Berufs-Sozialversicherung erhalten als die Beschäftigten der Privatwirtschaft. Außerdem ist – den Gesetzen zufolge – der Beitragsanteil der Regierung nicht an das Einkommen, sondern an den Berufsstatus gekoppelt. Die Regierung übernimmt z.B. für alle angestellten Versicherten der AV 10% der Beiträge ohne Rücksicht auf ihr Lohnniveau. Dies wirkt sich in Form einer negativen Einkommensverteilung nach Oben aus, da mit dem Einkommen der Versicherten auch die Höhe des staatlichen Zuschusses für die Sozialversicherungsbeiträge wächst. Ferner errichtet die institutionelle und gesetzliche Separation der Berufs-Sozialversicherungen eine ernsthafte

Barriere für eine künftige Systemintegration. Dies zeigte sich besonders deutlich bei der Planung des Aufbaus einer umfassenden Rentenversicherung in den 1990er Jahren .

Die durch den Berufsstatus bewirkte Stratifizierung des Versicherungssystems verursacht eine soziale Ungleichheit, die vor allem in den sozialen Transferleistungen für die Alterssicherung stark ausgeprägt ist. Vor der Reform 1995 gewährte die Regierung aus den Haushaltsmitteln für Militärpersonal, Beamte und Lehrer der öffentlichen Schulen eine staatliche Altersversorgung auf hohem Niveau. So wurden ca. 7% der Gesamtstaatsausgaben für weniger als 3% der Gesamtbevölkerung gegeben. Dieses Privileg der Staatsklientel war aus den folgenden Gründen besonders auffällig und wurde von Wissenschaftlern stark kritisiert (Lin 1990). Vor den 1990ern Jahren war der Umfang der Gesamtsozialausgaben insgesamt sehr gering; das Wohlfahrtssystem gewährte überwiegend nur Sachleistungen; für die Beschäftigten der Privatwirtschaft gab es rigide Anspruchsbedingungen hinsichtlich der betrieblichen Altersleistungen. Mit der Reform der staatlichen Altersversorgung 1995, die eine Gegenleistung in Form von Beiträgen von den Zielpersonen forderte, der Einführung der Transferleistungen für Behinderte und Senioren seit Mitte der 1990er Jahren und der Reform der betrieblichen Altersversorgung 2005 wurde diese Ungleichbehandlung verringert. In letzter Zeit lässt sich jedoch eine neue soziale Ungleichheit bei der Alterssicherung erkennen, die sich aus dem partikularistischen und statusfragmentierten Basisalterssicherungssystem ergibt: Menschen über 65 Jahre, die keine Empfänger der Altersleistungen aus Berufs-Sozialversicherungen und Altersversorgungen sind, werden nach ihrem Einkommen und dem sozialen Status verschiedenen Alterszuschussprogrammen zugeordnet.

Die theoretischen Erklärungen

Die Sozialpolitik ist in ein komplexes Kräftefeld eingebunden. Dies lässt sich insbesondere mit Hilfe der zentralen Theorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung hinreichend genau erfassen (Schmidt 2007). Wissenschaftler haben die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates Taiwans in bestimmten Zeiträumen im Allgemeinen und die Entwicklung einzelner sozialpolitischer Maßnahmen im Besonderen anhand verschiedener Theorieperspektiven erklärt.44 Dabei werden den politischen und institutionellen Faktoren die größte Bedeutung beigemessen.

Zusammenfassend lassen sich die theoretischen Perspektiven zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung Taiwans wie folgt porträtieren:

Erstens, das autoritäre Regime spielte eine zentrale Rolle im Aufbau des Wohlfahrtssystems. Die Sozialpolitik war „in substantial measure the product of a desire to build political support for the regime in power“ (Ramesh und Asher 2000: 9 f.). Die politische Funktion der Sozialpolitik war in

44 Zu den Literaturhinweisen über die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Taiwan vgl. Einleitung.

den verschiedenen Phasen unterschiedlich:

(1) Zur Konsolidierung des Regimes und die politische Kontrolle in den 1950er Jahren

Da die Ursache des verlorenen Bürgerkriegs im Festland China nicht nur auf militärische und politische Gründe zurückzuführen war, sondern auch auf die Unruhen aufgrund der mangelhaften sozialen Absicherung der Arbeiter und Bauern, hielt das KMT-Regime die Stabilität der Arbeiterschaft für besonders wichtig und führte 1950 das Arbeiterversicherungsprogramm ein.

Dies erfolgte also ein Jahr nach der Übersiedlung des Regimes nach Taiwan und vor allem vor der Industrialisierung und Urbanisierung, aus denen sich für das Regime herausfordernde soziale Fragen ergaben. Neben der sozialen Sicherung der Arbeiter hatte diese frühzeitige sozialpolitische Initiative die Funktion der sozialen Kontrolle über die Arbeiterschaft (Fu 1993): Neben den Beschäftigten in öffentlichen und großen Unternehmen, die damals quasi staatlich waren, wurden nur die Mitglieder der Gewerkschaften von der Arbeiterversicherung erfasst. Mit der bedeutenden Reis- und Zuckerproduktion waren die Zuckerrohrbauern mit den öffentlichen Betrieben eng verbunden und deshalb als einzige landwirtschaftliche Gruppe sehr früh sozialversichert (ebd.: 57).

Da sich das KMT-Regime Anfang der 1950er Jahre mit den etwaigen kommunistischen Angriffen und der Stabilisierung seiner politischen Legitimität konfrontiert sah, wurde die Sozialversicherung für seine Kernanhänger – Militärpersonal, Staatsbeamte und Lehrer – durchgeführt, die dem Regime zur Staatssicherheit und eigenen Konsolidierung verhelfen sollten.

(2) Als Maßnahme gegen internationale und nationale Krisen in den 1970er Jahren

Nach den innen- und außenpolitischen Krisen in den 1970er Jahren – der diplomatischen Niederlage und der Herausforderung durch oppositionelle Strömungen – wurden die „drei grundlegenden Gesetze der sozialen Wohlfahrt“, also das Sozialhilfegesetz, das Behinderten- und Alterswohlfahrtsgesetz, zeitgleich im Jahr 1980 erlassen, da sie zu einem positiven internationalen Image und muffing effect (Øyen 1986) gegen gesellschaftliche Unruhe beitragen konnten. Diese ausschließlich für sozial Schwache eingerichteten Sozialgesetzgebungen hatten nur begrenzte Funktionen, da neben den strengen Zugangsbedingungen kaum konkrete Maßnahmen im Gesetz vorgeschrieben und vor allem die für die Zielsetzungen erforderlichen Mittel und das Verwaltungspersonal nach dem Inkrafttreten der Gesetze nicht entsprechend gegeben waren. Die Gesetze hatten bis in die 1990er Jahre einen improvisierten und rückständigen Charakter; die Wirkungen können als minimal und marginal beschrieben werden.

Zweitens, die Einflussnahme der USA und internationaler Organisationen auf die sozialpolitische Entwicklung Taiwans – also die These der internationalen Diffusion – war nur gering; sie wurde durch die innenpolitischen Bedingungen eingeschränkt. Nach dem Austritt Taiwans aus der UN war der internationale Einfluss auf die Sozialpolitik Taiwans kaum zu sehen. Dennoch berücksichtigten die Verwaltungen bei der Konzipierung neuer sozialpolitischer Maßnahmen die

von den internationalen Organisationen aufgebrachten Ideen wie z.B. das Rentenreformkonzept der Weltbank (1994), solange diese Ideen die Wirtschaftsentwicklung nicht beeinträchtigten.

Drittens, ähnlich wie die anderen ostasiatischen Länder wurde die bevorzugte Orientierung der Staatsaufgaben bei der Konstruktion des taiwanischen Wohlfahrtssystems in erster Linie von der Wirtschaftsentwicklung geprägt (Holliday 2000 und 2005, Kwon 2005). Dies erklärt sowohl die frühzeitige Entwicklung der Sozial- bzw. Krankenversicherung sowie der allgemeinen Bildung wie auch die in der Literatur kaum erwähnte Entwicklung des Arbeiterschutzes.

Für eine Exportwirtschaft, die von klein- und mittelständischen Unternehmen betrieben wird und von ausländischen Investitionen abhängt, ist die Inkraftsetzung des Arbeitsnormengesetzes (ANG) sehr ungünstig, da sowohl die obligatorischen Mindestanforderungen für Arbeitsverträge als auch die Pflichten der Arbeitgeber bezüglich betrieblicher Sozialleistungen zu steigenden Lohnnebenkosten und somit zur Belastung der Unternehmen führen. Warum wurde es dann 1984 verabschiedet? Zeitgleich zur Verkündigung des ANG wurden zwei Maßnahmen zur Wirtschaftstransformation eingeführt: Neben der Zulassung der ausländischen Importe und Absenkung der einschlägigen Zölle, die auf die Preisflexibilität im Binnenmarkt zielten, wurde eine neue Steuervergünstigung für Unternehmen bei Ausgaben für Produktionsstätten und Investitionen eingeführt. Mit dieser Steuervergünstigung sollten die durch das Inkrafttreten des ANG erzeugten Lohnnebenkosten ausgeglichen werden. Die KMT-Regierung beabsichtigte damit, Unternehmen zur Investition in neue Produktions- und Entwicklungsmethoden zu ermutigen und dadurch eine Wirtschaftstransformation herbeizuführen (Wang 1993).

Viertens, wie in vielen ostasiatischen Ländern ist der zentrale Einflussfaktor für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung die Demokratisierung: „The East Asian welfare states are under threat from democratic political pressures“ (Goodman u.a. 1998: 377). In Taiwan erfolgte die Einflussnahme der Demokratisierung auf die Sozialpolitik überwiegend durch die Mobilisierung der sozialen Gruppen und den politischen Wettbewerb.

(1) Mobilisierung der sozialen Gruppen und Arbeiterbewegung

Die Demokratisierung „afford opportunities for newly empowered groups to press demands which the government could not always ignore“ (Ramesh 2003: 93). Diese „newly empowered groups”

stellen in Taiwan vornehmlich die sozialen Randgruppen dar, weniger die Arbeiter.

A. Massenbewegungen von Gruppen der sozial Schwachen und Benachteiligten

Nach der Aufhebung des Kriegsrechtes im Jahr 1987 wurden dem Volk zahlreiche politische Rechte verliehen und dadurch die Möglichkeit zur Gründung vielfältiger zivilgesellschaftlicher Organisationen geschaffen, darunter auch die Wohlfahrtsverbände. Diese setzten sich für die

Belange der marginalisierten Bevölkerungssegmente ein, also Behinderte, Senioren, Frauen, Kinder, Ureinwohner, Arbeiter und Landwirte, welche im Wohlfahrtssystem besonderes vernachlässigt wurden, und fungierten als Sprachrohr für die sozialen Bedürfnisse dieser Personen.

Durch heftige Demonstrationen auf der Strasse, vor dem Parlament und den zuständigen Behörden forderten diese Organisationen einen Verbraucher- und Umweltschutz, neue Sozialgesetzgebungen und eine gerechte Verteilung der Wohlfahrtsressourcen.45 Dadurch traten sie als maßgebliche Akteure im Prozess des Ausbaus des Wohlfahrtssystems auf.

Diese Organisationen befassten sich in der Regel mit gruppenspezifischen Problemen und versuchten, bestimmten Gruppen Gehör zu verschaffen und deren Situation positiv zu verändern (Hsiao 1997). Die von ihnen mobilisierten Protestbewegungen waren issue-bezogene Aktionen, die nicht immer in offener Gegnerschaft zum KMT-Regime befanden. Zu Beginn der Demokratisierung bestand dennoch eine enge Verbindung der Protestbewegungen mit der oppositionellen DPP. Während die DPP versuchte, mittels Kooperation mit allen vorhandenen oppositionellen Strömungen ihre potentielle Anhängerschaft zu vergrößern und dadurch das KMT-Regime herauszufordern, erreichten die Wohlfahrtsverbände durch die Zusammenarbeit mit der DPP eine politische Repräsentation ihrer sozialen Vorstellungen. Diese zweckgebundene Kooperation trug zu einer bedeutenden wohlfahrtspolitischen Expansionsdynamik bei, die sich auf die sozial marginalisierten Gruppen konzentrierte. Somit wurden nach drei Jahrzehnten ungehemmter kapitalistischer Entwicklung neue verteilungspolitische Prioritäten festgelegt (ebd.).

Die sozialen Protestbewegungen Anfang der 1990er Jahre führten zu einer „Renaissance“ der in früheren Jahren niedergeschlagenen Zivilgesellschaft und zur Bildung eines Klassenbewusstseins der sozialen Randgruppen. Die Bemühung der KMT-Regierung, die zivilgesellschaftlichen Forderungen mit verschiedenen Reformen aufzugreifen und sie damit in regelgeleitete Dialogprozesse zu überführen, trug zu einer überraschend schnellen Versachlichung der Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft bei (Schubert 2003: 343). Allerdings bedeutete dies nicht die Formierung einer gut funktionierenden Zivilgesellschaft, die für die letzte Phase der demokratischen Konsolidierung kennzeichnend ist (Merkel 1999). Die sozialen Bewegungen waren gruppen- und themenspezifisch, aber nicht solidarisch. Nicht selten hatten sie konträre Anforderungen an staatliche soziale Unterstützungen. Die „Reformen von oben“, die zumeist separat und auch gruppenspezifisch verliefen, dienten der KMT-Regierung im Wesentlichen dem Entgegenwirken ihrer Legitimitätskrise; sie bildeten jedoch gleichzeitig ein ernsthaftes Hindernis für den Aufbau eines universalen, klassen-, geschlechts- und statusübergreifenden Wohlfahrtssystems sowie für die Formierung der Koalitionen von breiten Bevölkerungsschichten, die sich bei der wohlfahrtspolitischen Reformfrage solidarisieren konnten. Nachdem die

45 „Before 1987, the number of social protests was not so many and the scale was often small. However, social protests occurred in great number after the abolishment of martial law. Take the example of 1987, there were 1.800 protests regardless of the scale, this number is greater than the total protest numbers of 1.500 that happened during the period from 1982 to 1987. The lifting of martial law in 1987 opened the door for Taiwan’s civil society. Seemly, Taiwan became a momentary paradise for the demonstrators.“ (Lu und Lin 2000: 297).

KMT-Regierung neue sozialpolitische Schritte als Gegenmaßnahme eingeführt und vor allem die wichtigsten Persönlichkeiten der sozialen Gruppen in bedeutende Funktionen berufen hatte, stießen diese Bewegungen innerhalb kurzer Zeit an die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten und verloren damit an Bedeutung. Zudem distanzierte sich die DPP aufgrund ihrer Transformation immer mehr von den sozialen Initiativen. Ab Mitte der 1990er Jahre sind keine großen Protestbewegungen mehr zu erkennen.

B. Gewerkschaften und Arbeiterbewegung

Verglichen mit dem Erfolg der sozialen Randgruppen in den sozialpolitischen Initiativen spielte die Arbeiterbewegung de facto keine Rolle. Warum war dies so?

Die Gewerkschaften in Taiwan unterscheiden sich grundsätzlich von denen in anderen Entwicklungsländern (Galenson 1979, zitiert nach Bürklin 1994: 127): Haben sie sich in anderen Ländern oftmals als hinderlich für die Wirtschaftsentwicklung erwiesen, so könne hingegen für Taiwan von einem positiven Effekt der Gewerkschaften auf die Wirtschaft gesprochen werden.

Dies steht auch mit der Feststellung im Einklang, dass die große Mehrheit der taiwanischen Arbeiterschaft bis in die jüngste Zeit Gewerkschaften für die Durchsetzung ihrer Interessen für wenig nützlich hielt und sich das System gewerkschaftlicher Tarifverhandlungen daher keiner großen Beliebtheit erfreute. Die schwache Struktur der taiwanischen Gewerkschaften geht im Wesentlichen auf die in den 1940er Jahren durchgeführten Maßnahmen zurück, die die Funktion der Gewerkschaften erheblich einschränkten: die Festsetzung des Mindestlohns durch Kabinettsbeschluss, ein Zwangsschlichtungsverfahren und die Aufhebung des Streikrechtes.46 Außerdem war eine offensive gewerkschaftliche Aktivität – ohne gegen bestehende Gesetze zu verstoßen – praktisch unmöglich, da viele Aktivitäten von Seiten der Streikposten sehr schnell als strafrechtliches Delikt definiert wurden.47 Während der Arbeiterschaft mit der Inkraftsetzung des ANG die Sozialrechte zugesprochen wurden, wie etwa den Arbeiterschutz und vor allem die betrieblichen Sozialleistungen versagte man ihr hingegen die politischen Rechte: Die Novelle des Gewerkschaftsgesetzes (1975) stellte die Gewerkschaften unter direkter Kontrolle der KMT (Deyo 1989: 118); die Revision des Gesetzes über die Behandlung von Arbeiterstreiten (1988) benachteiligte die politische Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit der Arbeiterschaft (Wang 1993:

115, Lee 1996: 30). All diese gesetzlichen Einschränkungen boten eine wirkungsvolle Handhabe zur Unterbindung einer konfliktfähigen Arbeiterbewegung für die Interessenvertretung der Arbeiterklasse.

46 Zu diesbezüglichen autoritären Maßnahmen vgl. Kapitel 1, S. 29 ff.

47 Dies betraf nicht nur die Gewalt bei Tarifstreitigkeiten, sondern auch die Behinderung der Arbeitswilligen sowie die Aufforderung zur Senkung der Arbeitsgeschwindigkeit. Das Gesetz sah vor, Gewerkschaften, denen eine Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen werden konnte, zu verbieten und die Gewerkschaftsführung sowie als Aktive hergetretene Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen (§§ 26, 29, 40, 55 und 56 Gewerkschaftsgesetz, Stand:

2004).

Auch wenn der drastische Anstieg der Anzahl der Gewerkschaften nach der Demokratisierung auf ein Erstarken der Arbeiterschaft und ihr Einflusspotential hindeutete,48 war diese Einflusskraft in der Realität nur sehr begrenzt (Huang 2002: 308 f.): Zum einen aufgrund der sachadäquaten Reaktionen der KMT-Regierung auf die Arbeiterbewegungen – der Gründung des als Arbeitsministerium zu bezeichnenden Council of Labor Affairs und der Ausdehnung der Zielpersonen der AV –, zum anderen aufgrund der fehlenden Institutionalisierung des Systems für korporative Verhandlungen.

(2) Politischer Wettbewerb

Der politische Wettbewerb bewirkte eine wohlfahrtsstaatliche Expansion durch die oppositionelle DPP und ihre Konkurrenz mit der KMT-Regierung. Während sich die DPP in der Phase der Parteigründung ausschließlich auf rein politische Themen konzentrierte, also die Unabhängigkeit Taiwans und die Forderung nach vollständiger Demokratisierung der zentralen Vertretungsorgane, gab es nach ihrer Niederlage bei den ersten demokratischen Wahlen zur Nationalversammlung 1991 einen thematischen Wandel. Die von Sozialwissenschaftlern aufgebrachten Ideen über das Sozialrecht und den Wohlfahrtsstaat stießen Anfang der 1990er Jahre auf breite Resonanz und inspirierten vor allem die DPP zu eine rpolitischen Neuorientierung: Sie nahm den Aufbau eines institutionellen Wohlfahrtsstaates als Bestandteil in ihr Parteiprogramm auf (Lin, W-i 2000: 111), und forderte damit die konservativen und zurückhaltenden sozialpolitischen Ideologien der KMT heraus. Die DPP beabsichtigte mit dem Entwurf eines klassenübergreifenden bzw. die Solidarität betonenden Wohlfahrtsstaates, eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Diese neue Ordnung sollte zur Bildung einer neuen nationalen Identität und zur Erreichung der Umverteilungsgerechtigkeit beitragen (Lin Jen-jen 2002: 234, Fu 2000: 240 f.).

Mit wohlfahrtspolitischen Themen, die sich vor allem auf das Problem der Ungleichheit und Stratifizierung sowie die Alterssicherungsfrage konzentrierten, forderte die DPP bei den intensiv gehaltenen und als sehr kompetitiv beschriebenen Wahlen in den 1990er Jahren die KMT-Regierung heraus. Auf diese Weise führte der politische Wettbewerb zu den „goldenen zehn Jahren der sozialpolitischen Entwicklung“. Mittlerweile wurde das Sozialbürgerrecht zu einem signifikant politischen Thema und das Wohlfahrtssystem sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgebaut. Von großer Tragweite ist, dass die Logik des politischen Wettbewerbs die Stellung der politischen Agenda zur „short term“-Orientierung macht und dementsprechend die sozialpolitische Priorität ändert (Holliday und Wilding 2003: 178). Dies lässt sich anhand der in den 1990er Jahren eingeführten, vielfältigen bzw. segmentierten Maßnahmen für die Alterseinkommenssicherung verdeutlichen.

Durch die Analyse des taiwanischen Falls wird die Produktionismus-These modifiziert. Während diese davon ausgeht, dass „social policy or welfare must always be subordinated to the overriding

48 Die Zahl der Gewerkschaften stieg zwischen 1987 und 1988 von 69 auf 296; drei der bis auf den heutigen Tag wichtigsten Arbeiterorganisationen wurden zwischen 1987 und 1989 gegründet (Huang 2002: 308).

priority of economic growth persued for essentially political purpose. That concern dominates welfare politics and social needs“ (ebd.: 14) bzw. „social policy was driven primarily by the requirements and outcomes of economic development policy“ (Deyo 1992: 289 f.), wird behauptet, dass die Sozialpolitik in Taiwan nicht unbedingt der Wirtschaftsentwicklung untergeordnet ist. Ihr kann höhere Priorität zugeschrieben werden, wenn es politisch erforderlich ist. Während sich die politische Notwendigkeit der Sozialpolitik in der autoritären Zeit endogen aus dem Regime heraus ergab, also zur Erzeugung der Legitimität des autoritären Regimes, entsteht dieses Erfordernis nach der Demokratisierung exogen aus dem Regime, nämlich für die Wahlkampfmobilisierung.

Zusammenfassung

Der taiwanische Wohlfahrtsstaat hat sich im Wesentlichen nach der Übersiedlung des KMT-Regimes auf die Insel 1949 inkrementell, über einen sehr langen Zeitraum hinweg und oftmals stockend entwickelt. Trotz des Vorhandseins der Verfassung von 1947, in der viele zentrale Wohlfahrtsstaatstätigkeiten verankert sind, und der Regierungserklärungen zur sozialen Wohlfahrt der Jahre 1965, 1994 und 2002, in denen immer wieder für ein institutionelles Wohlfahrtssystem plädiert wurde, wurden diese Ideen bei der Konstruktion des Wohlfahrtsstaates nicht vollständig umgesetzt. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung steht in enger Beziehung mit der Transformation des von der KMT geleiten Staates und kann in drei Phasen aufgeteilt werden:

die Zeit der autoritären Regierung zwischen 1945 und 1987, die Entwicklung nach der Demokratisierung zwischen 1988 und 2000 sowie die Entwicklung nach dem ersten Regimewechsel seit 2000.

Das KMT-Regime hat seiner Hauptaufgabe – die Rückeroberung des Festlandes – die politische Stabilität und die Wirtschaftsentwicklung zugrunde gelegt und so drei Berufs- Sozialversicherungen in den 1950er Jahren eingeführt, die auf die Kernstaatsklientel – Militärpersonal, Staatsbeamte, Lehrer –, Betriebsarbeiter und Zuckerrohbauer zielten. Mit dem Erlass der drei Sozialgesetzgebungen im Jahr 1980, also das Sozialhilfegesetz, das Behinderten- und das Alterswohlfahrtgesetz, wurde das Wohlfahrtssystem in seiner heutigen Form gegründet, das auf Berufs-Sozialversicherungen, marginale Sozialhilfe und Wohlfahrtsdienste beruht. In der Folgezeit wurden sozialpolitische Schritte oft top-down als Gegenmaßnahmen zur schwierigen politischen und sozialen Situation eingeleitet. Ein gradueller Ausbau des Sozialversicherungs- systems fand ebenfalls statt. Dies erfolgte einerseits durch die Einführung separater Gesundheitsversicherungen für die Familienangehörigen der staatsrelevanten Personen, andererseits durch die Ausdehnung der Arbeiterversicherung auf die Arbeitnehmer in kleinen Unternehmen der Privatwirtschaft. Vor der Demokratisierung konnte von einem Wohlfahrtsstaat keine Rede sein. Das Wohlfahrtssystem war staatsklientelzentriert mit minimaler Absicherung für die schützbedürftigen Personen. Dafür gab die Regierung gut 3% des BIP aus, wobei gut die Hälfe

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