• Keine Ergebnisse gefunden

Soziales Kapital in Familien und Gemeinden: Soziales Kapital nach Coleman Coleman

Der Frage, welche Rolle die sozialen Bindungen bzw. die Netzwerke der Familien für das Problem „Abwandern oder wohnen bleiben?“ sowie für das Familienmanagement spielen, soll ausgehend von Colemans (1991, 1992) Theorie des sozialen Kapitals nachgegangen werden. Dieser Ansatz ist geeignet, da Coleman auf die Folgen in einer Situation hinweist, in der es an sozialem Kapital in den Gemeinden oder in der Familie mangelt. Wie bereits erwähnt, orientieren sich auch viele Wissenschaftler/innen aus dem US-amerikanischen Raum an Colemans Ansatz. Dies insbesondere dann, wenn sie zum Thema Nachbarschaftseffekte und Familien forschen. Dies trifft z.B. für Brooks-Gunn (1995) und viele andere Wissenschaftler zu. Deren Annahmen, Forschungsdesigns und Ergebnisse werden im Folgenden für den Fall ausgeführt werden, wenn von den

handelnden Akteure, d.h. von den interviewten Familien in Neukölln- Nord, gesprochen werden wird.

Ein weiterer Grund für den Rückgriff auf Coleman ist ein methodischer: Die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit lassen sich allein mittels eines

Mehrebenenmodells beantworten. Dies geschieht insbesondere mit Bezug auf die so genannte coleman’sche Badewanne, die das Zusammenspiel von Makro-und Mikroebene thematisiert (Coleman 1991:S. 10 ff).

Dieses Modell soll die Wirkung von gesellschaftlichen Phänomenen auf das Verhalten der Akteure und von dort aus wieder zurück auf die Gesellschaft erklären (Coleman 1991:

S.1 ff. und z.B. Esser 1993).

Bezogen auf die hier behandelte Fragestellung heißt dies, dass ein gesellschaftliches Phänomen, in diesem Fall die starke Abwanderung besser situierter Familien

(Makroebene), untersucht wird. Dieses Phänomen hat Auswirkungen auf das Handeln der Individuen, die dort wohnen bleiben (Mikroebene). Entweder sie wandern ebenso ab oder sie arrangieren sich mit ihrem Wohnumfeld (Mikroebene). Die Frage, wie sich Eltern entscheiden und welche Aktivitäten sie vornehmen, um mit Umwelteinflüssen

umzugehen, wird anhand der geführten Leitfadeninterviews (Kapitel 10 ff) sowie mittels der sozialökologischen Theorie von Bronfenbrenner (Kapitel 7 ff) bearbeitet werden.

Unabhängig davon, wie sich die Akteure entscheiden oder wie sie agieren, haben eben diese Entscheidungen und Verhaltensweisen Rückwirkungen auf die Makroebene. Es könnten sich z. B. Segregationstendenzen in den Städten verstärken.

36

Der Ansatz von Coleman ist als theoretische Grundlage der hier behandelten Fragen deshalb gut geeignet, da er dem methodologischen Individualismus und dem Rational Choice Ansätzen zugeordnet werden kann.

Coleman betrachtet Individuen als rational und als zielgerichtet handelende Akteure, die versuchen, ihre Interessen unter den gegebenen Ressourcen zu optimieren und diese kollektiv zu kontrollieren (Coleman 1991: 34 ff). Das soziale Kapital ist nach Coleman einerseits eine Komponente sozialer Strukturen, andererseits auch eine Ressource, die in dyadischen oder tryadischen Beziehungen erworben wird. Coleman beruft sich auf Loury:

„In Lourys Terminologie ist mit sozialem Kapital die Menge aller Ressourcen gemeint, die in Familienbeziehungen und in sozialen Organisationen der Gesellschaft enthalten sind und die die kognitive oder soziale Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen fördern. Diese Ressourcen sind von Person zu Person unterschiedlich und können für Kinder und Heranwachsende von großem Vorteil sein“ (Coleman 1991: 398). Es ist ein Gut, das im Rahmen sozialer Beziehungen entsteht und aufgrund gegenseitiger

Verpflichtungen, Erwartungen und Vertrauen getauscht und kollektiv kontrolliert wird.

Merkmale des sozialen Kapitals sind die Dichte und die Qualität der sozialen Bindungen.

Auf diese Merkmale wird im achten Kapitel noch genauer eingegangen werden.

Nach Coleman zeigt sich das soziale Kapital in drei Ausprägungen:

Herrschaftsbeziehungen, Vertrauensbeziehungen und Rechtsallokationen (Normen).

Ein wichtiges Merkmal des Sozialkapitals ist dessen Gehalt an Informationspotential, das soziale Beziehungen betrifft. Der Rückgriff auf soziale Beziehungen ist eine Möglichkeit, an Informationen zu gelangen, „die bestimmte Handlungen begünstigen“ (Coleman 1991:

403). So können z. B. andere Eltern eine wertvolle Informationsquelle sein, um Auskünfte über gute Schulen zu erhalten. Dies ist besonders dann vorteilhaft, wenn Eltern selbst nicht die Zeit oder die Fähigkeit haben, sich bei offiziellen Stellen zu informieren.

Vertrauensbeziehungen sind besonders innerhalb der Familie von Bedeutung. Ebenso wesentlich sind sie unter Ehepartnern, spielen aber auch für die Eltern-Kind-Beziehung eine wichtige Rolle. Ehepartner sollten sich z.B. aufeinander verlassen können. Es sollte möglich sein, Zweifel zum Ausdruck zu bringen oder auch schwierige Themen

anzuschneiden. Dies, ohne Angst haben zu müssen, dass der andere das Vertrauen missbraucht (Coleman, 1991: 398). Für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ist Vertrauen ebenso unerlässlich. Vertrauen heißt für Coleman auch, dass Akteure Verpflichtungen und Erwartungen schaffen. Wenn z. B. die Mutter A einer anderen

37

Mutter B anbietet, deren Kind gemeinsam mit dem eigenen aus der Kindertagesstätte abzuholen und Mutter B nimmt das Angebot von A an, dann hat Mutter A für die Mutter B eine Verpflichtung geschaffen. A besitzt bei B eine Gutschrift und erwartet im

Gegenzug, dass sie diese Gutschrift zu gegebener Zeit einlösen kann. Z. B dann, wenn Mutter A selbst in Zeitnot ist, d. h. selbst eine Entlastung beim Abholen ihres Kindes braucht (Reziprozität). Fehlen diese Vertrauensbeziehungen, so entspricht dies einem Mangel an sozialem Kapital.

Wirksame Normen können nach Coleman eine einflussreiche Form sozialen Kapitals sein.

Sofern diese fehlen oder deren Einhaltung nicht durchgesetzt werden kann, kann dies für Einzelne ein Gefühl der Unsicherheit auslösen. Dies gilt ebenso innerhalb der Familie, aber auch hinsichtlich der Nachbarschaft oder in der Gemeinde. Bei der Auswertung der Interviews wird zu prüfen sein, ob die Unzufriedenheit einiger Eltern hinsichtlich ihrer Wohn- und Lebenssituation in Neukölln auch daher rührt, dass es keine eindeutigen Normen zu geben scheint, weil die soziale Kontrolle fehlt.

Für viele Familien gilt, dass sie nicht ausreichend finanzielle Mittel besitzen, um Neukölln verlassen zu können. Jedoch verfügen sie möglicherweise über hilfreiche und nützliche soziale Beziehungen in diesem Bezirk. Diese familieninternen Ressourcen können ein Puffer sein, der negative Kontexteinflüsse relativieren kann. „Soziales Kapital stellt eine bedeutende Ressource für Individuen dar und kann ihre Handlungsmöglichkeiten und ihre subjektive Lebensqualität stark beeinflussen“ (Coleman 1991: 412).

Ein weiteres bedeutsames Merkmal des sozialen Kapitals für Gemeinden oder Nachbarschaften ist das folgende: Coleman problematisiert die Generationen

übergreifende Geschlossenheit von Netzwerken. Eine derartige Geschlossenheit existiert z. B. dann, wenn ein Kind in einem gemeinsamen Haushalt eine Beziehung zu einem oder mehreren Erwachsenen hält. Die Geschlossenheit von Netzwerken können Eltern,

Freunde, Bekannte oder auch Nachbarn herstellen. Der Vorteil eines geschlossenen Netzwerks liegt nach Coleman darin, dass das Verhalten des Kindes in verschiedenen Bereichen besser beobachtet werden kann. Ebenso positiv wirkt, dass sich Eltern, Verwandte oder Nachbarn hinsichtlich ihrer Beobachtungen austauschen und auf diese Weise Normen effektiver nutzen können.

Besonders vorteilhaft ist es, wenn Eltern mit andern Eltern befreundet sind, deren Kinder wiederum miteinander befreundet sind. Dieser Typ von Netzwerk erleichtert das Erziehen und Anleiten von Kindern, weil dann eher ein gemeinsamer Wertekonsens unter den

38

Eltern entstehen kann (Coleman 1991:. 413). Die Nachbarschaft wird als potentiell wichtiges Reservoir für Sozialkapital gesehen (Fürstenberg & Hughes: S. 23 ff, in Brooks-Gunn, Duncan, Lawrence, Vol. II, 1997: 26). Fehlt Sozialkapital dieser Art, ist dies der Ausdruck einer sozial desorganisierten Gemeinschaft. Hier überlappen sich Colemans Sozialkapitaltheorie und Wilsons Theorie von Konzentrations- und Isolationseffekten und die „Social Disorganisation Theory“ von Shaw und McKay (Fürstenberg & Hugh 1997: 26). Bei der Auswertung der Interviews muss demnach besonders auf Art und Umfang der sozialen Beziehungen der interviewten Familien geachtet werden.

Im folgenden Kapitel wird Neukölln deshalb aus historischer Perspektive beschrieben.

Denn auf diese Weise kann das Charakteristische des Stadtteils Neukölln gut verdeutlicht werden.

39

5. Die historische Entwicklung Neuköllns vor dem Hintergrund der