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4 TEIL IV

4.1.3 Bewertung der fachschulischen Ausbildung durch die Studierenden

4.1.3.2 Reflexion der Berufserfahrenen

Wie beschreiben nun die berufserfahrenen TherapeutInnen ihre Ausbildung und in welchen Bereichen unterscheiden sie sich deutlich von den NovizInnen?

Wie eingangs bereits erwähnt, machen die erfahrenen TherapeutInnen (Ausbildungsende bis 1997) ihre Beurteilung der Ausbildung an genau den gleichen Kategorien fest wie ihre jünge-ren KollegInnen, äußern sich jedoch insgesamt etwas gemäßigter.

Die Befragten aus den östlichen Bundesländern unterscheiden sich durch ihre Schwer-punktsetzung nur geringfügig von denen aus dem Westen. Sie sprechen zwar davon, pädago-gisch ausgebildete Lehrkräfte (MedizinpädagogInnen) gehabt zu haben, monieren jedoch die veralteten Wissensbestände sowie die Art der Unterrichtsführung, darüber hinaus das man-gelnde Technikrepertoire und die manman-gelnde Vermittlung von Sozialkompetenz. Zudem wird ein Bild von Physiotherapie gezeichnet, dass die PhysiotherapeutInnen als die „Quäler bzw.

die ganz Harten“ darstellt, die die KlientIn entmündigen, indem sie ihr eigenes Wissen vor-dergründig als einzig relevantes herausstellen. Trotz der Kritik an ihrer Ausbildung spricht ei-ne der Studierenden aus den östlichen Bundesländern ähnlich wie ihre Kollegin aus dem Westen an, dass sie durch ihre Ausbildung einen Grundstock bekommen hat, an dem sie sich in ihrer Anfangszeit hat orientieren können; jedoch verweist sie darauf, dass sie sich von dem

durch die Schule vorgegebenen Umgang mit der KlientIn sehr frühzeitig distanziert und sich des Dogmatismus in ihrer Ausbildung sehr schnell entledigt hat.

Text: E\U, Position: 31 – 31, Code: Bewert. Ausbildung

„Grade unsere Krankengymnastik-Lehrerin, das war so, glaub ich, die prägendste Figur in der Schule, die war sehr gradlinig, sehr streng, hatte Ausbildungsunterlagen, die wohl, ja, schon sehr oft benutzt waren, weil sie so fasrige Blätter hatte, also, sprich, da ist nicht viel verändert worden und das war eigentlich schon in der Ausbildung klar, dass vieles von dem, was sie versuchte, uns einzu-trichtern, in der Praxis einfach nicht mehr so anwendbar ist, oder überhaupt nicht, [ ] man doch in der, in der Zusammenarbeit mit den Patienten oder in der Arbeit mit dem Patienten dann seinen Weg finden muss und sicherlich nicht den von ihr vorgeschlagenen. So nach dem Motto, ich bin der Therapeut, ich bin der Quäler, und es wird gemacht, was ich sage, das war so 'ne ganz Harte. Ob-wohl ihr Unterricht und diese Art, einzutrichtern, schon 'nen Grundstock gelegt hat, also, das konnte man dann einfach, auch wenn man vieles übertrieben, als übertrieben angesehen hat und ge-dacht hat, schon wieder, ob die Hand nun hier liegt oder da, aber das war nun dieser Drill.“

Von ähnlich alt tradierten und eingeschliffenen Wissensbeständen und konservativen Metho-den haben die Befragten, die im ehemaligen Westen ausgebildet wurMetho-den, zu berichten.

Eine der Studierenden erläutert darüber hinaus, dass während ihrer Ausbildung nicht nur eine strikte „Kleiderordnung“ herrschte, sondern die SchülerInnen auch vor Ort wohnen muss-ten. Die im Laufe ihres Berufslebens erworbene Sozialkompetenz lässt sie den Mangel an so-zialwissenschaftlichen Inhalten in der Ausbildung anmerken (hier muss ergänzt werden, dass die vor 1994 begonnene Ausbildung im Westen so gut wie gar keine sozialwissenschaftlichen Inhalte vorsahen - anders als im Osten) sowie den nicht vermittelten professionellen Umgang mit KlientInnen. Die zitierte Studierende verortet diese Sichtweise im „historischen“ Kon-text. Sie beschreibt die Ausbildung ebenfalls als sehr hart, ausschließlich praxisorientiert, ohne Konzeptorientierung, jedoch mit deutlichen Richtlinien für die KlientInnenbehandlung. Die-se Richtlinien lasDie-sen sich auf zweierlei Art beurteilen: die negative Seite zeigt, dass das konDie-se- konse-quente Festhalten an alt tradierten Behandlungen die KlientIn bzw. das Individuum gänzlich ignoriert und ihm z. T. Schaden zufügt (wie sie ausführlich an einem Beispiel erläutert) sowie an der Tatsache, dass die Studentin in ihrem bisherigen Leben - bis auf ihre Ausbildungszeit - keine Rückenschmerzen hatte, die positive ist, dass den SchülerInnen vermeintlich ein Grundstock an die Hand gegeben wird, an dem sie sich „festhalten“ können. Dieses stärkt das Selbstvertrauen im Umgang mit den KlientInnen und erleichtert so den Einstieg in die Arbeit. Sie beschreibt, wie ihr dieser Grundstock, „von dem sie alsbald nichts mehr gemacht hat“ den Einstieg in die Klientenarbeit erleichtert hat.

Sehr reflektiert geht sie mit der Frage um, inwiefern die Ausbildung sich so stark an der Me-dizin orientieren muss oder sollte, wobei sie einen Vergleich zu ihrem eigenen abgebrochenen Medizinstudium vornimmt. Sie kritisiert das Faktenwissen und Auswendiglernen und dass das Begreifen von Zusammenhängen keinen Platz hat, sieht aber generell Faktenwissen als unabdingbare Grundlage für die Physiotherapie.

Text: E\T, Position: 47 – 47, Code: Bewert. Ausbildung

„Also ich hatte das Gefühl, als ich auf die freie Wildbahn so entlassen wurde, dass ich durchaus Grundwerkzeug mitgekriegt habe, also ich fühlte mich nicht furchtbar unsicher, als ich dann am Pa-tienten stand. Es gab damals noch, sehr klare Richtlinien. Für bestimmte Krankheitsbilder wurden einfach zumindest an der Schule bestimmte Herangehensweisen vermittelt. Ich hatte zumindest

im-mer so'n Grundplan im Kopf. Davon hab ich alsbald nichts mehr gemacht, aber es war zumindest so, dass ich irgendwie so'n Gerüst hatte, an dem ich mich irgendwie immer festhalten konnte.

Position: 49 – 49 Obwohl ich da im Nachhinein auch echte Katastrophen erlebt habe (in der Aus-bildung, also ich bin mir im Nachhinein sicher, dass ich praktisch dabei gewesen bin, wie eine mei-ner Lehrerinnen mir etwas vorgemacht hat am Patienten und ihm in diesem Moment 'n Bandschei-benvorfall provoziert hat, was aber eben einfach mit dieser Herangehensweise damals zu tun hatte.

Es war mir relativ schnell klar, dass einige Dinge, die ich da gelernt habe, schlicht und ergreifend falsch gewesen sind. Es war mir aber klar, weil ich vor meiner Ausbildung nie Rückenschmerzen gehabt habe und auch danach nie, aber während der ganzen Ausbildung.

Position: 51 – 51 Und dadurch konnt ich also am eigenen Leibe erfahren, wie es vielleicht nicht sein soll. Was ich ein bisschen schade finde, dass die Ausbildung so sehr stark an der Medizin ori-entiert ist. Ich weiß allerdings nicht, ob man das wirklich ändern kann, weil der Nachteil an der Medizin, durch mein Studium eben ist mir das ja auch noch mal bewusst geworden, ist, dass man so furchtbar viele Fakten auswendig lernen muss, so dieses, also diese kausalen Zusammenhänge und übergreifenden Sachen eigentlich zu kurz kommen. Auf der andern Seite ist es ja nun mal auch 'ne Fülle an Wissen, die irgendwie, ja, also viele Dinge muss man eben einfach wissen, das seh ich bis heute, das hat sich nicht geändert, also anatomische, physiologische Grundkenntnisse sind eben wich-tig.“

Sowohl die Prägung durch die jeweils Lehrenden und damit Entwicklung bestimmter Interes-sensbereiche hat sich vor 10 Jahren (Vergleich NovizInnen und Berufserfahrene) genauso dargestellt, als auch die positive Einschätzung der Verknüpfung von praktischer Tätigkeit halbtags und Schule (vgl. hierzu die Auswertung der NovizInnen).

Ähnlich wie die NovIzinnen thematisieren auch die Berufserfahrenen, dass die Entwicklung des beruflichen Selbstbewusstseins und der beruflichen Identität während der Ausbildung nicht angebahnt wird. Ihre augenscheinliche Kompetenz hängt von der Fähigkeit ab, „sich gut verkaufen zu können“. Das „sich verkaufen können“ sehen die Studierenden als persön-lichkeits- und nicht qualifikationsbedingt. Eine der Studierenden verweist hier auf den We-senszug einiger PhysiotherapeutInnen, den sie offenkundig durch ihre lange Berufserfahrung kennen gelernt hat und stellt einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung und der Aus-prägung dieses Wesenszuges her. Zudem greift sie das antizipierte Fremdbild „Massagemäu-schen“ (vgl. auch Kapitel 4.3.3 „antizipiertes Fremdbild“) auf.

Text: D\P, Position: 24 – 24, Code: Bewert. Ausbildung

„...ist sehr persönlichkeitsabhängig, und sehr selbstbewusstseinsabhängig, , es gibt Leute, die sind fachlich supergut, können sich nicht verkaufen, werden als kleines Massagemäuschen dargestellt, es gibt Leute, die haben wenig drauf, können sich gut verkaufen und sind dann der Hero, also ich denk, das ist persönlichkeitsabhängig, das wird in unserer Ausbildung nicht gefördert, ein sehr gro-ßes Selbstbewusstsein zu erlangen.“

Was die berufserfahrenen Studierenden als überaus positiv dargestellt haben, ist das soge-nannte „Anerkennungsjahr“. Dieses Anerkennungsjahr, welches sich nach der damals zwei-jährigen schulischen Ausbildung angeschlossen hat, ist von allen als ein ganz wesentlicher Zwischenschritt zwischen schulischer Ausbildung und endgültigem Einstieg in das Arbeitsle-ben gesehen worden Hier war in einem geschützten Rahmen mit feststehendem Status der

„noch zu Betreuenden“ viel Raum für die Exploration des neuen Arbeitsbereiches, der eige-nen Entwicklung im Umgang mit KlientIneige-nen, der eigeeige-nen Kompetenzentwicklung in fachli-cher als auch persönlifachli-cher Hinsicht gewährleistet. In diesem Anerkennungsjahr sind offen-sichtlich wesentliche Defizite der Ausbildung ausgeglichen worden und haben den sog. „Pra-xisschock“, auf den im nachfolgenden Kapitel eingegangen wird, reduziert.

Text: E\S, Position: 60 – 60, Code: Bewert. Ausbildung

„Das (Anerkennungsjahr) war sehr gut, also ich fand's auch im Nachhinein mit am lehrreichsten, also, im direkten Patientenkontakt und mit der Betreuung, da hat man wesentlich mehr gelernt als in den ganzen Praktika während der Ausbildung.“

Die gleiche Studierende reflektiert im Rückblick eine weitere positive Seite ihrer Ausbildung, das Phänomen der Körperlichkeit. Sie betont, dass sie es als sehr sinnvoll erachtet hat, dass in der Ausbildung so offen mit dem nackten menschlichen Körper umgegangen wurde. Sie er-innert sich daran, wie sehr sie anfänglich schockiert durch dieses Erlebnis war, hält es aber für eine unabdingbare Voraussetzung im Umgang mit den KlientInnen. Je mehr natürlichen Umgang mit dem menschlichen Körper die TherapeutIn selber erfahren hat, um so natürli-cher und umsichtiger kann sie in der therapeutischen Interaktion handeln. Einen ähnlichen Effekt berichten einige Studierende bei der Einschätzung ihres Studiums, welches sie nach niederländischem Modell absolvieren.

Text: E\S, Position: 70 – 70, Code: Bewert. Ausbildung

„Gut fand ich, dass von Anfang an, ohne wenn und aber, sehr offen mit Körper umgegangen wurde, dass wir uns gegenseitig, ja, eigentlich auch des öfteren nackt im Hydro oder so gesehen haben, wobei jeder schon noch die Möglichkeit hatte, da seinen Badeanzug oder was anzuziehen, was am Anfang halt schockierend war, aber ich denke im Nachhinein, kann man am Patienten dadurch, durch so was viel selbstverständlicher damit umgehen und es ist für den Patienten angenehmer.“

Eine weiterer Unterschied zwischen NovizInnen und Berufserfahrenen ist der Umgang oder die Betrachtung von Erfahrungswissen. Während die NovizInnen sehr viel „bewiesenes“, wissenschaftlich untermauertes Wissen einfordern, so äußern sich die Berufserfahrenen kriti-scher. Auch sie fordern, den neuesten Wissensbestand mit in die Ausbildung einfließen zu lassen, und auch die Lehrenden sind aufgefordert, sich mit den neuesten Erkenntnissen aus-einander zu setzen, sie schätzen aber hinsichtlich der Physiotherapie viele Bereiche als noch nicht beweisbar ein bzw. plädieren eindeutig dafür, das Erfahrungswissen nicht völlig in Fra-ge zu stellen.

Text: C\M 100, Position: 62 – 63, Code: Bewert. Ausbildung

„Erfahrungswissen soll jetzt nicht ausgetauscht werden gegen evidenz-basiertes Wissen, also ich denk schon, dass es, dass es Sachen gibt, da wird's unheimlich schwer sein, das wissenschaftlich nachzu-weisen“

Die berufliche Erfahrung lässt sie zu der Erkenntnis gelangen, dass es sich bei dem in der Ausbildung vermittelten Wissens und hier ist zunächst explizites Wissen angesprochen - nur um ein „Halbwissen“ handelt, welches aber allzu oft als absolut hingestellt wird. Dieses spielt für alle Befragten eine große Rolle im Hinblick auf das Selbstbewusstsein- bzw. die

Ernüchte-rung, die sie nach der Beendigung der Ausbildung erfahren. Hier liegt wiederum eine enge Verknüpfung mit der Tatsache vor, dass man „nicht weiß, was man kann“ und auch die eige-nen Grenzen des Wissens nicht eingeschätzt werden köneige-nen, und sich dieses zudem negativ auswirkt auf die Zusammenarbeit mit benachbarten Berufsdisziplinen. Dieser Tatsache wird in dem folgenden Kapitel „Berufseinstieg“ genauer nachgegangen.

Einen weiteren Schwachpunkt in der Ausbildung deckt eine Berufserfahrene auf, indem sie bemängelt, in der Ausbildung nicht gelernt zu haben, wie man adäquate Berichte an den Arzt oder auch an andere Disziplinen schreibt, dass man nicht lernt, sich entsprechend auszudrü-cken bzw. schriftlich und mündlich zu kommunizieren. Sie gleicht dieses Defizit mit der Be-rufsgruppe der ErgotherapeutInnen ab und stellt fest, dass diese BeBe-rufsgruppe nicht nur in diesem Hinblick weiter in ihrer Entwicklung ist.

Text: D\P, Position: 82 – 83, Code: Bewert. Ausbildung

„Wir mussten auch die Berichte schreiben für die Ärzte, das ist zum Beispiel auch was, was in die Ausbildung sollte, denk ich, wie schreib ich 'n Bericht, was gehört da rein, wie soll ich mich ausdrü-cken, weil in den Berichten, wir lernen das ja nicht, also, klar macht man 'n Befund, und man schreibt das dann hin, aber wenn ich 'n Bericht an die Kasse oder an den Arzt schicke, Ergos sind da super, wir überhaupt nicht. Also ich fühl mich nicht kompetent darin, ich hab's nicht gelernt.“

Fasst man die von den allen Studierenden geäußerte Kritik bzw. die Kriterien für eine gelun-gene Ausbildung zusammen (vor dem Hintergrund einer bereits erfolgten Studierendensozia-lisation), so müsste eine Ausbildung folgende Punkte beherzigen:

• Die Fächer mit geringerer Praxisrelevanz würden reduziert.

• Dokumentation und das Verfassen von Berichten würde integriert.

• Fortbildungsinhalte würden vermehrt in die Ausbildung integriert und ein neutraler Einblick in den Fortbildungsbereich würde gewährt.

• Es würde Transparenz hinsichtlich der Gewichtung der Ausbildungsinhalte bestehen.

• Lehr- und Lernformen würden neuen erziehungswissenschaftlichen Kenntnissen angepasst werden, Problemorientierung, Schülerinnenzentrierung müssten eingeführt werden.

• Die Lehrenden würden sich je nach Fachgebiet sowohl durch fachpraktische, metho-dische und/oder theoretische sowie pädagogische Kompetenz auszeichnen.

• Die Bezugswissenschaften müssten einen für Physiotherapie relevanten Bezug auf-weisen, d. h. die Inhalte der Psychologie müssten auf die Relevanz des physiothera-peutischen Alltags zugeschnitten werden.

• Es müsst ein realistisches Bild der Physiotherapie bereits in der Ausbildung vermittelt werden.

• Die Ausbildung müsste Selbstbewusstseins- und Identitätsbildung fördern.

• Die Integration psychologischer, pädagogischer sowie sozialwissen-schaftlicher Fä-cher im Hinblick auf Sozialkompetenzentwicklung müsste deutlich verstärkt werden.

• Die Integration gesundheits- und berufspolitischer Grundlagen zur Identitätsbildung und Verortung im Gesundheitssystem sollte gewährleistet sein.

• Die Integration von Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens müsste erfolgen.

• Die Integration ethisch und moralischer Grundsätze wird gefordert.

• Die Betreuung in den fachlichen Einsätzen müsste einheitlich und verbindlich gere-gelt werden und der Einsatz in Praxen für Physiotherapie müsste ein integraler Be-standteil der Ausbildung sein, da die Mehrzahl der PhysiotherapeutInnen zukünftig nicht mehr in Kliniken arbeiten wird.

• Der Einstieg in das Berufsleben sollte so geregelt sein, dass er verbindlich durch einen Mentor begleitet wird, der bestimmten Aufgabe wie Supervision, Förderung der Re-flexion etc. nachzukommen hätte.