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5. Die historische Entwicklung Neuköllns vor dem Hintergrund der Urbanisierung und Industrialisierung Urbanisierung und Industrialisierung

5.1. Bevölkerungswachstum und Zuwanderung

Im historischen Ablauf prägten mehrere Prozesse den Stadtteil Neukölln, der bis 1912 Rixdorf hieß: Zum einem war dies die Urbanisierung (Verstädterung). Ebenso

einflussreich war die besondere geographische Lage Neuköllns (Rixdorf) als einem Außenbezirk von Berlin. Auch die Funktion Berlins als Reichshauptstadt spielte für die Bezirksentwicklung eine nicht unwesentliche Rolle. Im Jahr 1871, zu Beginn der

Urbanisierung, hatte Rixdorf bereits 11.442 Einwohner. Knapp 20 Jahre später hatte sich die Einwohnerzahl beinahe verdreifacht. Innerhalb von weiteren fünf Jahren wuchs die Bevölkerung um über 60% auf 69.191 Einwohner an. Nach der Jahrhundertwende (um das Jahr 1900) war Rixdorf bereits auf Großstadtgröße angewachsen. Im Jahr 1905 wurden bei der Volkszählung in Rixdorf 166.045 Einwohner gezählt. Zwei Jahre später, im Jahr 1907, waren es bereits 176.761 Einwohner, die bis zum Jahr 1910 nochmals auf 252.105 Einwohner angewachsen waren. Damit waren 15 % der gut 1,6 Millionen zählenden Bevölkerung der Außenbezirke in Neukölln beheimatet. „Rixdorf hatte sich innerhalb von 30 Jahren von einer ländlich geprägten Dorfgemeinde mit anwachsender Gewerbetätigkeit zu einer typischen und zu einer der größten Wohngemeinden der unteren Schichten entwickelt, deren Arbeitsort in der Hauptsache Berlin war“ (Federspiel 1999,: 37). Im Jahr 1899 erhielt Rixdorf, das „größte Dorf Preußens“, die Stadtrechte. Mit

4 Federspiel, Ruth (1999) Soziale Mobilität im Berlin des zwanzigsten Jahrhunderts. Frauen und Männer in Berlin-Neukölln 1905- 1957. Walter de Gruyter . Berlin. New York

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der Erhebung Berlins zur Hauptstadt des Deutschen Reiches im Jahre 1871 setzte ein stürmisches Wachstum in Berlin und seinen umliegenden Gemeinden ein. Die neu hinzugekommene Hauptstadtfunktion hatte auf das extreme Bevölkerungswachstum der Außenbezirke einen verstärkenden Effekt. Das rapide Anwachsen der Wohnbevölkerung in den Außenbezirken setzte sich mit etwa der gleichen Geschwindigkeit bis in die 1920er Jahre fort (Federspiel, 1999). In den Jahren zwischen 1925 und 1927 überschritt die Einwohnerzahl von Neukölln bereits die Marke von 300.000. In der 1926 bezugsfertig gewordenen Hufeisensiedlung in Britz, die im Juli 2008 zum Weltkulturerbe erhoben wurde, fanden gut 10.000 neue Einwohner des Bezirks ein Unterkommen.

Rixdorf war als Außenbezirk schon immer ein begehrtes Zuzugsgebiet der mobilen Bevölkerung. Jedoch galt dies eher für die niedrig qualifizierte Lohnarbeiterschaft. Diese bezogen die neu erbauten Mietskasernen besonders wegen der billigen Lebenshaltung im Bezirk und wegen der preiswerten Mieten. Lt. Federspiel (1999) ließ die enge

Verknüpfung Neuköllns zum Großraum Berlin, mit seinen vielen Fabriken und

Arbeitsangeboten, die Einwohnerzahl Rixdorfs bzw. Neuköllns innerhalb von 50 Jahren (von 1860 - 1912) auf Großstadtgröße anwachsen. Die Zuwanderung nach Neukölln war ein zweidimensionaler Prozess: Zum einen fand die Ausdehnung des Berliner

Stadtbezirks auf die faktisch schon verschmolzenen Außenbezirke statt. Zum anderen hatte sich Neukölln als ein attraktiver Ort für Zuwanderer aus den umliegenden ländlichen Gemeinden erwiesen. Die Attraktivität Neuköllns als Zuzugsort hielt auch noch in der Zwischenkriegszeit an (Federspiel 1999: 44).

Aufgrund der verstärkten Zuwanderung von zumeist an- und ungelernten Arbeitern und Dienstboten bekam Rixdorf den Ruf als arme Leute Bezirk. Zudem galt er wegen seiner vielen Kneipen und Amüsierbetriebe als skandalumwittert. Erst 1912, nachdem Rixdorf in Neukölln umbenannt worden war, trat die gewünschte Wirkung ein. Ein verstärkter Zuzug besser Gestellter und eine bessere Würdigung des Ortes setzten ein. Doch weiterhin zogen verstärkt Menschen aus armen oder einfachen Verhältnissen zu. Ablesbar war diese Entwicklung u. a. am Gemeindesteueraufkommen (Federspiel 1999: 54). Der Zuzug erfolgte eher von einkommensschwachen Schichten und führte in Rixdorf zu starken Belastungen des Sozialetats. Im Ergebnis hieß dies: „das Steueraufkommen konnte mit dem Anwachsen der Bevölkerung nicht Schritt halten“ (Federspiel 1999: 45). Die enge Verzahnung der Außenbezirke mit Berlin hatte dazu geführt, dass eine zunehmende Anzahl von Pendlern das Steueraufkommen Berlins in die Höhe trieb. Im Vergleich dazu

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mussten die infrastrukturellen Kosten der sozialen Rekrutierung der Arbeiter von den Wohngegenden selbst getragen werden, die überwiegend außerhalb der Stadtgrenze lagen (Federspiel 1999: 45). Die Außenbezirke forderten finanziellen Ausgleich mit der

Hauptstadt bzw. eine Anbindung an diese. Erst 1911 erfolgte halbherzig der

Zusammenschluss im Zweckverband Großberlin. Ein wesentliches Ergebnis dieses Zweckverbandes war die Vereinheitlichung des Verkehrswesens. Dadurch waren die Außenbezirke besser an die Hauptstadt angebunden. Dies kam vor allem den vielen Pendlern zu Gute, unterstützte aber auch das Transportwesen (Federspiel, 1999: 46).

Rixdorf war erst 1920 zusammen mit den umliegenden Dörfern Britz, Buckow und Rudow in das entstehende Groß-Berlin eingemeindet worden. Ab 1922 bekam der Bezirk den Namen Neukölln. Erst von diesem Zeitpunkt an veränderte sich die

Zusammensetzung der Bewohner Neuköllns. In Neukölln als dem 14. Bezirk Großberlins, der jetzt auch die angrenzenden Landgemeinden Britz, Buckow und Rudow umfasste, wurden zur Linderung der weit verbreiteten Wohnungsnot immense Bauvorhaben vollzogen. Die Mieter, die sich vorzugsweise in den südlichen Neubaugebieten

niederließen, wirkten nachhaltig auf die Struktur des Bezirks: Es waren ganz überwiegend Facharbeiter sowie Angestellte und Beamte der unteren und mittleren Ränge. „Ab Mitte der 20er Jahre vollzog sich ein Wandlungsprozess, der aus dem ehemals rein

proletarischen Wohnungen einen sozial gemischten, vorherrschend aber kleinbürgerlichen Bezirk von Berlin entstehen ließ“ (Federspiel 1999, S. 47). Hier ist die Zweiteilung des Bezirks Neuköllns bereits erkennbar: In der Neuköllner Altstadt, d.h. im nördlichen Teil, lebte eher das Proletariat, d.h. an- und ungelernte Arbeiter/innen und Hausangestellte.

Hingegen waren im Süden Neuköllns vorwiegend Facharbeiter, kleine Angestellte und Beamte, also vermehrt das Kleinbürgertum, angesiedelt.

5.1.1. Die demographische Entwicklung Neuköllns

Im Zuge der Urbanisierung veränderte sich auch die demografische Zusammensetzung Rixdorfs. Aufgrund der verstärkten Zuwanderung junger Menschen stiegen die

Geburtenraten rapide an. Der Anteil der Altersgruppe bis zu 10 Jahre betrug

beispielsweise im Jahr 1905 mehr als ein Viertel sowohl der männlichen als auch der weiblichen Einwohner Rixdorfs. Diese Altersverteilung war auch im Vergleich zu Berlin extrem. Denn nur 7 % der Männer und 10 % der Frauen waren älter als 50 Jahre

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(Federspiel, 1999: 47). Neukölln war damit ein recht junger Bezirk mit heiratsfreudiger Bevölkerung.

In Neukölln kamen zwischen 1910 und 1925 mit 65.465 lebend geborenen Kinder mehr Kinder zur Welt als in irgendeinem anderen Bezirk (Federspiel, 1999: 46). Neukölln war damit einer der kinderreichsten Gemeinden und hatte selbst während der Zeit der

Weltwirtschaftskrise und der politischen Instabilitäten (1925 bis 1933) noch einen Geburtenüberschuss von 4106 Personen. Diese Höhe stellte zu dieser Zeit eine

Besonderheit dar. Hinsichtlich dieser Geburtenraten muss allerdings bedacht werden, dass sich in Neukölln eine Hebammenlehranstalt und eine Frauenklinik befunden und die Klinikgeburten in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zugenommen hatten. Die

Geburtenraten enthalten nach Federspiel (1999) daher eine statistische Verzerrung. Denn gemäß des Personenstandsgesetzes von 1875 mussten Geburten in dem Bezirk beurkundet werden, in dem sie sich ereignet hatten. Trotz dieser leichten Verzerrung der

Geburtenzahlen war Neukölln bis in die 1930er Jahre einer der kinderreichsten Bezirke Berlins. Nach 1933 ging der Geburtenüberschuss im Bezirk deutlich zurück, was schon fast einem „Gebärstreik im teils proletarischen, teils kleinbürgerlichen „roten Neukölln“

gleich kam (Federspiel 1999: 48). Im Jahr 1957 lag der Anteil der Kinder bis zu 5 Jahren nur noch bei rund 4,3 %. Dies bedeutet, dass der Rückgang der Geburten während der Kriegs- und Nachkriegszeit weiterhin anhielt. Seit der Mitte der 90er Jahre des 20.

Jahrhunderts lässt sich kontinuierlich ein überdurchschnittlicher Rückgang der

Bevölkerung in der Altersgruppe der 0 bis 6 jährigen feststellen (Neuköllner Kinder- und Jugendhilfebericht 2002 / 2003, Teil 1: 7). Dies ist jedoch kein spezifisches Phänomen des Bezirks Neukölln. Denn für Neukölln wird derzeit prognostiziert, dass der Anteil der unter 3-jährigen um jährlich ca. 5 % weiter sinken wird (Neuköllner Kinder- und

Jugendhilfebericht 2002/2003, Teil 1: 7). Hierbei wird sich der Rückgang der Kinder unter 3 Jahren stärker auf den Süden von Neukölln konzentrieren.

5.1.2. Altersaufbau der Neuköllner Bevölkerung von 1905 bis 2002 In den Jahren von 1905 bis in die 1960er Jahre hinein verschoben sich nicht nur die Geschlechterverhältnisse (Frauenüberschuss), sondern auch die Altersstruktur des Bezirks. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Rixdorf noch eine recht junge Stadt. Dies änderte sich jedoch bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1949, im ersten Jahr der Erfassung der Wohnbevölkerung nach Kriegsende, war 20 % der Bevölkerung 60 Jahre

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und älter. 1905 gehörten nur knapp 4 % der Bevölkerung zu dieser Altersgruppe. Einen derart geringen Anteil an alten Menschen hatte Neukölln noch bis Mitte der 1920er Jahre aufzuweisen. Erst in den 1950er Jahren vollzog sich der Wandel Neuköllns zu einem Bezirk, in dem die älteren Menschen ca. 18 % der Bevölkerung ausmachten und Kinder bis zu sechs Jahren nur noch 4 % der Wohnbevölkerung darstellten (Federspiel 1999:

52f). Das Verhältnis von junger zu alter Bevölkerung hatte sich innerhalb von 30 Jahren ins Gegenteil verkehrt.

Diese Tendenz, dass die Bevölkerung in Neukölln älter wird, lässt sich auch mittels neuerer Daten belegen. Allerdings ist die Neuköllner Bevölkerung im Schnitt etwas jünger als die Gesamtbevölkerung in den alten Bundesländern. Erkennbar ist aber eine deutliche Zweiteilung des Bezirks: In der Neuköllner Altstadt, dem ehemaligen Rixdorf, lag der Anteil der über 65-jährigen im Jahre 2002 zwischen 9,5 % und 14 %, im Süden dagegen zwischen 14,7 % und 22,6 %. In Gesamtneukölln betrug der Anteil der über 65-jährigen 14,7 %. Die Altersgruppe der 0- bis 6-65-jährigen ging in der Zeit von 1996 bis 2002 um 7 % zurück. In Gesamtberlin betrug der Rückgang in dieser Altersgruppe nur 0,9%. Es wird vermutet, dass in den nächsten Jahren insgesamt mit einem Rückgang der Altersgruppe der unter Dreijährigen von jährlich 5 % zu rechnen ist. Allerdings vermuten Experten der Jugendhilfeplanung, dass sich der Rückgang der unter Dreijährigen stärker auf den Süden (Britz, Buckow 1, Buckow 2 und Rudow) als auf den Norden von

Neukölln konzentrieren wird (Neuköllner Kinder- und Jugendhilfebericht 2002/2003: 7 ff).