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3.3 DIE „SCHICKSALSHAFTE“ BEGEGNUNG MIT RENÉ GIRARD UND DEREN FOLGEN:

3.3.1 Chronologie einer Freundschaft

Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Dialog beider Partner eröffnet wurde, gibt Moosbrugger folgende Antwort: „Ein etwas genauerer Blick auf die Chronologie der Begegnung Schwagers mit dem Denken Girards ist in einem ersten Schritt hilfreich, um hier klarer zu sehen. Schwager war zum Zeitpunkt seines ersten Kontakts mit Girard Redakteur bei der Schweizer Zeitschrift „Orientierung“ und verfolgte als solcher mit besonderem Interesse die intellektuelle Diskussion im französischsprachigen Raum, für die er wohl nicht zuletzt auch durch sein Theologiestudium im französischen Lyon–Fourvière von 1963 bis 1967 sensibilisiert war. 1973 war er in diesem Zusammenhang auf das Novemberheft der einflussreichen französischen Zeitschrift ‚Esprit‘ aufmerksam geworden, in dem das Protokoll einer umfangreichen Diskussion veröffentlicht worden war, die sich um die von Girard 1972 in

„La violence et le sacré“ vorgelegten Thesen drehte.“570 Wie schon erwähnt, rekonstruiert Moosbrugger die Dynamik des Dialogs in drei Phasen.

3.3.1.1 Der erste Kontakt

Die erste Phase des Dialoges kann man als „Lehrer-Schüler-Verhältnis“ darstellen.571 In dieser Phase betont Schwager die Brillanz und Originalität der Theorie von René Girard, stellt ihm Fragen zu jenen Punkten, die seine Aufmerksamkeit gefunden haben, unter anderem nach dem Verhältnis zwischen Opfer und Gesetz. Girard schrieb, dass das Gesetz etwas Abstraktes und das Opfer etwas ganz Konkretes ist, deswegen musste das Opfer unbedingt vor dem Gesetz sein und das Gesetz kommt vom Opfer her, nicht umgekehrt. Schwager verwendet inzwischen die mimetische Theorie von René Girard als Hilfshypothese, wenn er sich mit der Frage nach der Bedeutung des Kreuzes beschäftigt. So schreibt er in dieser Zeit in seinem Buch „Glaube, der die Welt verwandelt“572 über die Gefahr in der Kirche, dass der Tod Christi nach der Logik des

568 Vgl. Schwager, 1974. Beim Artikel von Girard handelt es sich um einen Text aus der Zeitschrift „Esprit“ aus dem Jahr 1973, den Schwager mit dem Titel: „Evangelium legt die Gewalt bloß“ veröffentlichte.

569 Moosbrugger, 2014, 219–245. Der Briefwechsel wurde in RSGS Bd. 6 von Karin Peter und Nikolaus Wandinger kritisch ediert.

570 Moosbrugger, 2014, 220.

571 Zum Folgenden: Moosbrugger, 2014, 223–227.

572 Schwager, 1976; vgl. hier 3.2.2. Weil die Struktur dieses Buches vermutlich noch vor der Begegnung mit Girard entstand und der Bezug auf Girard nur durch einige Zitate und Überlegungen von Schwager im letzten Teil

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Opfermechanismus verstanden werden kann. Für ihn ist es überhaupt unmöglich, die Selbsthingabe Christi am Kreuz als Opfer im traditionellen, militärischen Sinn dieses Begriffs zu verstehen. Die Theologie muss den Begriff des Opfers völlig neu definieren, mit dem Akzent auf Selbsthingabe, erst dann kann man die Tat Christi als Opfer und nicht als einen Akt von Masochismus bezeichnen. Bemerkenswert ist in dieser Phase auch die Tatsache, dass Schwager die mimetische Theorie inzwischen derart intensiv verinnerlicht hat, dass er freimütig bekennen kann, er wolle nicht in eine Rivalität mit Girard treten. So schreibt er: „Ich danke Gott, dass er Ihnen diese Weisheit gegeben hat. Dieses Gebet ist für mich zugleich ‚das Mittel‘, nicht einer lächerlichen Rivalität zu verfallen, indem ich Sie als Modell (Meister des Denkens) nehme.“573

3.3.1.2 Die zweite Phase des Dialogs

Die nächste Phase des Dialogs kann man als „eine intellektuelle Verwandtschaft“

bezeichnen.574 Im Laufe der Entwicklung zeigen sich drei Dimensionen, in denen das Denken der beiden Wissenschaftler sehr verbunden bleibt. Zunächst haben beide ein gemeinsames Verständnis der Wirkmächtigkeit des Christentums, das nicht auf soziologische Mechanismen reduziert werden kann. Das Christentum ist nicht nur eine der vielen Religionen, sondern dank seiner einzigartigen Stellung gegenüber den Mechanismen der Opferung und der Gewalt gewinnt es einen neuen, umfassenden Überzeugungscharakter und den Anspruch, die Mächte der Welt zu besiegen. Die nächste gemeinsame Dimension liegt im Verständnis des Opfermechanismus. Genau dieselbe Opferlogik, die Schwager schon in seiner Dissertation als

„militärisch“ und „kollektivistisch“ beschrieben hat, bezeichnet Girard in „Das Heilige und die Gewalt“ als eine „sakrifizielle“ Logik, die das menschliche Zusammenleben ermöglicht. Beide stehen auf dem Standpunkt, dass das Christentum nicht diese Logik des Opfers in lediglich einer anderen Form weiterführt, sondern die Mechanismen der Opferung und der Gewalt entschleiert. Und die dritte gemeinsame Dimension besteht darin, dass beide glauben, dass die Wissenschaft für die Einzigartigkeit des Christentums nicht nur auf den theoretischen, sondern vor allem auf den existenziellen Ebenen argumentieren sollte. Die konkrete Existenz Jesu und sein Verhalten angesichts des Todes und der Opfersituation war für beide einzigartig. Sein Tod lässt sich als der Tod eines Sündenbocks interpretieren: als kollektive Ermordung eines Unschuldigen. In den Passionserzählungen wurde der Tod Christi eindeutig als ein kollektiver

erfolgte, habe ich dieses Buch „als Brücke“ zwischen den ersten Publikationen und dem gänzlich durch Girard inspirierten Werk im vorhergehenden Kapitel vorgestellt.

573 Schwager, 2014, 85.

574 Zum Folgenden: Moosbrugger, 2014, 227–236.

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Mord jenseits aller Sakralisierung gezeigt, und damit wird sein Tod auf neue Weise, ohne die militärische Logik des Opfers, verstanden. Schwager konzentrierte sich auf den Glauben Jesu und betont gegenüber Girard das, was er schon in seinem Werk „Jesus-Nachfolge“ erarbeitet hat: im Kreuzesereignis ermächtigte der Vater seinen Sohn zum Akt der Hingabe.

3.3.1.3 Die dritte Phase des Dialogs

Die dritte Phase des Dialoges575 wurde durch einen hermeneutischen Unterschied geprägt. Es ging dabei um die Interpretation des Todes Jesu – Schwager, als frisch gebackener Dogmatikprofessor, fühlte sich verpflichtet, die kirchliche Begrifflichkeit in der Interpretation des Todes Jesu als Opfer, als Sühne für unsere Erlösung, als Stellvertretung zu verwenden.

Schwager stimmt Girards anti-sakrifizieller Interpretation des Todes Christi zu, aber in einigen Punkten stellt er doch kritische Fragen. Girard interpretiert den Tod Christi vor allem als Quelle des Wissens: Jesus enthüllt in den Herzen seiner Gegner die Gewalt, entschleiert die Gewalt- und Ausstoßmechanismen, weswegen er auch getötet wird. Für Schwager ist diese Interpretation ungenügend. Er betont die existenzielle wirkmächtige Kraft des Todes Jesu und weist auf das Kreuz als die Quelle des Lebens hin. Jesus wird am Kreuz ermächtigt und reagiert auf diese Ermächtigung mit der Hingabe. Die Gewalt bricht nämlich erst dann auf, wenn Jesus sagt, dass er eins mit dem himmlischen Vater ist, nicht wenn er das besondere Wissen offenbart.

Schwager schreibt: „Die Gewalt zieht also auf den gewaltfreien Gott (…). Dieser Hinweis der Evangelien wirft ein neues Licht auf ihre anthropologische These. Sie sagen, dass das Opfer unschuldig ist. Das ist in dem Sinn wahr, dass das Opfer nicht schuldiger als alle anderen ist.

(…) Die Evangelien zeigen, dass die Gewalt letztlich immer auf jenes Opfer zielt, das Christus ist, der geliebte Sohn, der ganz außerhalb der Welt der Gewalt ist.“576 Schwager weist auf zwei Perspektiven des Kreuzesgeschehens hin: die Innen- und Außerperspektive. Für Girard ist vor allem der Blick von außen mit dem mimetischen Konflikt und den Sündenbockjagden entscheidend, Schwager glaubt, dass das Kreuzesgeschehen von innen, also vom Glauben Jesu, neu zu erschließen ist. Girard schrieb: „Nichts in den Evangelien legt uns nahe, der Tod Jesu sei ein Opfer – wie immer auch dieses Opfer definiert wurde: Sühne, Stellvertretung usw.“577, und nahm den Tod Jesu nur als einen kollektiven Mord in den Blick, dessen Beschreibung die Mechanismen der Gewalt entschleiert. Schwager stellt seinem Briefpartner doch die tiefergehende Frage, was der Tod Jesu in der soteriologischen Perspektive bedeutet. Und zwar

575 Zum Folgenden: Moosbrugger, 2014, 237–245.

576 Schwager, 2014, 127.

577 Girard, 2009, 233

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auch als ein einzigartiges und unaufgebbares Element der christlichen Botschaft. Die Kontroverse spitzt sich bei der Frage nach der Bedeutung und der Auslegung des Hebräerbriefes zu. Der intensive Austausch, auch auf persönlicher Ebene, führt zur Meinungsänderung bei Girard. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis verändert sich zur Partnerschaft und in den theologischen Fragen zu einer neuen Konstellation: Schüler-Lehrer. Diesmal geht aber Girard in die Schule von Schwager. In einem Beitrag, den er zum 60. Geburtstag Schwagers verfasst hat, hat Girard diese Veränderung auch zugegeben: „Ich habe die Logik von Schwager damals zwar eingesehen, doch konnte ich sie unmöglich übernehmen. Sie führte zu einem Unbehagen bei mir, einem Gefühl, das nun zerstreut zu sein scheint. Seine Intuition war richtig.“ 578