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Entwicklung eines Handlungsschemas für das anwaltliche Erstgesprächanwaltliche Erstgespräch

Im Dokument Das anwaltliche (Seite 168-172)

C2 Gesprächsanalytische Beschreibung:

6 Das Handlungsschema anwaltlicher ErstgesprächeErstgespräche

6.2 Entwicklung eines Handlungsschemas für das anwaltliche Erstgesprächanwaltliche Erstgespräch

Als Ergebnis der empirischen Analysen konnten spezifische kommunikative Aufgaben ermittelt werden, die in diesem Kapitel anhand von Gesprächsaus-schnitten beschrieben werden. Eine sukzessive Entwicklung des Handlungssche-mas entlang verschiedener Gespräche ist aufgrund der Materialfülle und -vielfalt im Rahmen der Darstellung in diesem Kapitel nicht möglich, daher muss und wird die vorliegende Beschreibung kommunikativer Aufgaben im anwaltlichen Erstgespräch eine ergebnisorientierte sein.

Bevor das Vorgehen bei der Entwicklung des Handlungsschemas und dessen Komponenten für das anwaltliche Erstgespräch beschrieben wird, soll zunächst ein Überblick über bestehende Handlungsschemata zu Beratungsgesprächen gegeben werden und diese aufeinander bezogen und gegeneinander gestellt werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und zu disku-tieren (vgl. zur Definition von kommunikativen Aufgaben und dem methodi-schen Vorgehen bei der Analyse auch Kapitel 4.3.2). Denn gerade der Vergleich verschiedener Handlungsschemata zu Beratungsgesprächen gibt bereits wichtige Aufschlüsse über deren Entstehen und über den Einfluss interpretativer Spielräume, die zunächst offen gelegt werden müssen, um die Entstehung der Kategorien bei der Entwicklung des Handlungsschemas möglichst methodisch reflektiert gestalten zu können.

Für das Beraten entwickelt Kallmeyer (1985: 91) folgenden Bestand an kommunikativen Aufgaben: „Problempräsentation (RS); Entwicklung einer Problemsicht (RG); Festlegung des Bearbeitungsgegenstandes (RG + RS);

Lösungsentwicklung (RG); Lösungsverarbeitung (RS); Vorbereiten der Realisierung (RS + RG)“ (für eine Übersicht über die Teilkomponenten vgl.

Kallmeyer 1985: 92f.). Das folgende Handlungsschema stammt ebenfalls von

Kallmeyer, wurde aber einige Jahre später publiziert (Kallmeyer 2000: 237f.) und leicht modifiziert:

Etablierung von Beratungsbedürftigkeit und Instanzeinsetzung Problempräsentation

Entwicklung einer Problemsicht

Redefinition des Problems und Festlegung des Beratungsgegenstandes Lösungsentwicklung

Verarbeiten des Lösungsangebots Vorbereitung der Realisierung Entlastung und Honorierung

Im Vergleich zum älteren Schema von 1985 fällt auf, dass die Zuordnung der Aufgaben zu den Beteiligten nicht mehr bei jeder Schemakomponente vorge-nommen wird, obwohl Kallmeyer nach wie vor den Beteiligten die Aufgaben

„im Sinne einer primären Zuständigkeit“ zuschreibt (Kallmeyer 2000: 237).

Weiter wurde die Redefinition des Problems (2000) nicht mehr der Entwicklung einer Problemsicht, sondern der Festlegung des Beratungsgegenstandes zugeordnet. Dazu kommt, dass Kallmeyer (1985) die „Aufgabenstruktur der Problembearbeitung“ (ebd.) präsentiert und die Instanzeinsetzung sowie die Entlastung und Honorierung als „Aufgaben, die mit dem Kernschema verbunden sind“ (Kallmeyer 1985: 91) bezeichnet, diese aber nicht der Problembearbeitung, also dem Kern, zuordnet. Kallmeyer (2000) nimmt nun diese Komponenten in den „Bestand von Aufgaben auf, an denen sich die Beteiligten in Beratungssituationen orientieren“ (Kallmeyer 2000: 237) und diskutiert hier auch die Möglichkeit der institutionellen Vorstrukturierung, die er 1985 nicht (explizit) behandelt. Eben aufgrund dieser Besonderheiten, die sich gerade zu Gesprächsbeginn manifestieren, halte ich die Komponenten Eröffnung und Beendigung, denen Kallmeyer (Kallmeyer 1985: 91) nur „eine gewisse Affinität“

zur Instanzeinsetzung und Entlastung und Honorierung zuschreibt, für nicht verzichtbar. Ähnlich sehen dies Nothdurft/Reitemeier/Schröder, die die folgende Bestandteile einer „idealtypischen Abfolgestruktur“ für Beratungsgespräche (Nothdurft et al. 1994: 10) nennen:

Situationseröffnung mit Instanzeinsetzung Problempräsentation

Entwicklung einer Problemsicht

Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung Situationsauflösung

Für seine Untersuchung zur Migrationsberatung verkürzt Reitemeier (2010: 125) dieses Ablaufschema weiter um die Komponente „Entwicklung einer Problemsicht“.

Diese fällt hier ersatzlos und kommentarlos weg, die anderen Komponenten übernimmt er aber auch 2010, ebenso wie sie 1994 entwickelt wurden. Im Vergleich zum Handlungsschema Kallmeyers zeigen sich bei Nothdurft/Reitemeier/Schröder (1994) ähnliche Komponenten, die allerdings weniger stark ausdifferenziert werden. So fassen die Autoren die Instanzeinsetzung mit der Situationseröffnung zusammen, die bei Kallmeyer getrennt werden. Ebenfalls wird die Redefinition des Problems und das Festlegen des Beratungsgegenstandes bei Nothdurft/Reitemeier/

Schröder (1994: 10) nicht als eigene Schemakomponente behandelt, sondern geht im Entwickeln einer Problemsicht auf. Darüber hinaus sind die Lösungsentwicklung und -verarbeitung zusammengefasst und die Vorbereitung der Realisierung wird nicht genannt. Mit der Situationsauflösung fällt die bei Kallmeyer eigenständige Entlastung und Honorierung zusammen.

Es zeigt sich also kein grundlegend anders beobachteter Aufbau von Beratungsgesprächen (zumal die Autoren sich an dem Projektbericht Kallmeyers orientieren, vgl. Nothdurft et al. 1994: 10), doch aber eine unterschiedliche Kategorisierung und Zusammenfassung des Geschehens. Neben der Frage, welche Bestandteile zur Gesprächseröffnung und zum -abschluss gehören, ist interessant, dass und wie sich die Verteilung und Zusammensetzung der anderen kommunikativen Aufgaben in den beiden Handlungsschemata unterscheiden.

Hier fällt auf, dass die Komponente Redefinition des Problems, die auch Kallmeyer (2000: 237) als „nur teilweise […] manifeste[n] Schritt“ und häufig

„anhand der ersten Schritte der Lösungsentwicklung erschließbar“ beschreibt, keine eigene Komponente des Handlungsschemas bei Nothdurft/Reitemeier/

Schröder (1994) darstellt, ebenso wie bei Kallmeyer (1985: 91f.).

An diesem Beispiel lassen sich zwei generelle Schwierigkeiten bei der Erstellung von Handlungsschemata zeigen. Zum einen stellt sich die Frage, welche kommunikativen Aufgaben zu Schemakomponenten werden (können), gerade wenn ihre Realisierung nicht immer manifest beobachtbar ist. Zum anderen die Frage – und dies trifft dann die Fälle, in denen sie nicht als eigene Komponenten behandelt werden – welchen Komponenten werden sie dann als Teilaufgaben zugeordnet?

Ähnliches lässt sich für die Lösungsentwicklung und -verarbeitung konsta-tieren: Wo Kallmeyer drei eigenständige Aufgaben feststellt (die beiden genann-ten und die Vorbereitung der Realisierung), nehmen Nothdurft/Reitemeier/

Schröder eine an (Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung). Hier zeigt sich bei Norhdurft/Reitemeier/Schröder m. E. stärker die Orientierung an einer Phasierung entlang der Gesprächsoberfläche eines Beratungsge-sprächs, weil gerade die Lösungsentwicklung und die -verarbeitung in einem schleifenbildenden Teil des Beratungsgesprächs stattfinden, die als eigene

Aufgaben zwar analytisch zu trennen sind, sich aber nicht als eigene Phasen manifestieren. „Typischerweise reagiert RS im Verlauf der Lösungsentwicklung mit Verarbeitungsmanifestationen wie Ergänzungen zur Problemdarstellung oder Hinweisen auf Akzeptationskriterien“ (Kallmeyer 2000: 238). Dennoch finden sich hier – und da folge ich der Darstellung Kallmeyers – verschiedene kommunikative Aufgaben, die trotz der Verwicklung auf der sprachlichen Oberfläche für die Analyse sinnvollerweise getrennt werden sollten. Dazu kommt, dass auch die Zuordnung der Aufgaben zu einem der Beteiligten (vgl. Kallmeyer 2000, stärker noch Kallmeyer 1985) sinnvollerweise zu einer Trennung der Aufgaben Lösungsentwicklung und -verarbeitung führen muss.

Wie sich bereits aus dem Vergleich der bestehenden Handlungsschemata ergibt, ist die Zuordnung kommunikativer Aufgaben zu Schemakomponenten nicht immer eindeutig. Ich bezeichne jene Bündel an kommunikativen Aufgaben als Schemakomponenten, die sich funktional zu einem gemeinsam zu bearbeitenden Aufgabenkomplex zusammenfassen lassen (vgl. auch Kallmeyer 2000, der von einem „Bestand von Handlungsaufgaben“ Kallmeyer 2000: 237 spricht, die er „Komponenten“ zuordnet Kallmeyer 2000: 238). Entsprechend bezeichne ich jene funktionalen Einheiten als Schemakomponenten, die der Bearbeitung durch beide Beteiligten gemeinsam zugeordnet werden.17 Diesen Schemakomponenten ordne ich jeweils kommunikative Aufgaben zu, für deren Bearbeitung differenziert die einzelnen Beteiligten genannt werden.

Diese kommunikativen Aufgaben könnten noch weiter in Teilaufgaben zerlegt werden, die dann aber entweder thematisch differenzieren würden (vgl. z. B.

Pothmann 1997: 79, der als Teilaufgaben Schuhtypwahl, Farbwahl oder Fabrikatwahl angibt) oder verschiedene Realisierungsformen (z. B. die Form der Eröffnungsinitiative etc.) unterscheiden würde, was m. E. nicht mehr den Kern des theoretischen Konzepts einer kommunikativen (Teil-)Aufgabe trifft. Diese verschiedenen sprachlichen Realisierungsformen einzelner kommunikati ver Aufgaben können hier nicht systematisch aufgeführt werden, es werden aber in Verbindung mit der Beschreibung der Aufgaben jeweils auch verschiedene Realisierungsformen genannt, deren Liste aber nicht als abschließend zu be-trachten ist. Die Realisierungen der kommunikativen Aufgaben als sprachliche

17 Hier besteht eine Ausnahme: Die Begutachtung der Lage des Mandanten ist eine funktional eigenständige Schemakomponente, die ausschließlich kommunikative Aufgaben beinhaltet, die dem Anwalt zugeordnet sind und entsprechend auch als Schemakomponente dem Anwalt zugeordnet wird.

Handlungsmuster und damit ihre interaktionale Bearbeitung wird in den entsprechenden Kapiteln in Teil C3 beschrieben.

Das Handlungsschema zum anwaltlichen Erstgespräch ist auf der Basis eines zyklischen Analyseprozesses entstanden, indem zunächst in kritischer Reflexion bekannte Handlungsschemata zu Beratungsgesprächen und drei Gespräche aus dem untersuchten Korpus (je eines pro Typ, vgl. Kapitel 5.2) miteinander konfrontiert wurden und so ein erster Entwurf kommunikativer Aufgaben entwickelt wurde. Dieser wurde dann mit weiteren Gesprächen konfrontiert, ergänzt und immer wieder verändert, bis damit entsprechend das Geschehen in den Gesprächen so abstrahieren werden konnte, dass auch „neue“ Gespräche sich problemlos mit diesen Schemakomponenten beschreiben ließen. Damit war der angestrebte Grad an theoretischer Sättigung erreicht. Gleichzeitig ist das Handlungsschema nun entsprechend auf der einen Seite so abstrakt wie nötig, dass es alle bisher von mir untersuchten Gespräche abbilden kann und auf der anderen Seite so differenziert wie möglich, um alle Spezifika des anwaltlichen Erstgesprächs herausstellen zu können.

Ein Gesamtüberblick über alle Komponenten mit den ihnen zugeordneten kommunikativen Aufgaben findet sich zusammenfassend am Ende des Kapitels.

Hier wird nun zunächst ein Überblick über die für das anwaltliche Erstgespräch rekonstruierten Schemakomponenten gegeben (Abb. 6), die in der Folge mit den kommunikativen Aufgaben der Beteiligten weiter ausdifferenziert und anhand von Gesprächsausschnitten belegt werden.

Abb. 6: Schemakomponenten des anwaltlichen Erstgesprächs Gesprächseröffnung (A+M)

Sachverhaltsklärung (A+M) Ziel- und Auftragsklärung (A+M) Begutachtung der Lage des Mandanten (A) Wissens(v)ermittlung (A+M)

Handlungsmöglichkeiten entwerfen (A+M)

Verarbeitung der Lage in der Rechtswelt und der Handlungsmöglichkeiten (M+A) (Ver-)Kaufen der Handlungsumsetzung (A+M)

Gesprächsabschluss (A+M)

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