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1.4 PERSONALE SICHT: SAKRAMENTENTHEOLOGIE VON LOTHAR LIES

1.4.3 Der Mensch und Gott in Begegnung

Die Propädeutik der personalen Sakramententheologie ist für Lies identisch mit einer von ihm selber entworfenen Phänomenologie der Begegnung. Nur in der Begegnung antwortet der Mensch auf seine existenziellen Fragen und gründet sein Wesen.232 „Wenn wir Menschen wissen wollen, wer wir sind, dann müssen wir aus uns herausgehen und in unsere Geschichte zurückgehen, um auf dem Wege, auf dem wir gewandelt sind, zu erkennen, wer wir geworden sind (…) Der Mensch ist der, der er durch Begegnung mit anderen Menschen geworden ist.“233 In der Begegnung mit anderen antwortet man auf die Gretchenfragen seines Lebens: Wer bin ich? Wer liebt mich? Wer macht mich frei und heilig?234 Die Erfahrung der Begegnung kann negativ oder positiv sein, sie kann die Persönlichkeit des Menschen fördern oder hindern. Lies gibt dazu ein einfaches Beispiel: Ein Ehemann und Familienvater, der arbeitslos und deprimiert ist, gerät in Resignation und Verzweiflung. Alles, was er in seinem Leben unternimmt, misslingt ihm, er fühlt sich immer abgelehnt. Er wird gegen sich selbst aggressiv, sogar Selbstmordgedanken tauchen auf. Erst zu Hause, wenn er seiner Frau begegnet und sie ihn

230 Lies, 1990, 33.

231 Lies, 1990, 34.

232 Zum Folgenden Lies, 1990, 35–43.

233 Lies, 1990, 35.

234 Niewiadomski erinnert beim Begräbnis von Lies als damals amtierender Dekan der Fakultät an die jahrelang von Lies gehaltene Vorlesung „Heilsmysterium“, die durch diese Fragen strukturiert war; viele Studierende machten sich „liebevoll lustig (…) über seinen existentiellen Zugang zum Fach Heilsmysterium? Wer bin ich?

Wer liebt mich? Wer macht mich frei?“, fragte immer und immer wieder P. Lies, und die Studierenden ergänzten den Fragenkatalog. Der Frage: ‚Wer macht mich frei?‘, fügten sie hinzu: ‚Und wer befreit mich von meinem Befreier?‘ Oder schlicht und einfach: „Wer macht mich verrückt?“ Vgl. Niewiadomski, 2008, 3.

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umarmt, beruhigt er sich. In der Begegnung mit ihr darf er sein, wer er ist. Dann kommen ihm ähnliche Erinnerungen, wie ihn seine Mutter umarmte und ihm Lebensraum gewährte. Weil ihn diese Frauen annehmen, kann er auch sich selber annehmen, wie er ist. Die Begegnungen beeinflussen unser ganzes Leben, sie bilden unsere Geschichte. Jede Person braucht Menschen, die ihr Raum zur Selbstfindung anbieten. „Personraum ist für uns eine Chiffre, in einem anderen Menschen sich selbst zu finden und bei sich sein zu können.“235

Die Erfahrung, dass der Mensch nur in anderen Personen zu sich kommen kann, lässt natürlich nach solchen Menschen suchen, die ihm den Raum dazu geben. Geliebt sein bedeutet in dieser Hinsicht, im Herzen einer anderen Person einen Platz zur Selbstverwirklichung zu finden und umgekehrt: einen anderen Menschen zu lieben heißt, in sich selbst einen Lebensraum für fremde Selbstwerdung zu gewähren. Wer also nach Liebe sucht, sucht nach einem Ort eigener Selbstverwirklichung in der Mitte einer anderen Person.236

Bei der Auslegung der Frage „Wer macht mich frei?“ reflektiert Lies die Rolle der Freiheit in der interpersonalen Begegnung. Er weist dabei auf die Gefahr hin, dass viele Menschen, z. B.

durch Dankbarkeit einem anderen Menschen gegenüber, statt frei in der Begegnung zu sein, in Ketten gehalten werden. Wer die Freiheit sucht, der sucht einen Schutzraum in der Mitte einer anderen Person, die ihn liebt, die sich ihm öffnet, ohne ihn einzuschließen. In einer solchen Person kann der Mensch seine eigene Freiheit erlangen und zu sich kommen.237

In diesem Kontext heißt die interpersonale Begegnung „Raumgeben in Person“.238 Der Mensch sucht nach der Begegnung „in Person“, um darin der zu werden, der er ist oder werden kann.

Die Begegnung sucht nach einer Person, die dem anderen den Raum der Selbstentfaltung überlässt. Begegnung ist immer gelungen, wenn „der nach dem Partner ausschauende Mensch den Freiraum bei einer anderen Person gefunden hat“.239 Was heißt aber in diesen Reflexionen Person? Lies schlägt eine Definition vor: „Person ist jene Freiheit, die in einer anderen Freiheit Raum finden oder einer anderen Freiheit in sich Raum gewähren kann, ohne dadurch zerstörerisch zu wirken oder zerstört zu werden. (…) Die innerste Dynamik der menschlichen

235 Lies, 1990, 37.

236 Lies, 1990, 37f.

237 Lies, 1990, 38–40.

238 Zum Folgenden Lies, 1990, 41–43.

239 Lies, 1990, 42.

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Sehnsucht nach Begegnung mit sich selbst und mit anderen ist getragen und zugleich getrieben von dem, was wir Person nennen.“240

Mit seinen Überlegungen zur Personalität des Menschen legt Lies anthropologische Grundlagen für das Verständnis der sakramentalen Begegnung. Im zweiten Schritt überträgt er diese anthropologischen Erkenntnisse „auf Gott“, um so „ein theologisches Fundament der Sakramente als Begegnung von Personen legen zu können“.241 Der Mensch begegnet in den Sakramenten dem dreifaltigen Gott. Sie sind Weisen, in denen sich der freie Personraum des Menschen und Gottes ebenso öffnet. Die Sakramente kann man als Begegnungen betrachten, weil es Personen sind, die in ihrem Inneren den Raum für eine andere Person haben.242 Wie werden diese abstrakten Gedanken konkretisiert. Lies buchstabiert noch einmal den Kanon seiner Grundfragen, diesmal im Kontext der Geschichte des Heiles: Wer bin ich? Wer liebt mich? Wer macht mich frei? Wer macht mich heilig? Er geht davon aus, dass die Heilsgeschichte in der Begegnung besteht und in diesen zahlreichen Begegnungen Gott den Menschen sein Wesen offenbart.243 Lies sucht – ohne sakrilegisch zu werden – nach neuen Formulierungen und Sprachspielen, die sein Anliegen deutlicher werden lassen: „Man könnte (…) sagen, daß Gott in der Heilsgeschichte des Menschen sich selbst und den Menschen die gleichen existentiellen Fragen stellt, die der Mensch sich in seiner Geschichte auch stellt.“244 Lies glaubt in der Sprache der Psalmen die Bestätigung seiner Thesen zu finden. Demnach würde im Vollzug des Gebetes Gott dem Menschen die Frage stellen: „Kannst du, Mensch, mir nicht sagen, wer ich bin? Im Gotteslob antwortet der Mensch tatsächlich auf diese Frage.

Werden dann Gott und der Mensch zusammen ihre Geschichte abschreiten, um festzustellen, als wer sich dieser Gott im Laufe der Heilsgeschichte des Menschen offenbart hat?“245 In der Heilgeschichte, die Geschichte der Begegnungen ist, will Gott dem Menschen begegnen, ohne ihn zu besitzen, ihn heilzumachen, ohne ihn gleichzeitig zu versklaven. In der Heilsgeschichte lädt Gott uns ein, ihm in unserem Inneren Raum zu geben, sich als Gott zu erweisen, ihn nicht einzusperren, sondern ihm in unserem Herzen Freiraum zu geben, keine mythischen Gottesbilder anzufertigen, sondern für die Freiheit Gottes offen zu sein.246 Gott will in der

240 Lies, 1990, 42. Ähnlich auch Lies, 2004, 14,

241 Vgl. Lies, 1990, 43.

242 Lies, 1990, 42.

243 Zum Folgenden Lies, 1990, 43–49.

244 Lies, 1990, 43. Hervorhebung von mir.

245 Lies, 1990, 44.

246 „Seine Skizze, warum er [Lies] denn an einen dreifaltigen, an einen liebenden Gott glaube, in dessen Gemeinschaft er sich auch integriert weiß, sich aber weniger der souveränen Macht eines ihm gegenüber stehenden Gottes unterwerfen möchte, begann er zu Beginn der 80er-Jahre folgendermaßen: "Im Sommer 1982 brannte ich

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Heilsgeschichte beim Menschen Raum finden, um dem Menschen bei sich Raum zu geben. Die Formulierungen, die einen erfrischenden Impuls in Richtung des Menschen bringen, klingen ungewöhnlich, wenn man sie in Richtung Gottes betrachtet: „Gott entdeckt sich als der dreifaltig-eine und als die ewige personale Menschenfreundlichkeit.“247

Was bedeuten solche Formulierungen für die „neue“ Theologie der Sakramente, wie sie Lies entwickeln möchte? Wenn Sakramente „Begegnungsweisen Gottes mit dem Menschen“ sein sollen, dann „müssen sie teilhaben an der Frage Gottes, die er dem Menschen stellt: Wem kann ich mich schenken, ohne meine Identität zu verlieren? Sakramente müssen etwas von dem Hingabewillen Gottes an die Menschen spüren lassen. Sakramente müssen aber auch aufnehmen, daß der Mensch diesen Hingabewillen Gottes, wie er besonders in der Menschwerdung Gottes und in seiner Botschaft vom Reiche Gottes zum Ausdruck kam, schäbig mit einem Kreuzestod abgelehnt hat.“248 Und doch – Lies buchstabiert die Ereignisse des Paschamysteriums weiter – hat Gott den Leib Christi „neu erweckt“ und den Menschen hineingenommen in „seine göttliche Identität“.