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25 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage des äußerst populären Handbuchs von Theodor Schneider264 hielt Jozef Niewiadomski in einem Beitrag über Sakramente fest: „Auf Schritt und Tritt wird die These bestätigt: Während sich die Riten der Hochkonjunktur im gesellschaftlichen Leben erfreuen, geraten die Sakramente immer mehr ins kulturelle Abseits.

Viele der am Markt teuer verkauften Riten versagen zwar: angesichts der Eruptionen von Gewalt und Leidenschaft, von Selbstaggression und Depression entpuppen sie sich als Analgetika. Sie verschwinden vom Markt, werden aber durch neue – anscheinend wirkungsvollere – Angebote ersetzt. Eine solche, durch den Markt definierte Logik der Sinnangebote übt einen enormen Druck auf die Sakramententheologie aus. Auch Sakramente sollen Konsumentenkreise situationsgemäß befriedigen. Tun sie es nicht, werden sie ja ersetzt.

Dieser niederschmetternden Erkenntnis folgt der Stress in der Bemühung um eine ansprechende Feier der Sakramente, aber auch das ständige Gefühl des Auf-der-Strecke-Bleibens. Und

260 Lies, 1990, 361.

261 Lies, 1990, 362.

262 Vgl. Lies, 1990, 364f.

263 Lies, 1990, 365.

264 Vgl. hier 1.1.

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warum? Im Zeitalter der Ritenbegeisterung scheint ausgerechnet das festgeschriebene Sakramentenritual inkl. seiner inhaltlichen Bindung an das dramatische Geschehen Jesu Christi der Stolperstein zu sein.“ 265

Der Überblick über einige ausgewählte handbuchartige Sakramententheologien aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bringt einen überraschenden Befund: Auch in den theologischen Entwürfen spielt die Frage nach dem Ritus kaum eine Rolle. Der Ritus wird entweder mit dem negativen Beigeschmack des Ritualismus oder Sakramentalismus – wie bei Schneider, Ganoczy, aber auch teilweise bei Lies266 – erwähnt oder, wie das der Fall bei Boff ist, er spielt zwar eine wichtige Rolle, wird aber nicht scharf genug in Beziehung gesetzt zu den eigentlichen Sakramenten. Dabei findet man bei Boff den wichtigen Gedanken, „dass das, was die Menschen bestimmt, nicht so sehr Ideologien sind, sondern Symbole und Mythen“.267 Der „Zeitgeist“

schätzte – zumindest in der Kirche – die Sprache des Ritus nicht. Das Urteil wird von Ottmar Fuchs in seinem 2015 erschienenen Büchlein bestätigt. Er spricht von „aktueller Werkschätzung“ der Rituale, einer „neuen Aufmerksamkeit für Rituale“ und „mancher Unsicherheit“ bezüglich der Rituale im kirchlichen Bereich.268

Vielleicht liegt einer der Gründe dafür in der Auseinandersetzung um die „authentische“ Gestalt der nachkonziliaren Liturgie. 1970 gründete Erzbischof Lefebvre die „Piusbruderschaft“, 1976 vollzog der den Bruch mit der „Konzilskirche“269: Alles, was mit der vorkonziliaren, stark

265 Niewiadomski, 2004, 94.

266 Das kann man daran ablesen, dass Lies in dem neuen handbuchartigen Werk über Sakramente aus dem Jahr 2004 das erste Kapitel aus der Fassung von 1990 zum Thema „Sakrament und Mythos“ weglässt. Vgl. Lies, 1990, 15–24 und Lies, 2004, 10.

267 Vgl. Boff, 1978, 12.

268 Vgl. Fuchs, 2015, 11f.

269 Marcel Lefebvre (1905–1991) war ein katholischer Erzbischof und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Anführer der katholischen Traditionalisten. Nach dem Theologiestudium an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom wurde er 1929 zum Priester geweiht. Von 1932 bis 1945 war er Missionar in Gabun und Professor für Dogmatik und Exegese am Priesterseminar Libreville. 1947 empfing er die Bischofsweihe, 1948 wurde er zum Apostolischen Delegaten für die französischsprachigen Kolonialgebiete in Afrika berufen und 1955 wurde er durch Papst Pius XII. zum ersten Erzbischof von Dakar ernannt. 1962 wurde er Bischof von Tulle (Frankreich). 1962 wurde Lefebvre zum Generaloberen der Kongregation der Väter vom Heiligen Geist (Spiritaner) gewählt. Lefebvre wurde in die zentrale Vorbereitungskommission für das Zweite Vatikanische Konzil berufen, deren Texte jedoch gleich zu Beginn des Konzils verworfen wurden. Während des Konzils gründete er die Vereinigung „Coetus Internationalis Patrum“ und wurde zu ihrem Vorsitzenden. Nach dem Abschluss des Konzils trat Lefebvre zunehmend in Opposition zu den nachkonziliaren Entwicklungen in der Kirche, lehnte die wesentlichen Reformen des Konzils ab, darunter die Theologie von „Nostra Aetate“, den Ökumenismus und die Liturgiereform. 1968 trat er von seinem Amt als Generaloberer der Spiritaner zurück. 1970 gründete die Priesterbruderschaft St. Pius X. („Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii X.“). 1975 wurde der Piusbruderschaft die Anerkennung als katholische Organisation entzogen. Nachdem Lefebvre trotz des Verbots am 29. Juni 1976 seine Seminaristen zu Priestern geweiht hatte, wurde er von Papst Paul VI. suspendiert. Nachdem er am 30. Juni 1988 entgegen päpstlicher Anweisung vier Priester zu Bischöfen geweiht hatte, wurde er exkommuniziert. Nach diesem Ereignis verließen einige Priester die Piusbruderschaft und gründeten noch 1988 die Priesterbruderschaft St. Petrus, die von der Kirche anerkannt wurde. Am 25. März 1991 starb Lefebvre und

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ritualisierten Liturgie verbunden war, wurde in den progressiven und gemäßigten Kreisen mit Traditionalismus und Fundamentalismus identifiziert und deshalb auch abgewertet.270

Auch der Mangel an einer Theorie des Ritus, die mehr erschließen würde als bloß religionshistorische Daten, könnte dabei eine Rolle gespielt haben. Nach einem Symposium über die „Dramatische Erlösungslehre“ rechtfertigte Schwager seinen Rückgriff auf die Theorie Girards mit folgendem Text. Was er dort über das Opfer sagt, könnte man auch auf den Ritus beziehen, ist doch der Opferritus ein zentraler Ritus in der Religionsgeschichte: „Allein diesen [angesprochenen] theologischen Strömungen ist trotz ihrer unterschiedlichen Anliegen gemeinsam, daß sie Theologie aus der Perspektive der Opfer treiben wollen. Wir dürften folglich in diesem Anliegen einen die einzelnen theologischen Strömungen übergreifenden

‚kairos‘ vor uns haben (…). Keine der erwähnten Theologien verfügt aber über eine umfassend ausgearbeitete (anthropologische, kulturelle, gesellschaftliche, religionswissenschaftliche und theologische) Theorie, die auf das Opfer zentriert wäre. Jede bringt ihre Anliegen zur Sprache, keine bietet aber umfassende Analysen. Damit sind zahlreiche Gefahren gegeben. (…) In einer Zeit, in der die Perspektive des Opfers ins Zentrum gerückt ist, bedarf deshalb die Theologie dringend einer alle Bereiche der Humanwissenschaften umfassenden und religiösen Theorie des Opfers. Da Girard vorläufig der Einzige ist, der eine solche bietet, ist die Auseinandersetzung mit ihm für jede wissenschaftliche Theologie heute unumgänglich.“271 Deswegen soll im Folgenden die Theorie Girards vorgestellt werden.

wurde in Ecône (Kanton Wallis) beigesetzt. Am 24. September 2020 wurden seine Gebeine in die Krypta der Ecôner Seminarkirche überführt und in einen Sarkophag eingelassen.

270 Zur katholischen Variante des Fundamentalismus vgl. Niewiadomski, 1989, 1991 und 1991a.

271 Schwager, 1992, 355f.

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2 DER AUSNAHMEDENKER IN SACHEN THEORIE DES RITUS:

RENÉ GIRARD

An René Girard scheiden sich die Geister. Während einige in ihm einen der größten Denker des 20. Jahrhunderts sehen, schmähen ihn andere als Scharlatan.272 Wer war also René Girard?