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7. Der sozialökologische Ansatz von Bronfenbrenner

7.1. Begriffe und Definitionen

Uri Bronfenbrenner hat eine Theorie der Ökologie der menschlichen Entwicklung (Bronfenbrenner 1981) entworfen, deren wesentliches Element die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt ist. Bronfenbrenners Ansatz impliziert Elemente aus der klassischen Entwicklungspsychologie und Ansätze der Lewin’schen Feldtheorie. Der Begriff Ökologie wird von ihm nicht allein im biologischen Sinn benutzt, d.h. nicht nur im Sinn von „Nische“. Eingeschlossen ist auch seine ursprüngliche Bedeutung von

„oikos“. Dies bedeutet Haus. Es impliziert, dass Individuen die Ökologie oder Umwelt aktiv mitgestalten (Lüscher in Bronfenbrenner 1981: 9). Er weist in verschiedenen Untersuchungen nach, dass die experimentellen und naturalistischen Methoden der Beobachtung miteinander verknüpft werden können (und müssen). Er bemüht sich,

„Theorie und Praxis, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik aufeinander zu beziehen“

(Lüscher in Bronfenbrenner 1981: 9).

Entwicklung ist für Bronfenbrenner eine „dauerhafte Veränderung der Art und Weise, wie die Person die Umwelt wahrnimmt und sich mit ihr auseinandersetzt“ (Bronfenbrenner 1981: 19).

Bronfenbrenner beschreibt die Struktur der ökologischen Umwelt eines Kindes (und von Familien) als ein in sich verschachteltes System, bestehend aus einem Mikro- Meso- Exo- und einem Makrosystemen (z.B. Bronfenbrenner 1981: 24).

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Diese jetzt näher zu beschreibenden Systeme werden an späterer Stelle dieser Arbeit in die Auswertung der Interviews hinsichtlich der Wahrnehmung des Lebensraums

Neukölln-Nord einbezogen werden. Diese Lebensbereiche sind Kontexte, die eine Familie dazu bewegen, relativ früh aus Neukölln abzuwandern oder andere Familien dazu

anhalten, erst einmal in Neukölln-Nord wohnen zu bleiben. Die Systeme, die Menschen und Familien umgeben, werden im Folgenden erläutert.

7.1.1. Mikrosysteme

„Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und

zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (Bronfenbrenner 1981, S. 38). Bronfenbrenner legt großen Wert auf das Wort „erlebt“ (ebd.). Er ist der Auffassung, dass primär die subjektive Bedeutung von Ereignissen oder Erfahrungen in einem Mikrosystem betrachtet werden müssen. Ihm geht es weniger um die objektiven Bedingungen wie dies z. B. in Laborsituationen der Fall ist, sofern die Entwicklungsschritte von Kindern untersucht werden sollen. Ein Mikrosystem ist nach dieser Definition ein Lebensbereich, welcher eine Person unmittelbar umgibt.

Dazu zählen z. B. die elterliche Wohnung, der Kindergarten. Aber auch Kinderheime oder Krankenhäuser können Lebensbereiche sein, später ein Klassenzimmer oder die

Ausbildungsstätte.

Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Mikrosystemen, die eine Person umgeben, bezeichnet Bronfenbrenner als ein Mesosystyem.

7.1.2. Mesosysteme

Ein Mesosystem umfasst die Wechselbeziehung zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt. Für ein Kind sind dies z .B. die Beziehungen zwischen dem Elternhaus und der Schule sowie zwischen den Kameradengruppen in der Nachbarschaft. Für einen Erwachsenen wirken die Beziehungen zwischen der Familie, der Arbeit und dem Bekanntenkreis als ein Mesosystem (Bronfenbrenner 1981: 41). Auch soziale Netzwerke, Kommunikationsstrukturen können dem Mesosystem eines

Individuums zugeordnet werden. „Ein Mesosystem ist demnach eine Verbindung von Mikrosystemen“ (Bronfenbrenner 1981: 41).

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Besondere Beachtung verdienen nach Bronfenbrenner die Synergieeffekte, die aufgrund der Interaktion zwischen entwicklungsrelevanten startenden oder verzögernden

Merkmalen und Prozessen passieren (z. B. Bronfenbrenner 1981: 199 ff.). Damit meint er z. B., dass sich die Schulleistungen von Kindern besser entwickeln, wenn Kinder von Seiten der Eltern, der Freunde oder der Bekannten motiviert werden. Umgekehrt kann auch der Erfolg der Schüler gebremst werden, etwa durch den negativen Einfluss Dritter.

Dazu zählen z. B. der Freundeskreis der Schüler, aber auch Konflikte im Elternhaus.

Bedeutsam für eine Entwicklung von Kindern sind die ökologischen Übergänge von einem Lebensbereich in einen anderen (Bronfenbrenner 1981). Übergänge finden z. B.

statt, wenn sich ein Geschwisterkind ankündigt oder das Kind eingeschult wird. Auch Trennungen der Eltern oder der Verlust eines Elternteils zählen zu den Übergängen, die ein Kind oder ein Erwachsener unter Umständen zu bewältigen haben. Je mehr

Unterstützung ein Kind in den Übergängen erfährt, desto positiver verläuft seine

Entwicklung. Bronfenbrenner betont die Aufgabe der Eltern, Kinder bei einem Übergang in einen neuen Lebensbereich zu unterstützen (Bronfenbrenner 1981: 202 ff). In den Interviews werden diese Übergänge z. B. vom Kindergarten zur Schule angesprochen werden. Deswegen ist es wichtig, die Bedeutung von ökologischen Übergängen hier zu erwähnen.

7.1.3. Exosysteme

„Unter Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden“ (Bronfenbrenner 1981: 42).

Als Beispiele dieser Exosysteme nennt er die Verbindung der häuslichen Sphäre und dem Arbeitsplatz der Eltern oder auch die Schulklassen älterer Geschwister. Eine andere Verbindung ist die diejenige von Familie, dem Arbeitsplatz und öffentlichen Dienststellen wie z. B. Arbeitsagenturen, Jobcentern etc. (Bronfenbrenner, 1990). Zum Exosystem zählen z. B. auch Nachbarschaften, die Infrastruktur eines Stadtteils einschließlich der Dienstleistungsangebote. Ebenso gehören politische Entscheidungen, die sich in Gesetzen, Verordnungen oder Satzungen manifestieren sowie geplante und spontane Entwicklungen wie z. B. Reformen, Weltwirtschaftskrisen, Naturkatastrophen usw. dazu.

Massenmedien, die die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, die

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Kommunikations- und Transportwege und informelle Netzwerke kommentieren, zählen ebenso zu den Exosystemen (Bronfenbrenner 1978).

Ein Beispiel, bezogen auf Neukölln, sind u. a. Reformen im Bereich der Schule oder im Bereich der Kinderbetreuung. Viele Schülerläden müssen aufgrund der Einführung des neuen Schulgesetzes, wonach die Berliner Schulen zu Ganztagsschulen umgewandelt werden, schließen. Steuerungselemente auf dem Wohnungsmarkt sind ebenso dem

Exosystem zuzurechnen. Auch die häufige Präsenz der Polizei, mehr oder weniger offener Drogenhandel in bestimmten Gebieten oder an bestimmten Plätzen betrifft viele Familien und Kinder zwar nicht unmittelbar, aber dennoch erleben die Kinder diese Eindrücke und nehmen sie unterschiedlich wahr.

7.1.4. Makrosysteme

Makrosysteme bestehen aus übergeordneten Mustern, die sich in Mikro- Meso- und Exosystemen, einer gegebenen Kultur, Subkultur finden lassen (Bronfenbrenner 1981). „ Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder in der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (Bronfenbrenner 1981, 42).

Z. B. sind Glaubensrichtungen, traditionelle oder kulturelle Werte, Ressourcen, Risiken, ein bestimmter Lifestyle eingebettet in derartige übergeordnete Makrosysteme.

Diese weit gespannte Definition beinhaltet tiefgreifende Implikationen auf zwei Ebenen, und zwar erstens im Bereich der Entwicklungstheorie und zweitens für die

Forschungsdesigns. Die Definition der Makrosysteme impliziert, dass man den kulturellen Wertekonsens einer ethnischen Bevölkerungsgruppe berücksichtigen muss, z. B. wenn man versucht, Verhaltensmuster zu untersuchen. So werden einige Problemlagen im Stadtteil Neukölln dem Umstand zugeschrieben, dass sehr viele ethnische Minderheiten auf engstem Raum in den Quartieren von Neukölln-Nord quasi nebeneinanderher leben.

Viele Unterschiede, die beobachtet werden können, z. B. im Erziehungsverhalten von türkischen und deutschen Eltern, können ein Ausdruck unterschiedlicher Makrosysteme sein. Diese Unterschiede sind auf der Mikro-, Meso- oder Exoebene beobachtbar. So können Probleme z. B. im Hausflur oder auf öffentlichen Plätzen zu teilweise massiven Konflikten in der Nachbarschaft führen. Sie haben daher, so wird angenommen, auf der Makroebene ihre Ursachen.

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Die Jugendhilfeplanung bemüht sich, eine offensive Wertediskussion mit den Eltern zu führen. Dies bedeutet, dass die Jugendhilfeplanung davon ausgeht, dass Migranteneltern andere Werte als deutsche Eltern verinnerlicht haben. Dort heißt es: „Die Migranteneltern müssen sich möglicherweise mit widersprechenden Normen und Wertvorstellungen ihres Herkunftslandes und dieses Landes auseinandersetzen. Sie müssen wissen, welche Rechte hier gelten und welche Werte respektiert werden und zu respektieren sind, z. B. […]“

(Neuköllner Jugendhilfebericht 2003, Teil 3).

Mit diesem Beispiel soll die Erklärung der Grundbegriffe der

sozialökologischen Modells nach Bronfenbrenner grundsätzlich abgeschlossen werden.

Jedoch sind auf der Ebene der Gemeinden, Nachbarschaften und Kieze noch einige Ausführungen anzfügen, da die folgende Analyse die Wahrnehmung der Eltern bezüglich ihrer Wohn- und Lebenssituation betreffen.