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Rekonstruktion des Handlungsschemas: Kommunikative Aufgaben im anwaltlichen Erstgespräch

Im Dokument Das anwaltliche (Seite 110-113)

Projektaufbau und -ablauf

4.3 Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen

4.3.2 Rekonstruktion des Handlungsschemas: Kommunikative Aufgaben im anwaltlichen Erstgespräch

Ziel der Entwicklung eines Handlungsschemas für anwaltliche Erstgespräche ist es, einen funktionalen Überblick über die Gespräche zu geben. Hier wird nicht mehr nach einer „starren“ linearen Ablaufbeschreibung gefragt, sondern die Beschreibung orientiert sich an einem als flexibel angenommenen, zweckge-richteten und interaktiven Handeln der Beteiligten. Es steht das kommunikative Handeln der Interaktanten und weniger die Oberflächenstruktur der Gesprä-che im Vordergrund. Beschrieben wird, welGesprä-che kommunikativen Aufgaben sie jeweils zu erfüllen haben, wenn sie ein anwaltliches Mandantengespräch in situ gemeinsam herstellen.

„Das Handlungsschema expliziert intuitives Handlungswissen“ (Fiehler 2009a: 1237). Gleichzeitig erlaubt es ein Handlungsschema, das Gesprächsge-schehen im Gesamten zu beschreiben und zu überblicken und macht so das Mandantengespräch mit Handlungsschemata anderer (beispielsweise verwand-ter) Gesprächstypen vergleichbar. Es ist ein flexibleres und an der Handlungslo-gik orientiertes Modell (Spiegel/Spranz-Fogasy 2001b: 245), das das komplexe Geschehen treffender wiedergeben kann, als es allein mit einer Ablaufbeschrei-bung möglich wäre (vgl. Pothmann 1997: 57f.). Denn „[d]ie Rekonstruktion des Handlungsschemas erlaubt eine genaue Beschreibung der Varianz und Funkti-on des interaktiven sprachlichen Handlungsvollzugs gänzlich unterschiedlicher Gespräche eines Interaktionstyps“ (Spiegel/Spranz-Fogasy 2001b: 246f.). Dazu kommt, dass man mit den kommunikativen Aufgaben flexiblere Beschreibungs-möglichkeiten des sprachlichen Handelns der Beteiligten im Gesprächs hat, die es erlauben, auch zu zeigen, wenn eine (Teil-)Aufgabe an verschiedenen Stellen im Gespräch bearbeitet wird, Aufgaben parallel bearbeitet werden oder gar die Beteiligten gleichzeitig verschiedene Aufgaben bearbeiten.

Kommunikative Aufgaben sind – in einer logischen und hierarchischen Abfolgereihung – die Komponenten des Handlungsschemas, „die zur Realisie-rung des Zweckes des Gesprächstyps von den Beteiligten gemeinsam bearbei-tet werden müssen“ (Fiehler et al. 2002: 134; vgl. auch Fiehler 2009a: 1237ff.;

Nothdurft 1995a: 13; Nothdurft/Spranz-Fogasy 1991: 225). Quasthoff spricht in diesem Zusammenhang auch von „Jobs“ (vgl. Quasthoff 2001: 1302). Kallmeyer (1985: 92) spricht für die einzelnen Komponenten, die selbst wiederum aus Teilkomponenten oder Teilaufgaben bestehen, von „relativ komplexen Aufgaben, die nicht in allen Fällen in all ihren Aspekten bzw. Teilkomponenten relevant werden und dementsprechend manifest zu bearbeitet sind, die aber doch als logisch notwendige Teilschritte nachzuweisen sind“. Überlagerungen ver-schiedener Aufgaben und eine schrittweise Bearbeitung zentraler Aufgaben im Gespräch bezeichnet Kallmeyer (1985: 96) als „normal erwartbar“.

Das Handlungsschema besteht also aus einer Menge an kommunikativen Aufgaben und Teilaufgaben, die als Ergebnis einer empirischen Analyse entlang und auf der Basis eines breiteren Korpus für einen Gesprächstyp rekonstruiert werden können (zum Verfahren vgl. Fiehler 2009a; Deppermann 2008/1999:

79ff.; Spranz-Fogasy 2005: 20ff.; Fiehler et al. 2002: 134; Spiegel/Spranz-Fogasy 2001a: 1245, 2001b: 246f.; Kallmeyer 1985: 91; Kallmeyer/Schütze 1976). Das Handlungsschema enthält „Angaben über konstitutive Bestandteile der komple-xen Handlung […] (‚was dazu gehört‘), Angaben über die logische Struktur der Handlungsentwicklung (‚was wann kommt‘) und Angaben über die unerläßli-che Beteiligungsvoraussetzungen der Beteiligten (‚was man dazu braucht‘) […]“.

(Nothdurft/Spranz-Fogasy 1991: 223ff.; ähnlich in Spranz-Fogasy 2005: 20). Es wird davon ausgegangen, dass die Aufgaben gemeinsam von den Beteiligten bearbeitet werden, dennoch sind einzelne Beteiligte an der Bearbeitung stärker beteiligt und ihnen kommt die primäre Bearbeitung zu (vgl. Fiehler 2009a: 1237). Daher werden bei der Darstellung des Inventars an kommuni-kativen Aufgaben auch die für die Bearbeitung primär zuständigen Beteiligten vermerkt.

Es wird davon ausgegangen, dass die Beteiligten sich flexibel an dem zugrun-de liegenzugrun-den Handlungsschema orientieren und sich ihre Orientierung daran sowie ihre jeweiligen Aktivitäten gegenseitig verdeutlichen (Kallmeyer 1985: 88).

Umgekehrt gilt aber entsprechend, dass der Handlungszusammenhang durch die Äußerungen erst erkennbar gemacht wird (Kallmeyer 1985: 112). So können Äußerungen durchaus auch erst nachträglich im Gespräch als die Bearbeitung bestimmter kommunikativer Aufgaben erschlossen werden (zur Diskussion ver-schiedener Handlungsschemata zu Beratungsgesprächen vgl. Kapitel 6.2).

Seine theoretischen Wurzeln hat die Analyse von Handlungsschemata in der Konversations- bzw. Gesprächsanalyse. Für die Konversationsanalyse (KA) typisch ist eine Orientierung an dem im Gespräch Beobachtbaren möglichst ohne ein theoretisches Vorverständnis, denn eine Methodologie oder theore-tische Hintergründe liefert die Konversationsanalyse nicht direkt, sondern man

findet methodische Prinzipien zur Analyse von Gesprächen (vgl. Day/Wagner 2010: 40ff.; Bergmann 2009; Gülich/Mondada 2008: 17f.; Hutchby/Wooffitt 2008;

Kallmeyer 2005: 1215; Arminen 2005: 11ff.; Günthner 2000: 24; Sacks 1984).

Die Analyse kommt also mit dem Gesprächsmaterial selbst aus. Hier wird ent-sprechend Institution meist als außersprachlicher, gesellschaftlich geprägter Ein-flussfaktor für Gespräche betrachtet (vgl. Gülich 1981: 420). Der Kontext wird daher ausschließlich am Material rekonstruiert und lediglich jene Hintergründe in die Analyse einbezogen, die sich die Beteiligten gegenseitig und ebenso der Analytikerin anzeigen (display). „Entsprechend ihrer Konzeption […] behan-delt die KA aber im Gegensatz zu anderen Ansätzen kontextuelle Faktoren […]

nicht als eine Voraussetzung, die das Handeln der Teilnehmer bestimmt, sondern als Resultat einer nachweisbaren Ausrichtung der Teilnehmer darauf […] und damit als Gegenstand der Analyse“ (Gülich/Mondada 2008: 20, Herv.i.O.). Dies findet seinen Ausdruck zum Beispiel in der Kapitelüberschrift „Talking Social Institutions into Being“ (Heritage/Clayman 2010: 20).

In der deutschsprachigen Tradition der Gesprächsforschung, die sich aus der amerikanischen Conversation Analysis (CA) weiterentwickelt hat (Kallmeyer/

Schütze 1976, 1977; später ergänzend Kallmeyer 1985), wird dies allerdings weniger strikt gesehen (vgl. Deppermann 2008/1999: 86ff.; Spiegel/Spranz- Fogasy 2001b: 246; Hoffmann 2001: 1542; Nothdurft/Spranz-Fogasy 1991: 224).

Deppermann räumt ein:

Die ethnographische Ergänzung besteht darin, dass forscherseitige Kenntnisse des pro-fessionellen Handlungsfeldes, die auf teilnehmender Beobachtung, Experteninterviews, feldbezogenem Wissen über die fachliche Ausbildung und die berufliche Sozialisation der Akteure und auf früheren eigenen Gesprächsanalysen zum gleichen Handlungsfeld beruhen, im Rahmen der Konversationsanalyse fruchtbar gemacht werden. […]

Diese ethnographische Ergänzung erscheint uns unerlässlich, wenn man es mit Handlungsfeldern zu tun hat, die sich durch die Ausbildung hochgradig spezi-fischer interaktiver Routinen und entsprechender Gesprächskulturen aufgrund von Fachlichkeit, Institutionalität und/oder interaktionsgeschichtlich gegründeter Emergenz auszeichnen (Deppermann 2010: 14f.).

Auch schon Kallmeyer/Schütze (1976: 5) beziehen von Anfang an die Analyse institutioneller Kommunikation explizit in ihr Programm ein. Dazu schreibt Kallmeyer an anderer Stelle:

Auch wenn man sich jeweils nur mit Ausschnitten der beruflichen Kommunikationspraxis beschäftigt, muß man sich eine Vorstellung von der weitläufigen Verzahnung beruflicher beziehungsweise institutioneller Vorgänge machen, um zu begreifen, wo und wie sprach-liches Verhalten geprägt, legitimiert und vermittelt wird und wie diese Prozesse auf die jeweiligen Kommunikationsvorgänge einwirken (Kallmeyer 1983: 151).

4.3.3 Rekonstruktion sprachlicher Handlungsmuster im

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