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2.2 EIN NEUES PARADIGMA NICHT NUR FÜR DIE RELIGIONSWISSENSCHAFT

2.2.1 Anthropologische Basis der Genese der Riten: Literatur als Inspirationsquelle

Girard war kein Theologe, aber seine mimetische Theorie gilt trotzdem für viele Theologen als eine wichtige Inspirationsquelle. Er war ein ausgebildeter Historiker, aber der größte Baustein seiner Theorie war die Literaturforschung. Die Literatur und nicht die Philosophie gilt auch als die Hauptquelle seiner mimetischen Theorie.294 Warum schreibt er der Literatur einen solchen Erkenntniswert zu? Zuerst muss man festhalten, dass er nicht alle literarischen Werke so schätzt und bewertet. Vielmehr stellte er fest, dass nur jene Autoren, die in ihrem Leben eine tiefgreifende, persönliche Wandlung erlebten, imstande waren zu entdecken, dass der Ursprung der menschlichen Konflikte in der Kraft der Mimesis liegt und sie selber auch dieser Kraft unterstellt sind.295 Nur diese Literatur befindet sich auf dem höchsten Niveau und nur sie kann einen präzisen und wahren Einblick ins Leben der Menschen ermöglichen, mit all seiner Vielfalt, also auch mit den Phänomenen der Gewalt und der Religion.296 Zu solchen europäischen Schriftstellern, die Girard entscheidende Impulse zu seinem Menschenbild und zu seiner Sicht der Religion und der Menschheit lieferten, gehörten vor allem Fjodor M.

Dostojewski, William Shakespeare, Marcel Proust, Friedlich Hölderlin, Miguel de Cervantes oder Albert Camus.297 Girard ist überzeugt, dass diese Autoren es besser vermögen als die Philosophen, die Mechanismen des menschlichen Begehrens zu schildern, ohne sie zu verfälschen. „Nicht Autonomie zeichnet nämlich die Helden der großen Romane aus, sondern das mimetische Begehren, das, bei aller Unterschiedlichkeit von Individuen, sie nach und nach zu spiegelbildlichen Kopien macht.“298 In einem Interview-Buch gibt Girard sogar zu, dass Shakespeares Werke von dieser Intuition besessen sind. So sagte er: „Meine ‚Bibel‘ der mimetischen Begierde ist „Troilus und Cressida“, aber zuerst habe ich Shakespeare durch den

293 Zit. nach Assmann, 1996, 264.

294 Niewiadomski, 2019, 200 sieht darin einen der Hauptgründe, warum Girard in der intellektuellen Welt eine Provokation darstellt: „Der Ansatz von Girard provoziert weiterhin und dies zuerst, weil er die philosophisch vertraute Abstraktion des Subjektes und des autonomen Individuums durch den Rückgriff auf die literarischen Analysen der Dynamik des menschlichen Begehrens radikal unterläuft. In den Romanen von Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust, Dostojewskij und später auch im Werk von Shakespeare findet er einen Menschen vor, der, bevor er zum rationalen Wesen wird, ein begehrendes Wesen ist.“

295 Eichwede, 2012, 14f.

296 Vgl. Palaver, 2004, 39.

297 Palaver, 2004, 39–53.

298 Niewiadomski, 2019, 200.

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„Sommernachtstraum“ entdeckt. Vom literarischen Standpunkt her ist diese Entdeckung die schönste Erinnerung meines Lebens. Ich habe dieses Stück zuerst im Fernsehen gesehen. Ich habe es nicht ganz verstanden, weil ich es nicht gelesen hatte. Aber ich war bereit, es zu lesen:

Ich hatte die ganze These der mimetischen Begierde entwickelt, und plötzlich fand ich sie in ihrer vollkommensten Form bei Shakespeare wieder, mit direkten anthropologischen Erweiterungen. „Der Traum“ ist zuerst eine Summe der Begierden, die vier Liebende betrifft, aber er geht bis zur gewalttätigen Zerstörung der Gesellschaft. Auf wenigen Seiten kommt man von den lächerlichsten Rivalitäten – kleiner, charakterloser Liebender, die flirten und einander nachahmen – zur Entstehung von mythologischen Monstern. Im „Sommernachtstraum“ fand ich die Bestätigung dafür, dass der Weg, der mich von Marivaux zum Opfer führte, der richtige war, und das in einer wunderbaren Sprache mit einer unvergleichlichen Poesie. Dort findet man wörtliche Definitionen der mimetischen Begierde, Formulierungen wie folgende: ‚O hell! to choose love by another’s eye!‘; ‚O Qual, wenn andrer Aug der Liebsten wählt! ...‘ Danach griff ich nach Troilus und Cressida folgendes auf: ‚It’s mad idolatry when the service is greater then the god‘, ‚Abgöttischer Wahnsinn ist’s, die Andacht größer als den Gott zu machen‘.“299 Das Thema des mimetischen Begehrens entwickelte Girard zunächst in seinem 1961 erschienenen literaturkritischen Buch „Mensonge romantique et Vérité romanesque“300, in dem er die Werke der größten Romanschriftsteller analysierte, gleichzeitig sich aber damit auch von der Theorie der Literaturkritik, die vom gängigen Strukturalismus geprägt war, absetzte. Das in mehrere Sprachen übersetzte Werk301 wurde in der Literaturwissenschaft sehr breit rezipiert;

bis heute stellen die Literaturwissenschaftler die größte Gruppe der Rezipienten Girards weltweit dar. Einen von der Perspektive der Literaturwissenschaft her betrachtet nächsten Höhepunkt stellt das im Jahre 1991 erschienene Buch „A Theater of Envy: William Shakespeare“ dar.302 Sowie das erste literaturwissenschaftliche Buch wurde auch dieses Werk in der Fachwelt, vor allem aber in der Theaterpraxis weltweit beachtet.

Die Schriftsteller entdecken die Kraft der Mimesis, indem sie in ihren Romanen beschreiben, wie die Menschen das Streben und das Begehren anderer Menschen, die für sie Vorbilder sind,

299 Girard, 1997, 32f.

300 Deutsche Ausgabe: „Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität“, Thaur-Wien-München, 1999, 22012.

301 Das Buch wurde u. a. ins Englische übersetzt: „Deceit, desire, and the novel: self and other in literary structure“, Baltimore, 1965; ins Italienische: „Struttura e personaggi nel romanzo moderno, poi come Menzogna romantica e verità romanzesca“, Milano, 1965; ins Spanische: „Mentira romántica y verdad novelesca“, Barcelona, 1985; ins Polnische: „Prawda powieściowa i kłamstwo romantyczne“, Warszawa, 2001.

302 Deutsche Ausgabe: „Shakespeare: Theater des Neides“, München, 2011.

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quasi-instinktiv nachahmen. Dadurch werden Spannungen und Rivalitäten erzeugt. Laut seiner Theorie wird die Nachahmung immer weniger durch Instinkte eingegrenzt. Natürlich gibt es so etwas wie Hunger, Durst und Sexualität. Deren instinktive Befriedigung stellt noch kein großes theoretisches Problem für Girard dar. Für ihn lautet die entscheidende Frage: Wie steht es um das menschliche Begehren, wenn diese Bedürfnisse gestillt zu sein scheinen? Er steht auf dem Standunkt, dass die simple Erfüllung der Grundbedürfnisse unser Begehren überhaupt nicht stillt. An diesem Punkt versucht er auch den evolutiven Prozess der Menschwerdung zu erklären. Die Grundvoraussetzung für die Hominisation ist die Befreiung des menschlichen Begehrens von Instinktsteuerungen.303 Girard äußert sich dazu: „Ich behaupte nicht, dass es kein autonomes Selbst gibt. Ich sage, dass die Möglichkeiten eines autonomen Selbst in irgendeiner Weise fast immer von der mimetischen Begierde verdeckt sind (…) Jede Begierde ist der Wunsch, zu sein.“304

Das menschliche Begehren wird also prinzipiell von Vorbildern geleitet. Die Theorie verbindet damit den klassischen platonisch-aristotelischen Begriff der „Mimesis“ (Nachahmung)305 mit dem Begriff des menschlichen Begehrens, damit auch der Aneignung: „Wenn Platon von Nachahmung spricht, tut er das in einem Stil, der das ganze spätere abendländische Denken ankündigt. Die von Platon herangezogenen Beispiele befassen sich immer nur mit bestimmten Arten von Verhaltensweisen, von individuellen oder kollektiven Gewohnheiten, Worten, Redensarten – stets Repräsentationen. In dieser platonischen Problematik geht es nie um Aneignungsverhalten. Aneignungsverhalten aber, das bei den Menschen wie bei den Lebewesen überhaupt eine herausragende Rolle spielt, ist offensichtlich geeignet, kopiert zu werden.“306 In dieser Theorie steht demnach „das Begehren“ und nicht die menschliche Vernunft als zentraler Faktor des menschlichen Handelns da. Mit der Sprache des Alltags ausgedrückt, heißt das, dass ich nach etwas verlange, was ich eigentlich nicht notwendig zum Leben brauche, sondern mir gefällt etwas, was einem anderen gefällt, der für mich ein Vorbild ist – ich bin mir dessen jedoch nicht bewusst. Ich begehre also ein materielles oder geistiges Objekt aufgrund meines Vorbilds. Girard spricht deswegen vom „Begehren gemäß dem Anderen“, vom „triangulären Begehren“ oder von der „Dreierstruktur des menschlichen

303 Moosbrugger, 2014, 112–115.

304 Girard, 1997, 28.

305 „… ja gerade dadurch unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen, dass er die größte Fähigkeit zur Nachahmung hat …“ So Aristoteles in der „Poetik“; der Satz stellt das Motto für das erste – anthropologische – Kapitel des Werkes „Das Ende der Gewalt“ von Girard dar. Vgl. Girard, 2009, 25.

306 Girard, 2009, 32.

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Begehrens“.307 Nur solange das begehrte Objekt für beide ausreichen kann, verhalten sich die Menschen aggressions- und gewaltfrei.308

Auf diesem Hintergrund habe ich selber den Sinn der Ordensregel verstanden. Der heilige Benedikt von Nursia beschreibt nämlich in seiner Ordensregel ein solches Verhalten als einen guten Eifer. Er schrieb: „Wie es einen bösen und bitteren Eifer gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es auch einen guten Eifer, der von der Sünde trennt und zu Gott und zum ewigen Leben führt. Das ist der Eifer, den die Mönche in glühender Liebe betätigen sollen: ‚Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung übertreffen‘ (Röm 12,10).“309 René Girard würde diese Phase des Begehrens als einen primären Mimetismus310 beschreiben. Für ihn ist dieser einerseits unerlässlich, weil alles, was wir Lernen oder Erziehung nennen, auf ihm beruht, andererseits ruft jedoch die Aneignungsmimesis sehr oft Konflikte hervor. Warum?

Die Situation führt zum Konflikt, wenn ich nach einem Objekt strebe, nach dem auch mein Gegenüber strebt, und wenn das Objekt gemeinsamen Besitz ausschließt.311 Das verändert die ursprüngliche Konstellation radikal. Der Anteil des Anderen wird erstrebenswert, nicht aufgrund meiner Notwendigkeit, sondern weil es dem anderen gehört. Den Konflikt kann man in einer solchen Situation nicht vermeiden. Das Vorbild fühlt sich bedroht und reagiert auf mein Begehren mit Abwehr. Er wird damit zum Rivalen. Aber auch in dieser Rolle als Rivale bleibt er immer noch ein Vorbild. Infolge dessen entsteht eine neue Art der Mimesis, bei der das Objekt des Begehrens zunehmend aus den Augen verloren wird. Diese Art von Mimesis bezieht sich nur auf Aktionen und Reaktionen von Subjekt und Modell.312 Die Menschen, deren Verhalten durch eine solche Rivalitätsmimesis geprägt wird, vergessen also schnell im Konflikt das erste Objekt des Begehrens, das sie sich aneignen wollten, und werden gegenseitig zu Rivalen. Der Konflikt verbreitet sich sehr schnell. Girard sagt dazu: „Wenn mimetische Konflikte ansteckend sind, das heißt, wenn es zwei Individuen gibt, die dasselbe Objekt begehren, dann wird es bald einen dritten geben, der das gleiche tut. Ab dem Augenblick, an dem es drei, vier, fünf, sechs sind, entwickelt sich der ganze Prozess nach Art eines Schneeballeffekts, und alle begehren dasselbe. Den Ausgangspunkt des Konfliktes bildet das Objekt. Aber der Konflikt wird mit der Zeit so intensiv, dass er das Objekt zerstört oder aus den

307 Girard, 2012, 11–58.

308 Palaver, 2004, 71.

309 Benedikt von Nursia, 1979, 248.

310 Girard, 2009, 344.

311 Palaver, 2004, 71.

312 Moosbrugger, 2014, 112–116.

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Augen verliert. Der Konflikt geht auf der Ebene der Antagonisten weiter, die über alle realen Begierden hinaus voneinander besessen sind. Auf die Ansteckung der Begierden folgt die Anheizung der Konflikte.“313 Von der anthropologischen Perspektive her betrachtet, ist hier das Thema der Doppelgänger angesiedelt. Die Literatur ist voll von der Beschreibung solcher Doppelgänger: „Die Doppelgänger sind, alles in allem, immer nur die Reziprozität der mimetischen Beziehungen. Gerade weil das Subjekt ausschließlich nach der Differenz strebt, weil es sich weigert, die Reziprozität einzugestehen, triumphiert diese Reziprozität, und zwar dank jener Strategien, die jeder entdeckt und im selben Augenblick in die Praxis umsetzt, um sie besser zu vereiteln. Die fortwährend geleugnete Reziprozität wird das Subjekt

‚heimsuchen‘, wahrhaftiges Phantom der wahren Struktur, welche der große Schriftsteller mühelos erkennt, welche die meisten Menschen aber erfolgreich austreiben können, zumindest solange es sie selbst betrifft. Sobald es die anderen betrifft, stehen sie in Sachen Scharfsinn niemandem nach. Gerade dieser effektiv vorhandene Scharfsinn täuscht sie unablässig und gaukelt ihnen vor, als einzige könnten sie sich aus der Affäre ziehen, in die alle nach wie vor verstrickt sind.“314 Die Verbindung von zwei Themen – dem der Mimesis und dem des Begehrens – ermöglicht eine wichtige Erkenntnis: Die Aneignungsmimesis wird zur Gegenspielermimesis, in der alle Mitglieder sich gegen alle wenden. Es kommt zu einem Konflikt, der zur Zerstörung der Gemeinschaft führen könnte.315 Anders ausgedrückt: Die bewundernde Nachahmung transformiert sich schnell und einfach in Feindschaft und Konflikt und deswegen ist das friedliche Zusammenleben der Menschen alles andere als selbstverständlich.316

Gibt es einen Ausweg aus dem Teufelskreis? In seinem ersten großen Werk „Die Figuren des Begehrens“ stellt die Bekehrung des Helden den ersten Schritt zum Ausweg dar: Und was bedeutet diese Alternative der „Bekehrung“? Wie tief muss der Prozess ansetzen? Zentral ist für Girard die Figur des Fürsten Myschkin aus dem Roman „Der Idiot“: „Der Fürst ist nicht ohne Begehren, doch seine Träume schweben über den anderen Figuren (...) Er ist der Mensch des allerfernsten Begehrens in einer Welt des allernächsten Begehrens. Vom Standpunkt der ihn umgebenden Menschen aus ist es, als würde er gar nicht begehren. Er lässt sich nicht in die Dreiecke der anderen einbinden. In seiner Umgebung blühen Neid, Eifersucht und Rivalitäten,

313 Girard, 1997, 29.

314 Girard, 2009, 357. Das beste Beispiel für diese Problematik stellt „Der Sommernachtstraum“ von Shakespeare dar. Vgl. Girard, 2011.

315 Girard, 2009, 50–52.

316 Schwager, Niewiadomski, 2003b, 25f.

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doch er lässt sich davon nicht anstecken. Er ist keineswegs gleichgültig, doch seine Menschenliebe und sein Mitleid binden ihn nicht, wie ihn das Begehren binden würde. Er bietet den übrigen Figuren nie die Stütze seiner Eitelkeit an, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich.“317 Niewiadomski weist darauf hin, „wie außerordentlich fraglich es ist, die Transformation der mimetischen Krise einzig und allein auf individuell-existentieller Ebene anzusiedeln. Dieser ‚Bekehrte‘ kann die Prozesse mimetischer Rivalität, die in seiner Umgebung laufen, keineswegs heilen. Sein Handeln bleibt in die abgründige, strukturelle Mechanik und Tödlichkeit mimetischer Krise eingebunden.“318 Diese Beobachtung ist von zentraler Bedeutung für das Thema dieser Dissertation. Wie geschieht die Transformation des Alltags? Gemäß dem ersten Standbein der mimetischen Theorie sind Veränderungsprozesse, damit auch Wandlungen im zwischenmenschlichen Bereich, größtenteils durch das mimetische Begehren hervorgerufen. Dies kann das menschliche Leben in eine tiefe Krise führen. Wenn die Transformation aufgrund der Bekehrung keine grundsätzliche Lösung ermöglicht, warum überleben dann die menschlichen Kulturen?

Der Rückgriff auf die Literatur als Inspirationsquelle hat nämlich auch große Folgen für ein anderes Problem. Die mimetische Theorie ist zu einer wichtigen Stimme in der Diskussion über die Eigenart der menschlichen Gewalt geworden. Und warum? Girard wies zuerst auf die Tatsache hin, dass in allen Kulturen weltweit die physiologischen Mechanismen der Gewalt zwischen den Menschen oder den Gruppen identisch sind. Die Ausdrucksformen der Gewalt sind, unabhängig von ihrem Kontext, nahezu gleich. Ist die Konsequenz solcher Beobachtung eine theoretische „Ontologisierung der Gewalt“? In der Diskussion über die mimetische Theorie wurde dieser Vorwurf sehr oft erhoben. Er kommt schon aus dem Übersehen der Eigenart der mimetischen Theorie. Es ist zu beachten, „daß Girard keine Wesensphilosophie entfaltet, sondern von konkreten Phänomenen her, wie sie in literarischen und ethnologischen Texten beschrieben werden, eine empirische Theorie über das Zusammenleben von Menschen entwirft. Die philosophisch-theologische Frage, ob Verhaltensweisen, die als universal postuliert werden, tatsächlich zur Natur des Menschen gehören oder nicht, bleibt bei diesem empirischen Ansatz zunächst offen.“319 Neben der Beobachtung weltweiter Gleichheit der physiologischen Mechanismen der Gewalt sieht Girard auch, dass die Gewalt in Bezug auf diejenigen, die sie ausüben, extrem unbestimmt in ihrer Orientierung ist, wem gegenüber sie

317 Girard, 1999, 169.

318 Niewiadomski, 2019, 203. Hervorhebung von mir.

319 Schwager, 1992, 356. Zur Kritik am Vorwurf der Ontologisierung vgl. Palavers Beitrag über „Girards versteckte Distanz zur Ontologisierung“: Palaver, 2003, 113–126.

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ausgeübt wird. Die konkreten Gründe der Gewalt sind dabei zweitrangig. Gemäß der mimetischen Theorie wird das Objekt der gewaltsamen Auseinandersetzung aus den Augen verloren und die Steigerung der Gewalt führt dazu, dass man den dahinterstehenden Grund nicht mehr in Betracht zieht. Zudem findet die ungestillte Gewalt immer ein Ersatzopfer. Die Dynamik der Gewalt musste vor allem in den archaischen Gesellschaften ein extrem variabler Prozess gewesen sein, der nicht durch Logik, Religion oder Humanismus geordnet werden konnte und damit keine Begrenzungen kannte. Die Gewalt hat so etwas wie ihre eigene, kohärente Logik, die nicht vom Gewalttäter bestimmt wird. Schon im ersten Werk spricht Girard davon, dass das Grundproblem der mimetischen Rivalität darin besteht, dass sie in die

„apokalyptischen Welten“ des Neids führt.320 Darin existiert kein individuelles Bewusstsein mehr, der Neid und die Aggression werden nur auf der anderen Seite als „Aggression seines Nachbarn“321 wahrgenommen. Diese Dynamik der Gewalt, die aufgrund des mimetischen Begehrens entsteht, ist absolut zerstörerisch und das ist für Girard der Grund, warum viele Kulturen in der Vergangenheit sogar zugrunde gegangen sind.

Wieso konnten aber andere überleben? Nicht nur für die Beschreibung der Eigenart des menschlichen Begehrens stellt die Literatur für Girard eine Inspirationsquelle dar. Auch bei der Suche nach Antworten, die sich aus der Eigenart des mimetischen Begehrens ergeben, bleibt Girard zuerst ein Literaturwissenschaftler. Er wendet sich aber im zweiten Schritt seines Forschungsweges den Mythen322 und schlussendlich im dritten Schritt auch der Bibel323 zu.

Moosbrugger und Niewiadomski reden von der Aporie der Anthropologie bei Girard im ersten Stadium seiner Forschungstätigkeit und sehen darin den entscheidenden Grund für die Ausweitung des Forschungsfeldes.324 Girard betritt damit die Forschungsfelder der Ethnologie, Soziologie und Religionswissenschaft, um seine Anthropologie im gesellschaftlichen Leben zu verankern.325 Raymund Schwager schrieb dazu, dass Girard zu den Autoren gehört, die in keine vorgegebenen Schablonen passen. Er war sowohl ein Revolutionär als auch ein Verteidiger des Alten; er erlebte sowohl die Faszination als auch zugleich die Ausstoßung; er zeigte das Heidnische und Mythische im Christentum auf, war aber dabei nach der Bekehrung ein tiefgläubiger Mensch; er übte Kritik, aber dennoch glaubte er an die Möglichkeit, die Wahrheit

320 Vgl. Girard, 2012, 259–290.

321 Girard, 2012, 124.

322 Vgl. Girard, 2012.

323 Vgl. vor allem Girard, 1988; ders. 1990; ders. 2002; ders. 2012.

324 Vgl. Moosbrugger, 2014, 66–88; Niewiadomski, 2019, 203.

325 Deswegen ist es schwierig, seine Theorie nur einer konkreten Disziplin eindeutig zuzuordnen. Viele sehen in ihm nicht nur einen Literaturwissenschaftler, sondern auch einen Philosophen, Religionstheoretiker, Anthropologen, Kulturtheoretiker oder Soziologen und gar Theologen. Vgl. Eichwede, 2012, 16.

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in der Geschichte zu entdecken. Girard setzt sich zwischen alle Stühle und bei allen, die nach geistiger Klarheit und Orientierung suchen, wird sein Denken angenommen.326