• Keine Ergebnisse gefunden

3.2 AUF DEM WEG ZUM DRAMATISCHEN ANSATZ

3.2.2 Glaube, der die Welt verwandelt

3.2.2.4 Glaubensimpuls und Weltgestaltung

3.2.2.4 Glaubensimpuls und Weltgestaltung

Raymund Schwager ist sich dessen bewusst, dass das Christentum mit seinem Wahrheitsimpuls die abendländische Welt im Laufe der Jahrhunderte bedeutend beeinflusst und verwandelt hat.

Die Kultur des Abendlandes wurde von Schwager als Produkt einer faustischen Seele geschildert. Ein abgründiges „Ich“ mit einer Sehnsucht nach Unendlichem hat alle Bereiche der

558 Schwager, 1976, 103.

559 Schwager, 1976, 103. Hervorhebung von mir.

560 Schwager, 1976, 104. Das Ergebnis seiner so verstandenen Lektüre der biblischen Schriften legt Schwager ein Jahr später in seinem Werk „Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in biblischen Schriften“ vor.

Vgl. hier 3.3.2.

561 Schwager, 1976, 105f.

154

abendländischen Kultur durchwirkt. An Stelle der altertümlichen Faszination für das Begrenzte und das Maß hat der christliche Glaube das Streben nach dem Grenzenlosen geweckt. Was man als faustisch beschreibt, ist – laut Schwager – nichts anderes als verfärbte christliche Glaubenserfahrung. Der Hauptinhalt dieser neuen Ich-Erfahrung in der Weltkultur besteht vor allem aus dem Glauben an die Unsterblichkeit des Ich, Vervollkommnung des Ich, ethische Arbeit an sich selbst, Achtung des Du in seinem Nächsten und Rechtfertigung des Ich hauptsächlich durch den Glauben und gute Werke. In diesem Bereich hat das Christentum einen ausschlaggebenden Beitrag zum Werden der modernen Kultur geleistet.562 Diese starke Hervorhebung des menschlichen Ich erlaubte den Menschen, bewusster auf ihre eigenen Erfahrungen zu schauen. Infolgedessen wurden der Mensch und sein Selbstbewusstsein immer häufiger zum Hauptthema des geistlichen Bemühens. Offensichtlich hat auch die christliche Darstellung vom Menschen als ein Ebenbild Gottes in eine ähnliche Richtung gewirkt.

Das Christentum hat auch durch die Ideen und Institutionen des Sacerdotium und des Imperiums jenen politisch-gesellschaftlichen Raum geschaffen, in dem sich neue Kultur entwickeln konnte. Christliche Impulse führten im Laufe der Zeit zur Entwicklung der eigentlichen naturwissenschaftlichen Methode – die Erforschung der Natur wurde als wahrer Gottesdienst verstanden. Wie die Theologie in der Heiligen Schrift die Offenbarung Gottes studiert, genauso studiert die Naturwissenschaft in der „biblia naturae“ die Offenbarung Gottes.

Zusätzlich wurde die Tatsache, dass man die Zeit im Gegensatz zum zyklischen antiken Weltverständnis als Urvorgang begriff, durch das christliche Schöpfungsverständnis verursacht. Das Christentum hat auch als ein Nebenprodukt der benediktinischen Lebensweise westliche Ökonomie hervorgebracht.563 Der christliche Glaube hatte systematisch eine wesentliche Auswirkung auf die abendländische Kultur.

Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes und die Erwartung des ewigen Lebens in unangefochtener Glückseligkeit weckten in den Menschen der westlichen Kultur ein unbegrenztes Sehnen. Der Drang ins Unbegrenzte hat sich jedoch innerlich zum Glauben an den grenzenlosen Fortschritt verwandelt. Anstatt das Reich Gottes zu verwirklichen, hat sich der Mensch dem Reich der Menschen zugewandt. Schwager konstatiert, dass der Übergang von einem hohen christlichen Glaubensbewusstsein, Kinder Gottes zu sein, zu einem Verständnis des Menschen als absoluter Herr seiner selbst sich im Abendland bereits ereignet hat. Die christliche Hoffnung auf das

562 Schwager, 1976, 107–111.

563 Schwager, 1976, 109–120.

155

glückliche Leben hat sich schon in die Erwartung eines unbegrenzten irdischen Fortschrittes gewandelt. Eine wachsende Anzahl unserer Zeitgenossen glaubt, dass man die menschlichen Probleme durch die moderne Technik lösen kann, und die Frage nach dem Ziel des Lebens, auf die die Technik keine Antwort gibt, erweist sich als sinnlos. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg war in diesem Kontext die Ernüchterung durch die waffentechnischen Fortschritte von einer unschätzbaren Bedeutung. Es wurde plötzlich klar, dass der Fortschritt auch eine gefährliche Kehrseite hat. Die dunkle Seite des Fortschrittes, der letztendlich zur Selbstzerstörung der Menschheit führen kann, wurde dadurch offenbar. An diesem Punkt führt Schwager in seinen Gedankengang die Grundgedanken von René Girard ein. Er sei derjenige, der „die Selbstkritik des abendländischen Denkens wohl am weitesten vorantreibt“: „Für Girard ist es keineswegs überraschend, daß die Naturwissenschaften nach einem langen Weg zur Erkenntnis vorgestoßen sind, mit jedem Experiment werde Zwang auf die Natur ausgeübt und Dinge müßten zerstört werden, wenn man ‚hinter sie kommen‘ wolle. Ebensowenig verwundert ihn, daß schon lange die Macht und der Trieb im Denken entdeckt und daß in neuester Zeit auch immer mehr bloßgelegt wurde, wie der Mensch durch Vorstellungen, die er vom Absoluten entwirft, sich selber und andre vergewaltigt.“564

Wie lässt sich der Ertrag dieses Buches, das eine Brücke bildet zwischen dem Denken Schwagers vor und nach der Begegnung mit René Girard, zusammenfassen? Wohl als Antwort auf die Frage, wie der christliche Glaube die heutige Welt innerlich verwandeln kann. In erster Linie unterstreicht Schwager die Rolle des hohen christlichen Glaubensbewusstseins in der modernen Welt. Die Neigung, sich vor den Strukturen und Mächten dieser Welt komplett hilflos zu fühlen und in der Mühe um ihre Kontrolle zu resignieren, muss als Versuchung entlarvt werden. Weil das Reich Gottes bereits mit der Botschaft Jesu begann, ist seine Ankündigung nur in diesem Sinne zu verstehen, dass die Menschen eine ganzheitliche Verantwortung für die Welt tragen. Jede Flucht vor dieser Verantwortung erweist sich als eine Preisgabe des Glaubens. Das hohe Glaubensverständnis wird heutzutage wie nie zuvor in der Weltgeschichte durch die gegenwärtige Situation herausgefordert.565 Das wahre Glaubensleben verlangt, dass jede Feindschaft und Gewalt zwischen Menschen überwunden werden. Gottes- und Nächstenliebe sind so tief miteinander verbunden, dass die Beziehung zu Gott nicht nur am

564 Schwager, 1976, 137. In Anm. 86 auf S. 171 stellt Schwager das Buch „La Violence et le sacré“ vor, indem er die Rezension aus „Le Monde“ vom 27. Oktober 1972 zitiert: „Das Jahr 1972 müßte in den Annalen der Humanwissenschaften mit einem weißen Kreuz markiert werden: La Violence et le sacré von René Girard ist nicht nur ein sehr großes Buch, es ist außerdem einzigartig und äußerst aktuell.“

565 Schwager, 1976, 149f.

156

verbalen Bekenntnis oder am äußeren Gottesdienst, sondern auch an der Liebe zum Nächsten und an der Verantwortung für die Welt gemessen wird. Schwager betont mehrmals, dass die Alternative der Öffnung auf die Welt oder des Rückzugs in eine Getto-Mentalität und die Faszination von Feindbildern keine wahre Alternative ist. Stattdessen sollten wir unseren Glaubensweg, sowohl individuell als auch in christlicher Gemeinschaft, bewusster erleben. Der Weg des Glaubenslebens hat keine strengen Grenzen und die schnelle Distinktion zwischen jenen, die dazugehören, und jenen, die draußen stehen, ist nicht so einfach und eindeutig.

Der richtige Raum für die Offenbarung des Sohnes Gottes ist die Geschichte der ganzen Menschheit. Raymund Schwager betont, dass der wahre christliche Glaube nicht bloß in einer knechtischen Verbeugung vor dem Recht, vor dem Buchstaben oder vor einer Autorität, die sich auf den Buchstaben stützt, besteht. Der selbstbewusste Glaube ist für ihn die Nachfolge Christi, die verstanden wird als Bereitschaft zum Kreuz, als Teilhabe an der Macht der Auferstehung und als Eintreten in das hohe Bewusstsein Jesu. Nur im Leben der Nachfolge, die einen langfristigen, individuellen dramatischen Prozess darstellt, kann man wahrhaft erkennen und erfahren, wer Sohn Gottes ist. Die Nachfolge als individueller Glaubensweg zielt darauf ab, die Mechanismen bloßzulegen, die hinter gesellschaftlich bedingten „Wahrheiten“ und der Macht des Konformismus stehen, und sie bildet die Grundlage für eine neue Gemeinschaft.566

3.3 DIE „SCHICKSALSHAFTE“ BEGEGNUNG MIT RENÉ GIRARD UND