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Gerade im Alten Testament kommt eine neue Gotteserfahrung und damit auch eine grundlegende Umwertung der Riten zur Sprache. Diese Veränderung wird von Schwager als Historisierung, Ethisierung und Ver-Wortung der Riten bezeichnet.

Die erste Qualifizierung weist auf den zentralen Unterschied hin: Während die archaischen Riten (mit Hilfe von den sie deutenden Mythen) die Wahrheit über ihren Ursprung verschleiern und auf einen mythischen Anfang zurückgreifen, beziehen sich die alttestamentlichen Riten direkt auf ein konkretes Ereignis innerhalb der Geschichte. Dieses Phänomen nennt Schwager

688 Eliade, 1976.

689 Schäffler, Hühnermann, 1977.

690 Schwager, RSA 2, 13–15. Hervorhebung vom Autor.

691 Schwager, RSA 1, 14.

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die Historisierung der Riten. Dies gilt ganz besonders vom Pascharitus, der das Hauptfest der Juden ist. Dieser Ritus wurde zwar auch von wandernden Nomaden begangen, aber sie gedachten dabei, im Unterschied zu den Juden, nur eines mythischen Urzeitgeschehens und keiner konkreten geschichtlichen Tat.692 Im Judentum wurde dieser Ritus als ein Mittel der Belehrung, als eine Gedächtnisfeier und eine kultische Teilhabe am konkreten, innerhalb der Geschichte stattgefundenen Ereignis verstanden.693 Schwager zitiert den Mischna-Traktat Pesachim, der zeigt, wie selbstverständlich die Vorstellung war, dass in diesem Ritus ein konkretes, geschichtliches Ereignis gegenwärtig ist: „In jedem Zeitalter ist jeder verpflichtet, sich so anzusehen, als wäre er selbst aus Ägypten ausgezogen ... Deshalb sind wir verpflichtet zu danken, zu preisen, zu loben, zu verherrlichen, zu erheben, zu erhöhen den, der an uns und an unseren Vätern alle diese Wunder getan hat. Er hat uns herausgeführt aus der Knechtschaft in die Freiheit, aus dem Kummer in die Freude, aus der Trauer in die Festlichkeit, aus der Finsternis in das große Licht und aus der Knechtschaft in die Erlösung. Wir wollen vor ihm sprechen: Halleluja.“694 Dabei stammen die Einzelheiten des Ritus, wie z. B. das blutige tierische Opfer, aus den alten Stammesreligionen.

Schwager greift in diesem Zusammenhang auf die Werke des deutschen Alttestamentlers Gerhard von Rad zurück, der schreibt, dass das Volk Israel nicht mehr wusste, was im Opfer eigentlich geschieht. Die Opferfeier war im Alten Testament ein Zeichen des Gehorsams. Sie wurde auf eine Anordnung zurückgeführt, die Gott innerhalb der Geschichte, am Berg Sinai, durch Mose dem Volk Israel gegeben hat. Die Opfer geschehen nach dem konkreten Willen Gottes, deswegen hatten ihre Materialität und der richtige Vollzug eine große Bedeutung.695 Die zweite Form der Transformation der Riten im Alten Testament besteht in ihrer Ethisierung.696 Die damit verbundenen Folgen werden von Schwager unter der Perspektive des Gerichtes reflektiert. Während die archaischen Riten eine starke Neigung zur Orgie hatten, wurde diese Tendenz im Alten Testament sehr schnell eingedämpft. Die Beschreibung der archaischen Riten bei Mircea Eliade bestätigt zuerst die Einsicht von René Girard. Die Feststellung Eliades, dass in solchen orgiastischen Festen die Tabu-Vorschriften sehr leicht fallen können, dass es sogar oft geboten war, sie zu übertreten, deutet Girard als Reinszenierung der mimetischen Krise. Im Unterschied dazu treten im Alten Testament zwei neue Elemente

692 Vgl. dazu Mowinckel, 1922.

693 Schwager, RSA 1, 15–17.

694 Mischna-Traktat Pesachim (10,5b c). Zit. nach Schwager, RSA 1, 16.

695 Schwager, RSA 1, 17; vgl. dazu von Rad, 1961.

696 Zum Folgenden Schwager, RSA 1, 17–19.

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hervor. Zunächst betonen die kultischen Bücher und die Verkündigung der Propheten die Notwendigkeit der kultischen Reinheit und bringen zusätzlich ein neues sittliches Bewusstsein zur Sprache. Die Propheten zeigen durch ihre radikale Opferkritik die Notwendigkeit eines sittlichen Lebens, das mit dem Opferkult unzertrennlich verbunden werden muss (z. B. Am 5,21–24 oder Jes 1,13–17). Dank dieser Opferkritik wird ein ganz neues Element im Glauben Israels entdeckt, nämlich die Trennung des Handelns Gottes vom rituellen Kult. Dies kommt in der Zerstörung des Tempels im Jahre 586 v. Chr. und der damit gegebenen Vernichtung des Kultes zum Ausdruck, die man als Gericht Gottes über die Geschichte und den bisherigen Kult verstand. Mit der Einstellung des rituellen Handelns konnte deswegen der Glaube an das Handeln Gottes während des Exils nicht verschwinden.

Nach dem Exil wurde der Tempel aufgebaut und der Kult erneuert. Die neue Opferpraxis, in der die Sühne durch den Ritus in den Vordergrund trat, interpretiert Schwager im girardischen Blickwinkel. Am großen Versöhnungstag (Jom Kippur) wurde die Schuld der Menschen auf ein Tier übertragen, das stellvertretend als Sühne für das Volk geopfert wurde. Genau in diesem Punkt kommt die für Girard zentrale Absicht der Übertragung des Bösen auf ein stellvertretendes Opfer zur Sprache. Es ist hier allerdings nicht mehr ein spontanes Ereignis, sondern ein geplanter, wiederholbarer und ausdrücklicher Ritus. Schwager beendet seine Betrachtungen mit der rhetorischen Frage, ob ein solcher Ritus das Böse an seiner Wurzel wirklich erreichen kann.697

Zur Historisierung und Ethisierung kommt als drittes Element der Transformation der Riten durch den alttestamentlichen Kultus die Ver-Wortung des Ritus. Das Wort Gottes gewinnt stufenweise an Bedeutung gegenüber dem Ritus, Gott offenbart sich in der Geschichte immer mehr durch sein Wort und nicht durch Riten. Schwager schreibt diesbezüglich: „Durch die Historisierung und Ethisierung der Riten wurden diese verändert und kritisiert. Sie verloren etwas von ihrer Selbstverständlichkeit, Unhinterfragbarkeit und ‚schreckenerregenden Sakralität‘. Diese Transformation wurde dadurch möglich, dass die Riten nicht mehr der zentralste Ort waren, an dem Gott wahrgenommen wurde. Israel erfuhr Jahwe auf neue Weise, nämlich vor allem durch das Wort.“698 Den Höhepunkt dieser Erfahrung findet Schwager in einem der Lieder vom Gottesknecht (Jes 50,4–6). Im Unterschied zu den archaischen Riten, in denen die Erfahrung Gottes während der Ekstase und der Orgie möglich war, kommt im Alten Testament an dieser Stelle das Wort, das den Menschen innerlich verändert. Damit ist aber

697 Schwager, RSA 1, 17–19.

698 Schwager, RSA 1, 19f.

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keine bloße Intellektualisierung der Religion gemeint, sondern „es geht um das Wort, das den Menschen in der ganzen Tiefe seiner Seele, seines Gefühls und seines Lebens erreicht.“699 Während in den archaischen Riten die blutigen Opfer im Zentrum standen, gewinnt in Israel immer mehr das Wort Gottes an Bedeutung. Und genau durch das Hören auf das Wort Gottes konnte der Gottesknecht bei Jesaja die Gewalt überwinden und auf sein Schicksal nicht mit Gegengewalt antworten. An diesem Punkt zeigt sich zuerst die sakramentstheologische Relevanz der Einsichten Schwagers, die er im Kontext der biblischen Hermeneutik in seinem Werk „Brauchen wir einen Sündenbock?“ entwickelt hat.700 Wie schon in diesem Buch, so stellt Schwager auch hier fest: Das Gottesbild bleibt im Alten Testament zweideutig: einerseits wird es durch die alten blutigen, sakralen Traditionen an den Götzendienst gebunden, andererseits kommt die Wahrheit vom wahren, gewaltfreien Gott langsam durch das Wort ans Licht.

Zusammenfassend zeigt Schwager die Komplexität des Glaubens Israels auf und weist auf die offenen Fragen hin. Im Alten Testament herrscht eine große Spannung bezüglich des Ortes der Erfahrung Gottes. Während das Wort Gottes eine immer wichtigere Rolle spielt, wird der Ritus ebenfalls als wichtig angesehen. Diese Spannung kommt zum Ausdruck im Ritus selbst. Auf die Materialität des Ritus und seinen richtigen Vollzug wird Wert gelegt; dem Ritus wird sogar eine Sühnefunktion zugeschrieben, aber trotzdem verhindert der Kult die zweite und damit endgültige Zerstörung des Tempels und des Ritus nicht. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ritus und der Geschichte wurde auch im Alten Testament nicht vollkommen beantwortet. Mehrere Fragen bleiben offen. Stellt der Ritus doch nur eine subjektive Erinnerung an die Vergangenheit dar oder wird durch den Ritus ein Geschehen vergegenwärtigt? Diese Spannung kommt sehr deutlich bei der Bewertung der Opferfrage zum Vorschein. Im Grunde hatten die Opfer keinen heilsgeschichtlichen Bezug, wurden von den Propheten auch hart kritisiert. Selbst der rituelle Bezug auf ein vergangenes Ereignis wird problematisch, wenn man bedenkt, dass Israel das entscheidende Heil in der Zukunft erwartet.

All diese Spannungen stellen laut Schwager nicht nur ein historisches Problem dar. Vielmehr haben sie einen wichtigen Einfluss auf die moderne kirchliche Sakramentenlehre. Auch wenn es auf den ersten Blick unvermittelt zu sein scheint, benennt Schwager in diesem Zusammenhang die Frage nach der Bedeutung des Amtes und der Opfer und das Verhältnis zwischen dem Wort und dem Ritus. Diese Probleme dürfen nicht auf eine bloß historische

699 Schwager, RSA 1, 20.

700 Vgl. hier 3.3.2.

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Einleitung zum Thema reduziert werden, sondern von ihrer Beurteilung hängt vielmehr die heutige Praxis ab.701

4.3 IN DEN SPUREN VON RENÉ GIRARD: SAKRAMENTE IM NEUEN