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3.2 AUF DEM WEG ZUM DRAMATISCHEN ANSATZ

3.2.2 Glaube, der die Welt verwandelt

3.2.2.3 Machtvolles Glaubensleben in einer pluralistischen Welt

Raymund Schwager sucht in seiner Überzeugung, dass der christliche Glaube die Welt augenfällig verändern kann, nach Anhaltspunkten, wie der bewusste Glaube in der heutigen pluralistischen Welt sein machtvolles Wesen entfalten kann. Er weist vor allem darauf hin, dass wir unseren Glauben bewusster erleben sollen. Deswegen untersucht er die Geschichte des hohen Glaubensbewusstseins.

So beschäftigt er sich zunächst mit dem heiligen Paulus, der in seiner Begegnung mit dem Auferstandenen von Jesus Christus sehr persönlich durchdrungen und verwandelt wurde. Von diesem ausschlaggebenden Moment an, der sowohl die Offenbarung als auch Belehrung und Sendung beinhaltete, war er ein neuer Mensch, auch wenn noch viel Zeit verging, bis sich dieser neue Mensch in ihm zu manifestieren begann. Der Geist Gottes ermöglicht ihm das neue Leben in Christus und befreit ihn radikal vom Gesetz der Sünde und des Todes.544

Laut Schwager ist das vierte Evangelium ein klares Zeichen für das hohe Glaubensbewusstsein in den johanneischen Gemeinden. Diese Gemeinschaften wussten sich sehr von der Welt zu unterscheiden und hatten den Mut, nicht nur die Worte des Herrn bloß zu wiederholen, sondern sie in einer Sprache zu sagen, die die eigene Geisterfahrung in Betracht zieht.545

Zur Sprache kommen auch die Märtyrer der ersten Jahrhunderte. Sie sahen sehr oft im Martyrium die treuste Form der Nachfolge, so sehr, dass sie es manchmal direkt provozierten.

Die Märtyrer errangen in ihrem Glauben jene Gewissheit, die es ihnen erleichterte, der staatlichen Macht Widerstand zu leisten. Für sie war die Nachfolge Christi nicht eine theoretische Sache, sondern eine dramatisch gelebte Wirklichkeit. Die Zuversicht, mit der sie in den Tod gingen, zeigt deutlich, dass sie nicht vom Fanatismus ergriffen waren, sondern für den Zeugnis ablegen wollten, von dem sie sich tatsächlich gerufen wussten. Dank dem hohen Glaubensbewusstsein waren sie frei von der Sorge um ihr Leben und konnten ihren Weg bis zum Tod gehen.546

Die christlichen Mystiker waren für die Mehrheit der Glaubenden der Meinung, dass Gott in erster Linie durch die Vernunft und das Hören des Glaubenswortes erkannt werden muss. Diese Form des Erkennens war für sie dennoch unvergleichbar mit jener, die durch mystische Einsicht

544 Schwager, 1976, 77–79.

545 Schwager, 1976, 79–81.

546 Schwager, 1976, 81–83. Schwager beruft sich auf Viller, Rahner, 1939, 30–38.

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erreicht werden kann. Die Höhepunkte ihrer geistlichen Erfahrungen haben sie unter anderem als „Vereinigung mit Gott“547, „Umgestaltung in Gott“548, „mystische Vermählung“549 beschrieben. Die Wirkung der christlichen Mystiker auf das Christentum war aber zweideutig.

Einerseits zeigten sie, dass der Glaube viel mit der tiefen inneren Erfahrung zu tun hat und dass der Mensch auch Verlassenheit oder Dunkelheit erleben soll, wenn er zur Vereinigung mit Gott gelangen will. Andererseits unterstützten sie die Ansicht, dass die Glaubenserfahrung ein wirklich außergewöhnliches Erlebnis ist und man im Alltagsleben nicht mit solchen Erkenntnissen rechnen dürfte. Schwager hebt dabei die Rolle von Franz von Assisi und Ignatius von Loyola hervor. Von ihnen, obwohl sie auch Mystiker waren, gingen eindeutige Impulse gegen die Trennung des Glaubensinhaltes von der Glaubenserfahrung aus. Die höchste mystische Erfahrung besteht für sie vor allem in einer fundamentalen Veränderung des Glaubensbewusstseins und des menschlichen Selbstverständnisses.550

Das hohe christliche Glaubensbewusstsein kommt zum Ausdruck im Selbstverständnis der kirchlichen Amtsträger. Im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Bischöfe und Patriarchen, die ein außergewöhnliches Bewusstsein ihrer Vollmacht und Würde besaßen. Sie waren davon überzeugt, dass sie als Hirten des Volkes einen besonderen Anteil am Auftrag und an der Vollmacht Christi haben. Den Höhepunkt dieses Selbstbewusstseins erreichte die Kirche mit Papst Innozenz III. (1198–1216), der sich selbst als „Stellvertreter Christi, Nachfolger Petri, Gesalbter des Herrn, Gott Pharaos, weniger als Gott, mehr als Mensch“551 benannte. Die Wirkungen, die so hohe Ansprüche des kirchlichen Amtes bewirkten, kann man nicht eindeutig beurteilen. Einerseits war dieses Selbstverständnis der Bischöfe ein wichtiger Faktor zur Aufrechthaltung des christlichen Selbstbewusstseins. Andererseits wurde dieser Anspruch immer weniger im Zusammenhang mit dem Glaubensleben gesehen, sondern berief sich das kirchliche Amt immer häufiger auf eine nur juristisch verstandene Vollmacht und übersah ihr wahres Fundament – die Teilhabe am hohen Selbstbewusstsein Jesu.552

In der Geschichte der Kirche existierten auch verschiedene kirchensprengende Bewegungen und Gruppen, die sich im Namen der Treue zum Evangelium gegen die kirchlichen Institutionen erhoben. Ein Teil von ihnen entwickelte sich später zu religiösen Orden und ein anderer Teil zu

547 So z. B. Johannes vom Kreuz, 1952, 38.

548 So z. B. Johannes vom Kreuz, 1952a, 162.

549 So z. B. Johannes vom Kreuz, 1952, 27.

550 Schwager, 1976, 86–88.

551 Schwager verweist auf Haller, 1940, 298.

552 Schwager, 1976, 88–91.

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häretischen Sekten. Die Heiligen haben die Anfeindungen geduldig und gehorsam ertragen und so die ganze Kirche einen Schritt weitergeführt, andere bemühten sich in einer gewissen Weise um die Reform, sodass aber für sie die Kirche selbst letztendlich zum Hauptfeind wurde.553 Die ganze Kirchengeschichte im Blickwinkel des hohen Glaubensbewusstseins zu sehen, ist eine vielfältige Aufgabe, bei der man schwer alles auf einen Nenner bringen kann. Sie zeigt, dass der Glaube und die Nachfolge Christi ein vielschichtiger und dramatischer Prozess sind.

Jesus Christus hat durch seine Botschaft, das Kreuzes- und Auferstehungsgeschehen die Gewalt, die Sünde und den Tod grundsätzlich überwunden, seine Herrschaft geschieht durch den lebenspendenden Geist. Er überwältigt aber die Menschen nicht, sondern beginnt sein Wirken in deren innersten Strebungen und setzt sich in einem dramatischen und verschlungenen Prozess durch.554

Schwager unterstreicht mehrmals, dass wir aktuell in einer pluralistischen Welt leben. Die von zeitgenössischen Wissenssoziologen für das Christentum aufgestellte Alternative555 – die Öffnung auf die Welt hin und damit verbunden eine drohende Selbstauflösung oder der Rückzug in eine Getto-Mentalität und die Faszination von Feindbildern – ist für Schwager keine wahre Alternative. Und dies schon deswegen, weil sie zu schnellen Lösungen verführt. „Der christliche Glaube kann der unheilvollen Alternative nur entgehen, wenn er jene gesellschaftlichen Mechanismen, von denen her sich das Entweder-Oder stellt, von innen her zu überwinden vermag.“556 Was hat das zu bedeuten? Wie schon in seinem Buch „Jesus-Nachfolge“ problematisiert Schwager die Schlussfolgerungen der Wissenssoziologie. Ihre Analysen „gehen davon aus, daß Menschen das für wahr halten, was die Gesellschaft, in der sie leben, entsprechend beurteilt. Der gesellschaftlich vorgegebene Raster soll so stark sein, daß er selbst die spontanen Erfahrungen prägt und deshalb bestimmt, was überhaupt für wirklich gehalten wird. Da der entscheidende Einfluß durch unbewußte Mechanismen geschieht,557 kann

553 Schwager, 1976, 91–95.

554 Schwager, 1976, 95–99.

555 Schwager, 1976, 101–106 bezieht sich dabei vor allem auf Peter L. Berger und sein Urteil: „Wenn man in der modernen Gesellschaft eine große Rolle spielen will, dann muß man die tradierten religiösen Inhalte weitgehend aufgeben, denn gerade sie sind in der heutigen Situation ‚irrelevant‘. Wenn man aber diese Inhalte weiter als Wirklichkeit behaupten will, dann muß man sich mit den sozialen Strukturen der Sektenexistenz befreunden, und damit wohl auch mit dem Schicksal, von den großen Wirklichkeitsdefinitoren der Gesamtgesellschaft (wie Massenmedien) bestenfalls als Kuriosum angesehen zu werden.“ Berger, 1969, 131f. zit. nach Schwager, 1976, 101.

556 Schwager, 1976, 103.

557 Bei diesem Halbsatz findet sich zum ersten Mal in der Anmerkung ein Verweis auf René Girard: „Gewöhnlich spricht Wissenssoziologie ziemlich allgemein von gesellschaftlichen Mechanismen. Erst R. Girard hat in seinem Werk La Violence et le Sacré die eine ganze Gesellschaft strukturierenden Mechanismen sehr detailliert umschrieben.“ Schwager, 1976, 168, Anm. 58. Hervorhebung vom Autor.

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ein einzelnes kritisches Bewußtsein die gesellschaftlichen Vorgegebenheiten nie voll aufarbeiten.“558

Schwager kontert und verweist auf seine Nachzeichnung des Lebensweges Jesu, wie er ihn in der „Jesus-Nachfolge“ und auch im vorliegenden Buch geleistet hat. „Bei der Beschreibung der Nachfolge Jesu sind wir nun genau auf ein gegenteiliges Wahrheitsverständnis gestoßen. Der Prophet aus Nazareth ist mit einer Botschaft aufgetreten, die keineswegs in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung seiner Zeit stand. (…) Daraus wird einsichtig, daß der Wahrheitsimpuls, der die Botschaft und das Geschick Jesu bestimmte, im klaren Gegensatz zu wissenssoziologischen Theorien darauf zielte, die Grundmuster der vorgegebenen Gesellschaft zu durchstoßen.“559 Das zeigt, dass die Mechanismen durchstoßen und überwunden werden können. Die daraus gezogene Konsequenz verrät den Einfluss der Lektüre des Werkes von Girard und kündigt das nächste Buch von Schwager an: „Entsprechend ist der ganze Weg des Alten und Neuen Testamentes als eine fortschreitende Bloßlegung jener Mechanismen zu lesen, durch die gesellschaftlich bedingte ‚Wahrheiten‘ konstruiert werden.“560

Deswegen kann der Glaube an Christus in der modernen Welt – jenseits der „vernichtenden Alternative“ – wirklich wirksam und lebenskräftig bleiben, wenn die Christen ihr Glaubensbewusstsein bewusster und intensiver leben. Nur wenn die Nachfolge Christi echt gelebt und auf dem Glaubensweg das Wirken Gottes tatsächlich erfahren wird, kann der Glaube anziehend sein. Die Betonung des hohen Glaubensbewusstseins kann keineswegs zur Konfrontation mit anderen Religionen führen. Ganz im Gegenteil – nur wenn ein Christ seinen eigenen Glauben bewusst erlebt, kann er in Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen das Wirken Gottes sehen und anerkennen.561