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Gewaltenteilung im (semi-)präsidentiellen Regierungssystem

Kapitel 3 Der Wohlfahrtsstaat als System zur Erzeugung der Stratifizierung und Ungleichheit sowie Mechanismen zum Einfluss auf die weitere

D. Vertikale Unterschiede der Interessenrepräsentation zwischen zentraler und kommunaler EbeneEbene

1. Gewaltenteilung im (semi-)präsidentiellen Regierungssystem

Die Gewaltenteilung bezieht sich auf die aus der Verfassung und den politischen Institutionen gegebene Gewaltenteilung, die entscheidend für die Anzahl der institutionellen Vetospieler ist.45 So führt das präsidentielle Regierungssystem zur Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative; das Zweikammernsystem ermöglicht die Gewaltenteilung zwischen zwei legislativen

Regierungssystems – die Wechselwirkungen durch die Wahl- und Parteiensysteme – auf das policy-making und vor allem auf die Orientierung der öffentlichen Politik. Weil die Funktion des taiwanischen semi-präsidentiellen Systems dem präsidentiellen Regierungssystem ähnelt, stützt sich dieser Abschnitt vornehmlich auf die Auffassungen von Shugart und Haggard (2001) bzw. Cox und McCubbins (2001).

45 Zu der aus politischen Institutionen entstehenden Gewaltenteilung vgl. Cox und McCubbins (2001: 31-36), Lijphart (1999).

Kammern; der Föderalismus bringt die Gewaltenteilung zwischen zentraler und kommunaler Regierung mit sich; „judical review“ führt zur Gewaltenteilung hinsichtlich der Ausfertigung und der Interpretation von Gesetzen. In manchen Ländern kommt „regimes of exception“ als wichtiger Vetospieler noch hinzu, der die Grenze einer akzeptablen politischen Änderung zieht (ebd.: 32 ff.).

Je mehr dieser erwähnten institutionellen Bedingungen vorhanden sind, desto höher ist die Anzahl der Vetospieler und das Maß an „separation of power“ in einem System. Demzufolge wird die Umsetzung einer vom Status quo abweichenden politischen Aktion schwieriger.

Die Einflussnahme der Gewaltenteilung des politischen Systems auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in den westlichen Demokratien stellt eine der wichtigsten Ansätze der Wohlfahrtsstaatstheorien dar, vor allem im Rahmen der Analyse über die Reform und den Abbau der westlichen Wohlfahrtsdemokratien. Der zentrale Befund ist – laut z.B. der Studie von Swank (2001 und 2002) – das Folgende: Die aus der konstitutionellen Struktur – wie etwa dem präsidentiellen Regierungssystem, dem Zweikammernsystem, dem Föderalismus und dem Referendum – resultierende fragmentierte Gewaltenteilung führt zu institutionellen (Tsebelis 2002) sowie kompetitiven (Birchfield und Crepaz 1998) Vetospielern, die sich zwar ungünstig auf eine politische Veränderung einschließlich eines sozialpolitischen Abbaus auswirkt, aber langfristig werden sie die Pro-Wohlfahrtsstaat-Interessen schwächen und so die sozialpolitische Entwicklung hemmen. Eine ähnliche Auffassung vertreten Huber u.a. (1993: 722): „Constitutional structures that disperse political power and offer multiple points of influence on the making and implementation of policy are inimical to welfare state expansion...they make it difficult to reach and implement decisions on the basis of narrow majorities – and that, conversely, let minority interests obstruct legislation – will impede far-reaching reforms in social policy, specially reforms that might benefit the underprivileged majority“. Kurz gefasst: Ein hohes, sich aus der Verfassung ergebendes Maß an Gewaltenteilung beeinträchtigt eine wohlfahrtsstaatliche Expansion und Reform, die oft den unterprivilegierten Gruppen zugute kommen könnten. Dem Argument zufolge wäre es eher möglich, dass sich eine wohlfahrtsstaatliche Expansion und Reform im System ohne großes Ausmaß der Gewaltenteilung – wie im Fall Taiwans – durchsetzt.

Taiwan hat ein Einkammernsystem, keinen Föderalismus, kaum bedeutende „judical reviews“;

das Militär untersteht nach der Demokratisierung vollständig der zivilen Kontrolle. Die institutionelle Gewaltenteilung stammt überwiegend aus dem (semi-)präsidentiellen Regierungssystem und zeigt sich zwischen der Exekutive und der Legislative. So hängt das policy-making in Taiwan vornehmlich von der Gewaltenteilung und dem politischen Verhältnis zwischen der Exekutive und der Legislative ab. Die Gewaltenteilung zwischen den beiden Organen entsteht vornehmlich aus zwei zuvor erwähnten Charakteristika des (semi-)präsidentiellen Systems: Sie sind separat gewählt und besitzen jeweils eine eigene verfassungsmäßige Amtsdauer; so sind sie separat sowohl in „origin“ wie auch in „survival“.

Beim „unified government“, bei dem Exekutive und Legislative unter der Kontrolle einer

parteilichen Mehrheit stehen, stellt sich das policy-making als eine Kooperation zwischen den beiden Organen dar. Der Grund ist das Folgende. Obwohl der Staatspräsident (die Exekutive) und die Parlamentsabgeordneten seiner Partei von Wählern der verschiedensten Ebenen gewählt werden und sie daher tendenziell auf unterschiedliche Wähler achten, haben sie strategische Interessen für eine Kooperation im policy-making, um mit „electorally attractive record of public policy“ bei Wählern „Kredite“ zu gewinnen (Cox und Kernell 1991: 4). Mit der parlamentarischen Mehrheit kann die Exekutive vor allem ihre Präferenzen durchsetzen ohne der Opposition Zugeständnisse machen zu müssen. Dies charakterisierte das policy-making in Taiwan vor dem ersten Regierungswechsel 2000.

Vor 1996 wurde der Staatspräsident Taiwans durch die Nationale Versammlung gewählt, die erst seit 1991 von der taiwanischen Bevölkerung für je 5 Jahre bis zur Abschaffung dieses Organs 2005 gewählt wurde. Mit dem Erfolg in demokratischen Wahlen zur Nationalen Versammlung 1991 und zum Parlament 1992 – die KMT gewann in diesen Wahlen jeweils über 70% bzw. 60%

der Sitze – sicherte sich die KMT die Kontrolle über die Exekutive und die Legislative. So gab es vor Mitte der 1990er Jahre ein hohes Maß an „unified KMT-government“. Trotz der Verluste bei der Parlamentswahl 1995, in der die KMT nur mit einer knappen Mehrheit von 3 Sitzen gewann, kontrollierte die KMT mit dem Sieg in der ersten direkten Präsidentschaftswahl 1996 immerhin die Exekutive, so dass bis 2000 ein „unified government“ von der KMT aufrechterhalten wurde.

Unter dieser Bedingung konnte es der KMT gelingen, jegliche öffentliche Politik nach ihrem Interesse durchzuführen. Dabei war die Rolle der Exekutive ausschlaggebend.

Durch das etwa vierzig Jahre andauernde autoritäre KMT-Regime wurde die Legislative quasi außer Funktion gesetzt. Die Abgeordneten interessierten sich vornehmlich für ihre Interessen:

„legislators at all levels used their leverage to extract favors both for their localities and for themselves“ (Winckler 1999: 342). Im policy-making-Prozess spielten sie nur eine marginale Rolle, also meistens als „rubber stamp“. Dagegen verfügte die Exekutive über eine hohe Autonomie; ihr kam in der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung eine überragende Stellung zu. So weist Winckler darauf hin: „policy was made by government officials who were appointed, not elected“ (Winckler 1999: 342). Nach der Demokratisierung war die Rolle und Stellung der Exekutive kaum verändert. Aber sie muss beim policy-making den im Wahlkampf gestellten zentralen Themen mehr Aufmerksamkeit schenken. So hat die KMT-Regierung auf die rentenpolitische Herausforderung der DPP – zuerst die beitragsfreie Altersrente, dann die Gesetzesvorlage über die nationale Rentenversicherung – mit der Einführung des Alterszuschusses und der Planung für den Aufbau des nationalen Rentensystems schnell reagiert.

Durch die ehrgeizige Orientierung an der Wirtschaftsentwicklung des KMT-Regimes wurden die wirtschaft- sowie finanzrelevanten Behörden besonders entwickelt und betont, die im policy-making-Prozess – einschließlich für die Sozialpolitik – sehr dominierten. Dagegen wurde

der Verwaltung für die Sozialpolitik nur geringfügige Bedeutung beigemessen, so dass es kein Sozialministerium in der Exekutive gab (und gibt); die höchste zuständige Behörde für „social welfare“ ist die Verwaltung für soziale Wohlfahrt im Innenministerium, die über keine große Befugnis zur Sozialpolitik verfügt.46 Die Planung der wichtigen Sozialpolitik, wie z.B. der nationalen Gesundheitsversicherung und Rentenversicherung, wurde von der Council for Economic Planning and Development (CEPD) durchgeführt. Ihre wichtigste Funktion bestand darin: Aufgrund ihrer zentralen Stellung konnte sie eine verwaltungsübergreifende Koordinierung für die Herstellung der policyrelevanten Konzepte leiten. Gemäß den Konzepten fertigten die zuständigen Verwaltungsbehörden entsprechende Gesetzesentwürfe an, die nach den vom Minister ohne Portefeuille geführten Diskussionen in der Exekutive dem Parlament vorgelegt wurden. Mit der Mehrheit im Parlament gelang es der KMT, in den meisten Fällen allein diese Gesetzesvorlagen zu erlassen. Handelte es sich um sozialpolitische Gesetze, die oft

„credit-building“ bei Wählern bewirkten, was nach der Demokratisierung für die politischen Akteure von großer Bedeutung war, konnte der Entwurf der KMT die Zustimmung der Parlamentsabgeordneten der Opposition finden, die wegen ihrer Minderheitsposition nur symbolische Aufsicht über den Entwurf der KMT-Regierung – durch die Befragungen zu den sehr umstrittenen Themen im Regierungsentwurf – äußerten.47

In der Literatur über den legislativen Prozess im präsidentiellen Regierungssystem wie in den USA wird der Rolle der Parlamentsabgeordneten viel Gewicht beigemessen, vor allem wenn das Wahlsystem zu vielen „individuellen“ Politikern führt – die Personen, die überwiegend allein für ihren Wahlkampf verantwortlich sind und sich auf „personal vote“ stützen: „Systems in which individual politicians who depend on personal votes are large will promote legislative rules that decentralize decision-making power to committees and away from party or government leaders...“

(Cox und McCubbins 2001: 37 ff.). In Taiwan sowie in anderen Ländern mit (semi-)präsidentiellen Systemen gibt es kein vergleichbares Komiteesystem in der Legislative wie in den USA (Vgl. Shugart 2006). Die Wirkungen der sich aus dem SNTN/MMD-Wahlsystem ergebenden „individuellen“ politischen Akteure in Taiwan zeigen sich darin, dass die taiwanischen Abgeordneten oft ungeachtet der politischen Position ihrer Partei eigene Gesetzesentwürfe im Parlament einbringen, um damit ihre eigene Auffassung über die Politik zu vertreten und so bei ihren Wählern an Ansehen zu gewinnen. Mangels eines „seniority system“ in der Legislative, fehlt es den meisten Parlamentsabgeordneten an ausreichenden Kenntnissen für die Herstellung der Gesetzesvorlage, die vor allem komplizierte fachliche und technologische Kenntnisse erfordert (Vgl. Cheng und Haggard 2001: 222). So beruhten die von Abgeordneten eingebrachten Gesetzesvorlagen über die Alterssicherung meistens auf dem Regierungsentwurf. Die zentralen Unterschiede zwischen diesen Gesetzesvorlagen betrafen in erster Linie die sehr umstrittenen

46 Es gibt die Organe, die ähnlich wie das Arbeits- und Gesundheitsminiserium sind, in der Exekutive, nämlich Council of Labor Affairs und Department of Health. Sie stehen in der Verwaltungshierarchie eine Stufe höher als die Verwaltung für soziale Wohlfahrt. Vgl. Kapitel 2, S. 52 f.

47 Im Gegensatz dazu waren die Parlamentsabgeordneten der Opposition aktiv in die Wirtschafts- und Fiskalpolitik involviert. Zur Einflussnahme von Parlamentsabgeordneten auf den Staatshaushalt vgl. Cheng und Haggard 2001.

Fragen im Regierungsentwurf, wie z.B. die Höhe des Beitrags und des Leistungsniveaus sowie das Beitragsverteilungsverhältnis zwischen Regierung, Arbeitgebern und Versicherten. Diese Fragen erstrecken sich zwar auf fachliche Kenntnisse, werden aber in Taiwan oft durch politische Entscheidungen beantwortet. Der Gesetzesvorlage der Abgeordneten wurde nur zugestimmt, wenn diese Gesetzesvorlagen inhaltlich sehr ähnlich waren und vor allem beim Widerspruch gegen den Gesetzesentwurf der Regierung die Abgeordneten sich auf einen Konsens einigen konnten. Dies geschah oft in der Gesetzesvorlage über den Alterszuschuss, der keine komplizierte Technik und Verwaltungsarbeit erforderte, aber nicht in den Gesetzesentwürfen über die Sozialversicherung, Altersversorgung und die nationale Rentenversicherung, die hohe Anforderungen an damit relevante Fachkenntnisse implizierten.

Die Probleme aus der Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Legislative kommt beim

„divided government“ vor: Die Exekutive scheitert an der parlamentarischen Mehrheit (in einer Kammer oder beiden Kammern), was oft in den USA und den lateinamerikanischen Ländern sowie in der Zeit der DPP-Regierung seit 2000 in Taiwan zu erkennen ist.48 In dieser Situation sind die in der Verfassung verankerten Befugnisse jeweils für Legislative und Exekutive ein Hindernis bei einer Kooperation zwischen den beiden Organen. Die oppositionelle Partei wird z.B.

versuchen, mit Hilfe der Durchkreuzung der Vorhaben des Staatspräsidenten (der Exekutive) den Wahlkampf für sich zu mobilisieren. Dies führt, zusammen mit der zentralen ideologischen Distanz zwischen den Parteien, die jeweils Exekutive und Legislative kontrollieren, oft zum Konflikt und zur Sackgasse beim policy-making-Prozess. Wie „divided“ der Stand zwischen Exekutive und Legislative ist und wie dies das policy-making beeinflusst, hängt von dem Parteien- und Wahlsystem ab, das im Folgenden erörtert wird.

Das Parteiensystem ist entscheidend für das policy-making beim „divided government“. Beim Zweiparteiensystem, wie in den USA, ist die Situation, dass der Staatspräsident ohne parlamentarische Mehrheit regiert, ähnlich der Situation, wenn dem Staatspräsidenten eine oppositionelle Mehrheit im Parlament gegenübersteht. So bedeutet „divided government“: Zwei gegensätzliche Parteien kontrollieren jeweils die Exekutive und die Legislative. Oft sind die Folgen, wie eben erwähnt, der politische Konflikt und die Sackgasse. Dies charakterisiert die Amtszeit der DPP-Regierung zwischen Mai 2000 bis Januar 2002: Nach dem ersten Regierungswechsel seit etwa einem halben Jahrhundert stand die regierende DPP einer von der damaligen Regierungspartei KMT kontrollierten Mehrheit im Parlament gegenüber. Verglichen mit „divided government“ im Zweiparteiensystem ist in präsidentiellen Systemen mit mehr Parteien „no majority“ bzw. „nonunified government“ die Normalität: „No-majority situations are much more common than divided government in presidential systems outside the United States”

(Shugart 1995: 327). Bei „no-majority“ kann die Partei des Staatspräsidenten trotz fehlender

48 Mit einem Ländervergleich analysiert Elgie (2001) „politics of divided government“ und weist darauf hin:

„Divided government was a relatively long-standing and common phenomenon“ (ebd.: 211); es kommt nicht nur in präsidentiellen oder semi-präsidentiellen, sondern auch in parlamentarischen Systemen vor. In seiner Studie wurden für das zuletzt genannte System Finnland, Deutschland und Polen als Beispiele angeführt.

parlamentarischer Mehrheit als wichtigster legislativer Koalitionspartner gelten. In dieser Situation ist das policy-making durch die Zahl und die Kohäsion der Parteien bestimmt.

Die Zahl der Parteien ist im (semi-)präsidentiellen System entscheidend für die Kompatibilität zwischen Legislative und Exekutive.49 Steigt die Zahl der politischen Parteien, sind für die Durchführung einer Politik parteiübergreifende politische Verhandlungen erforderlich, die unterschiedliche wahlpolitische Konsequenzen für die beteiligten Parteien mitbringen und dadurch oft hohe Kosten für einen politischen Konsens erzeugen können. Dies gilt vor allem für solche Politik, die komplizierte und umfangreiche Interessen betrifft – wie z.B. die Politik über den Bau der Infrastruktur sowie über das Verwaltungsverfahren der Pensionsfonds. Ferner wird das Parteiensystem mit steigender Zahl der Parteien fragmentierter, was dazu führen kann, dass die Exekutive keine parlamentarische Mehrheit besitzt und daher keine ausreichende legislative Unterstützung für die Durchsetzung ihrer politischen Vorschläge erringt. So sind mit steigender Zahl der Parteien oft „executive-legislative deadlock“, „Verzögerung“ und „Stillstand“ im policy-making-Prozess zu sehen. Im Gegensatz dazu vermag der Staatspräsident in einem Parteiensystem mit gemäßigter Fragmentierung (die Zahl der effektiven Parteien liegt hier bei ca.

3,5) einen signifikanten Block von Abgeordneten für die Unterstützung seiner politischen Initiativen bzw. für die Aufrechterhaltung seines Vetos zu bilden, wenn es vorhanden ist; somit kann eine Marginalisierung der Rolle des Staatspräsidenten im legislativen Prozess vermieden werden (Mainwaring und Shugart 1997: 398 f.).

Die Kohäsion der Parteien im (semi-)präsidentiellen System wirkt auf die Möglichkeit zur Zusammenarbeit zwischen Parteien für das policy-making aus. Sind die Parteien wenig kohäsiv, können sie nach den policyrelevanten Themen verschiedene parteienübergreifende Koalitionen für das policy-making bilden, wobei die Meinung einzelner Parlamentsabgeordneter mehr Gewicht als die der Partei für die Richtung der Politik haben kann. In dieser Situation repräsentiert der Inhalt der Politik wenig die parteiliche Ideologie und Position. Es kommt eher zu einer Synthese der Interessen verschiedener politischer Akteure. Wenn die Parteien kohäsiv sind und sich vor allem an nationalen Themen orientieren, ist die Formierung von eben erwähnten Koalitionen schwieriger, was oft zur Sackgasse zwischen Exekutive und Legislativ führt. Dies ähnelt dem Problem beim „divided government“ im Zweiparteiensystem und wird als „crisis of dual legitimacies“ bezeichnet (ebd.: 338).

Wie kohäsiv die Parteien im (semi-)präsidentiellen System sind und ob das „divided government“

vorkommt, ist gewissermaßen durch das Wahlsystem bestimmt. Wenn das Wahlsystem den

49 Für die Anzahl der Parteien sind neben der Cleavage-Struktur bzw. den historischen und kulturellen Faktoren im (semi-)präsidentiellen System die jeweiligen Regeln und Zyklen der Wahlen ausschlaggebend (Shugart und Carey 1992: 226). So gibt es eine Tendenz hin zu einem Zweiparteiensystem, wenn Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gleichzeitig stattfinden und die Präsidentschaftswahl durch eine einfache Mehrheit bestimmt wird. Unter den anderen Bedingungen ist hingegen ein Mehrparteiensystem zu erwarten. Zum Einfluss von

„electoral cycles“ auf das Parteiensystem im präsidentiellen Regierungssystem vgl. Shugart und Carey 1992, Kapitel 11.

politischen Akteuren eine lokale aber nicht nationale Orientierung abverlangt – wie die Wirkungen vom SNTV/MMD in Taiwan –, neigen die politischen Wettbewerber dazu, sich mit weniger Rücksicht auf ihre Partei nur an den Interessen der Wähler in ihrem Wahlkreis zu orientieren. Dadurch werden die Parteien wenig kohäsiv sein (ebd.).50 Fördert das Wahlsystem kandidatenzentrierte Wahlen bzw. die Lokalorientierung, ist „vote splitting“ zwischen der Parlaments- und Präsidentschaftswahl sehr wahrscheinlich und daraus ergibt sich oft ein „divided government“ (Shugart 1995).51

Während in den 1990er Jahren in Taiwan vornehmlich zwei Parteien (KMT und DPP, seit 1996 kam die DPP hinzu) im Parlament vorhanden waren und vor allem die regierende KMT, wie erwähnt, sowohl die Exekutive als auch die Legislative kontrollierte und dadurch alle öffentliche Politik – einschließlich der Sozialpolitik – nach ihrem Interesse entscheiden konnte, kam es nach dem ersten Regierungswechsel im Mai 2000 zum „divided government“. Da die KMT und die DPP jeweils die Mehrheit im Parlament und die Exekutive kontrollierte, war das „divided government“ in den ersten sieben Monaten der DPP-Regierung von heftigen politischen Auseinandersetzungen und „deadlock“ geprägt. Dies betraf sogar den sozialpolitischen Ausbau, der zumeist zu „credit-building“ beitragen konnte und deshalb selten ein umstrittenes Thema zwischen der Legislative und der Exekutive darstellte. Durch die Parlamentswahl Ende 2001 wurde die Konstellation und das Machtverhältnis zwischen den Parteien im Parlament geändert.

Die Zahl der politischen Parteien stieg auf fünf im Parlament seit 2002 (KMT, DPP, NP, PFP und TSU) und vor allem bildeten sich zwei Parteienblöcke – das Pan-Blau (KMT, PFP und NP) und das Pan-Grün (DPP und TSU)52. Das Pan-Blau kontrollierte zwar die Mehrheit im Parlament, war aber nicht kohäsiv. Durch die veränderte Haltung der KMT zur DPP-Regierung wurde „deadlock“

zwischen der Exekutive und der Legislative beseitigt.

Beim „divided government“ entwickelt die regierende Partei unterschiedliche Strategien für das policy-making (Cox und Kernell 1991: 242 ff.): „go it alone – to implement policy without the assent of the other party. It means a decision not to bargain and instead to pursue policy goals with the resources available to whatever branches of government one controls; go public – making public commitments to particular positions in order to raise the costs of reneging and thereby strengthen one’s bargaining position; and bargain within the beltway – accepting the cards that the electoral and constitutional systems have dealt them“. Auf welche Strategie sich die regierende Partei beim „divided government“ stützt, kommt auf die Politikfelder an. In Taiwan wird z.B.

50 Shugart bringt das Wahlsystem, die Kohäsion der Parteien und das Verhältnis zwischen der Exekutive und der Legislative wie folgt miteinander in Verbindung: „In localizing electoral rules, they (congressmen) will not tried to the collective fates of their parties, but be self-reliant in building their careers on legislative or constituent-service-oriented reputations. The resulting less-cohesive parties imply that executive-legislative relationships would be less sensitive to which party controls the branches under localizing electoral rules.

Contrarily, in systems with nationalizing electoral rules divided government may be much difficult to cope with, as parties may have a stronger collective incentive to accentuate their differences“ (Shugart 1995: 338).

51 Zu Einflussfaktoren auf die Entstehung von „divided government“ in den USA vgl. Cox und Kernell 1991 bzw. S.

241 f.

52 Zum Überblick über die Entwicklung der politischen Parteien in Taiwan vgl. Kapitel 1, S. 31 ff.

beim wichtigen sozialpolitischen Ausbau die Strategie „going public“ angewendet, wodurch die Legislative aufgrund ihrer ablehnenden Haltung unter öffentlichen Druck gesetzt werden kann, während beim Thema Staatshaushalt, das für die Funktion der Regierung von besonderer Bedeutung ist, „bargain within the beltway“ zwischen Exekutive und Legislative oft die Regel ist.

Verfügt die Exekutive über die Befugnisse zur Einführung der Politik ohne die legislative Zustimmung, wie z.B. die Erhöhung mancher Sozialtransferleistungen, kann „go it alone“ oft mit hoher Erfolgssicherheit angewendet werden. Diese werden im Kapitel fünf beleuchtet, das die Entwicklung des taiwanischen Alterssicherungssystems nach dem ersten Regierungswechsel 2000 bzw. beim „divided government“ behandelt.

Die Wirkung des „divided government“ auf das policy-making wird in der Literatur oft negativ beurteilt (Linz 1990, Shugart und Carey 1992: 33, Mainwaring und Shugart 1997a). Wenn Exekutive und Legislative jeweils nicht einseitig die Politik entscheiden und sich nicht auf eine gemeinsame Politik einigen können, kommt nicht nur „stalmate“ und „gridlock“ vor, sondern auch „public wrangling and interminable delay are natural features of the politics of bargaining under divided government“ (Cox und McCubbins 2001: 30). Eine andere negative politische Wirkung des „divided government“ stellt „diffusion of accountability“ dar: Aufgrund der

„institutionalization of buck-passing“ (Weaver und Rockman 1993: 16) zwischen der Exekutive und der Legislative fällt es den Wählern schwer zu entscheiden, welche Partei sie für die politische Entscheidung verantwortlich machen sollen. Dadurch kann die demokratische

„accountability“ beeinträchtigt werden. All dies wirkt hemmend auf die Konsolidierung der neuen Demokratie.

Die Studien über die Gewaltenteilung in den USA weisen darauf hin, dass es zu steigenden Staatsausgaben kommt, wenn die Staatsorgane (Präsidensamt, Senate oder Congress) von verschiedenen Parteien kontrolliert sind (Cox und McCubbins 1991). Der Grund ist folgender: Da die Parteien das Veto gegenseitig einlegen können, müssen sie beim Vorlegen eines Entwurfs auf die Präferenzen der anderen Parteien Rücksicht nehmen, um dadurch die Zustimmung der anderen Parteien zu diesem Entwurf zu finden; sie werden nämlich miteinander „logroll“ (Cox und McCubbins 2001: 30). Dies kommt vor allem vor, wenn der Staatshaushalt nicht stark eingeschränkt wird: „A political party will prefer to get the spending it prefers rather than to deny the spending that other parties prefer” (ebd.: Fn. 11), weil „denying the spending that other parties prefer” zu diffusen Vorteilen für einige Steuerzahler beitragen kann, während „getting the spending it prefers“ meistens ausschließlich auf die Anhänger dieser Partei konzentriert werden kann. Dies erklärt gewissermaßen den auffälligen Anstieg des Haushaltsdefizits während der Zeit der DPP-Regierung, die bis zum nächsten Regierungswechsel 2008 durch „divided government“

bezeichnet wurde. Das Problem des Haushaltsdefizits wirkt sich hemmend auf die Einführung neuer sozialpolitischer Maßnahmen, vor allem der Gewährung der aus Haushaltsmitteln finanzierten Sozialtransferleistungen, aus, die oft zu einer Umverteilung von oben nach unten beitragen und den unterprivilegierten Gruppen zugute kommen könnten.

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