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3.2 AUF DEM WEG ZUM DRAMATISCHEN ANSATZ

3.2.2 Glaube, der die Welt verwandelt

3.2.2.2 Jesus als der Sohn Gottes und die Glaubenserfahrung

Wie schon in seinem Werk „Jesus-Nachfolge“ beschreibt Schwager den Zugang zur Person Jesu, indem er sein Selbstverständnis zu rekonstruieren versucht. Er antwortet auf die Frage, wie Jesus Christus sich selbst verstanden hat und auf welche Weise die neutestamentlichen Schriften ihm die Gottessohnschaft zuschreiben, indem er ihn zuerst in seinem Umfeld situiert.

Kein Mensch kann unabhängig von der zeitgenössischen Situation, in der er lebt, verstanden werden. Deswegen beginnt Schwager seine Betrachtungen mit dem alttestamentlichen Hintergrund. Er sucht nach einem Grundmuster, das die jüdische Überlieferung erarbeitet hat, das für das Selbstverständnis Jesu und für die Überlegungen der Urgemeinde über seine Botschaft und sein Geschick hilfreich gewesen sein mag. So gelangt er zu einem Grundmuster aus vier ausschlaggebenden Traditionssträngen. „1. Ein Mann Gottes tritt mit einem großen Anspruch auf. Er verkündet eine Heilsbotschaft für die Menschen, rühmt sich, die Erkenntnis Gottes zu besitzen und nennt Gott voll ‚Prahlerei‘ Vater. 2. Er versteht sich selber als Träger des Geistes oder der Weisheit Gottes und nennt sich Knecht oder Sohn Gottes. 3. Wegen seines Anspruches und seiner Botschaft fällt er anderen lästig. Er wird abgelehnt, auf die Probe gestellt und schließlich getötet. 4. Menschen gelangen zur Überzeugung, daß der Getötete den Sieg errungen hat und für andere zum Gericht oder Heil wird.“535

Kann dieses Muster das Geschick Jesu verständlich machen? Schwager weist darauf hin, dass Jesus nicht nur eine Botschaft verkündet, sondern sie durch seine machtvollen Taten, die seine Gegner nicht anzweifeln können, bekräftigt. Er nennt sich nicht nur Knecht des Herrn, sondern spricht zu Gott wie zu seinem Vater. Jesus verwendet dabei das familiäre Wort „Abba“ – durch diese Anrede spricht Jesus den Vater in einer bisher unvorstellbaren Vertrautheit an.536 Damit offenbart Jesus einen fundamentalen Unterschied für das damalige Gottesverständnis. Die Dramatik der Situation ergibt sich aus der Tatsache, dass sich sowohl Jesus als auch die Pharisäer auf den gleichen Gott und die gleichen heiligen Schriften berufen.537

Wie steht es um das Selbstverständnis Jesu? Schwager weist darauf hin, dass diese Frage heute sehr umstritten ist. Es sei aber nicht von entscheidender Bedeutung, welchen Titel Jesus selbst gebraucht hat, um sich zu bezeichnen. Wichtiger ist es, dass er durch sein Lehren und Leben unvergleichbar mehr ausprägte und aussagte, als alle Titel sagen können. Schwager bezeichnet

535 Schwager, 1976, 45.

536 Schwager beruft sich dabei auf van Iersel, 1961, 12–13.

537 Schwager, 1976, 45f.

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ihn aber als den auserwählten Knecht, den die Stimme vom Himmel anspricht: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“ (Mt 3,17). Und ein Zweites ist von Bedeutung: Jesus verkündet direkt, dass mit seinem eigenen Wirken und seinen Worten das Reich Gottes bereits anbreche.538

Er wurde von seinen Gegnern umgebracht. Warum wurde Jesus verurteilt? Zweifellos hatte jede der wichtigen Gruppen in der damaligen Gesellschaft ihre spezifischen Gründe, um Jesus anzugreifen. Jesus hat mit Zöllnern Mahlgemeinschaft gehalten und war dadurch bei den Zeloten verhasst. Jesus hat sich über viele mosaische Gebote hinweggesetzt und ist so in Konflikt mit den Pharisäern geraten. Seine Worte gegen den Tempel hatten Zorn unter den Sadduzäern bewirkt. Alle seine Gegner konnten dabei seine machtvollen Zeichen, mit denen Christus seine Botschaft bekräftigt hat, nicht bestreiten. Schließlich hat sich Jesus während seines Prozesses vor dem Hohen Rat tatsächlich mit den Worten „Ich bin“ als Messias bekannt und wurde wegen Gotteslästerung verurteilt.539 Und wie hat Jesus selbst sein Leiden verstanden? Jesus, der das Reich Gottes mit seinem Tun identifiziert hat, konnte „seinen eigenen drohenden Tod als stellvertretende Überwindung der Gewalt und der Sünde verstehen“.540

Nach der Auferstehung verkünden die Apostel nicht bloß ein historisches Geschehen, sondern eine neue siegreiche Wirklichkeit, nämlich die Begegnung mit dem Auferstandenen. Er kann von jenen Menschen, die sich in ihrem Innersten treffen lassen, erfasst werden. Schon in dieser Welt kann man diese neue Wirklichkeit erfahren, in der der Tod, die Gewalt und die Sünde überwunden sind. Diese neue Lage bezeugen sie mit ihrem Verhalten: sie antworten den Gegnern Jesu nicht mit Ärger, sondern die Apostel verkünden ihnen diese verwandelte Heilsbotschaft.541

Wie schon in seinem Werk „Jesus-Nachfolge“ weist Schwager auch hier mit Nachdruck auf die parallele Struktur der Vorgänge hin: „Es ist […] nicht zufällig, daß genau die gleichen Taten und Widerfahrnisse die entscheidenden Etappen sowohl des Glaubensweges wie des Offenbarungsprozesses bilden. Würde man sich die Offenbarung anders vorstellen und meinen, daß geheimnisvolle Worte direkt aus einer anderen Welt in diese hinein gesprochen werden, wäre unerklärlich, wie diese Worte aufgenommen werden könnten, ohne daß der Mensch sie

538 Vgl. van Iersel, 1961, 187.

539 Schwager beruft sich auf Stauffer, 1967, 174–184.

540 Schwager, 1976, 59.

541 Schwager, 1976, 60–62.

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bereits in der Aufnahme durch seine vorgegebenen, begrenzten Denkvorstellungen notwendigerweise verfälschen würde. Sieht man jedoch, daß die Offenbarung darin besteht, daß das menschliche Leben Jesu ganz auf den Vater hin geöffnet wurde, wird verständlich, daß die Nachfolge dieses Problem löst, ja daß sie die einzige Weise ist, wie das sich offenbarende Wort aufgenommen werden kann, ohne daß es im Aufnehmen schon vergewaltigt wird. In der Nachfolge wird der Menschen von Gott her geöffnet, und sein Erkenntnis- und Erfahrungshorizont wird dadurch entscheidend ausgeweitet.“542 Die Offenbarung Gottes geschah also nicht durch einen einmaligen intellektuellen Vorgang, sondern vielmehr in einem langen dramatischen Prozess. An diesem Prozess waren zahlreiche Akteure beteiligt: Jesus mit seiner Botschaft und seinem Geschick, seine Jünger, die ihm nach seiner Auferstehung begegnet sind, alle Gegner mit ihren Reaktionen und ihrer Gewalt, andere Zeitgenossen und Beobachter seines Lebens und auch die Urgemeinde durch ihre Reflexion über vergangene Ereignisse.

Jesus hat nicht nur durch seine Worte, sondern im Grunde genommen durch sein ganzes Leben, mit seinem Tun und Leiden Gott geoffenbart. Und Christus ruft uns in seine Nachfolge. Die Nachfolge Christi kann offensichtlich kein einmaliger Akt sein. Es ist ein dramatischer Prozess, in dem der Mensch von Gott befähigt wird, die Gewalt durch die Hingabe zu überwinden und auf die Gewalt nicht mit Gegengewalt zu antworten. Die Nachfolge kann dennoch nicht auf ethisches Bemühen reduziert sein. Die Jünger Christi kommen auf seinem Weg immer tiefer zur Einsicht, dass sie letztlich in ihrem Leben von einer anderen Wirklichkeit geführt und geleitet werden. Jesus weiß sich von seinem Vater gesandt, und von seinen Nachfolgern sagt er desgleichen: „Wie du (Vater) mich in die Welt gesandt hast, so habe ich auch sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Seinen Nachfolgern verheißt er, dass sie nicht nur die gleichen, sondern sogar noch größere Werke tun werden – „Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen“ (Joh 14,12). Damit ist die Nachfolge Christi nicht ein Akt sklavischer Verbeugung vor dem Gesetz, sie bleibt ein lebenslanger Prozess. Wie schon in der „Jesus-Nachfolge“ wird sie verstanden „als Eintreten in das hohe Selbstbewusstsein Jesu und als Teilhabe an der Macht der Auferstehung und als Bereitschaft zum Kreuz“.543

542 Schwager, 1976, 73.

543 Schwager, 1976, 76.

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