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4 TEIL IV

4.2 Ergebnisse des 2. Stranges: Akademisierung und ihre Auswirkungen

4.2.4 Die Akademisierung der Physiotherapie und ihre Problemfelder

4.2.4.1 Einführung der flächendeckenden Akademisierung

4.2.4.1.2 Contra

Im Gegensatz zu der Gruppe, die das vierjährige Studium begrüßen, sind mehr als die Hälfte der Studierenden (12 von 22) der Meinung, dass es nicht nötig ist, eine flächendeckende Aka-demisierung einzuführen und weitere drei äußern sich sehr ambivalent. Grundsätzlich erach-ten sie es als sinnvoll, dass PhysiotherapeutInnen die Wahloption haben, sich zusätzlich bzw.

ergänzend für ein Studium zu entscheiden. Ihre Begründungen spiegeln vor allen Dingen ihre eigenen, individuellen Vorstellungen zur beruflichen Entwicklung, ihren Karrierevorstellun-gen und Wünsche, insbesondere in Forschung und Lehre tätig zu werden, wider. Gleichzeitig scheint auch hier das berufliche Selbstbild durch, welches die Studierenden an anderer Stelle von ihrer Berufsgruppe zeichnen haben. Dass die flächendeckende Einführung von grund-ständigen Studiengängen nicht nötig ist, wird vermehrt sowohl von den Studierenden der er-gänzenden (dreisemestrigen) Studiengänge berichtet als auch von denjenigen, die sich noch in Ausbildung und Studium (gleichzeitig) befinden. Interessanterweise sind dieses zu zumeist NovizInnen bzw. PhysiotherapeutInnen, die eine geringe Berufserfahrung haben (13 von 15) und nur insgesamt zwei der langjährig Berufserfahrenen. Gleichzeitig vermuten und/oder

be-fürchten aber auch neun dieser Studierenden, dass es eine „Zweiklassenphysiotherapiegesell-schaft“ geben wird.

4.2.4.1.2.1 NovizInnen

Hier lässt sich keine eindeutige Typeneinteilung vornehmen, denn alle Studierende verweisen in ihrer Begründung in irgendeiner Weise auf die Theorie-Praxis-Problematik und das Phä-nomen der Abgrenzung. Anhand von Beispielen und den eindrücklichsten Argumenten wird dieses Begründungsverhalten gegen die Einführung grundständiger Studiengänge dokumen-tiert. Es erscheint die Stufigkeit im System deswegen als sinnvoll, weil zunächst über die grundständige berufliche Ausbildung das „Handwerkszeug“ und die Techniken zu erlernen sind, also praktische Fertigkeiten, um sich dann in einem weiteren Schritt entweder für das Studium oder die berufliche Tätigkeit zu entscheiden. Einige der Novizinnen geben an, dass nur diejenigen nach der Ausbildung studieren sollten, die bereits während der Ausbildung verstanden haben, dass „Physiotherapie mehr ist als nur Technik“ und die bereits vor Auf-nahme des Studiums in der Lage sind, wissenschaftliche Texte zu lesen. Sie befürworten ein hierarchisch abgestuftes System im Bereich der Physiotherapie wie es beispielsweise in eini-gen anglo-amerikanischen Ländern wie u. a. in Amerika vorherrscht (Physiotherapieassisten-ten, (an-)leitende Physiotherapeu(Physiotherapieassisten-ten, den forschenden Physiotherapeuten etc.). Für die prak-tische Tätigkeit mit der KlientIn ist es ihrer Meinung nach nicht vonnöten, dass alle Physio-therapeutInnen studiert haben; es ist ausreichend, wenn ein oder zwei der TherapeutInnen in einer Abteilung diese Qualifikation besitzen und dann entsprechend die Leitung übernehmen und ggf. ihr Wissen weitergeben. Gleichzeitig benötigen die akademisch ausgebildeten Physi-otherapeutInnen auch insgesamt weniger Technikrepertoir, da sie vermutlich „weniger am Patienten/an der Bank stehen werden“. Die Aussagen verweisen wiederum auf das Theorie-Praxis-Problem und auf die eigene berufliche Identität, deren Darstellungen eigene Kapitel gewidmet sind.

Text: C\L, Position: 89 – 89, 141-141, Code: Akademisierung

„Ich denk mal, der Ansatz ist der richtige Weg, dass man die grundständige Ausbildung lässt und dann das als Aufbaustudium macht, weil es letzten Endes ein praktischer Beruf ist, und den kann ich nicht an der Universität lehren, das ist meine Meinung, dass das Studium, so wie es jetzt gedacht ist, schon richtig ist. ...Bei mir war's so, dass ich relativ früh schon halt angefangen hab, gewisse Studien zu lesen, mir halt dieses Niveau der Berufsausbildung zu niedrig war, dementsprechend halt auch schon an Fortbildungen teilgenommen hab und denke, dass nur dies reine Umgehen mit Pati-enten mich in dem Studium nicht weiter gebracht hat. Also für mich würd ich wieder entscheiden, das direkt nach der Ausbildung zu machen, aber ich würd's nicht jedem empfehlen.“

Die Studierende grenzt ihre eigenen Fähigkeiten sehr stark gegen die der anderen Therapeu-tInnen ab. Zwar verfügt sie über noch keine Berufserfahrung, schätzt aber ein, dass „nur die-ser reine Umgang mit Patienten“ sie im Studium nicht weiter gebracht hätte. Mit diedie-ser sprachlichen Hervorhebung unterstreicht sie, dass für sie KlientInnenarbeit einen geringeren Stellenwert hat als andere Tätigkeiten. Diese Studierende hatte bereits bei ihren Erwartungen an das Studium angegeben, dass sie für leitende Tätigkeiten oder die Übernahme einer eige-nen Praxis ausgebildet würde und ihr das Studium auch eigentlich für die Entwicklung ihrer physiotherapeutischen Kompetenzen nicht „allzu viel“ gebracht hätte. Sie assoziiert, dass sie nicht direkt mit KlientInnen arbeiten, sondern sofort eine andere Position bekleiden möchte und greift auf, dass sie eine hierarchische Strukturierung des Systems für sinnvoll erachtet. Sie begründet ihre Entscheidung für die Abstufung damit, dass die Praxis nicht an der

Fachhoch-schule anzusiedeln sei, so zumindest sei es ihr an ihrer FachhochFachhoch-schule erklärt worden. Eine ähnliche Abgrenzung nimmt eine Studierende vor, die hervorhebt, dass man auch nicht alle Fachschüler auf das Fachhochschulniveau transferieren kann.

Text: A\B, Position: 166 – 166, Code: Akademisierung

„Die kann man ja nicht alle auf 'ne Fachhochschule stecken, die haben ja auch gar nicht alle Abi-tur. Auf der einen Seite ist es, wie gesagt, die Höherqualifikation aber auf der anderen Seite brauche wir auch Kräfte, die arbeiten.“

Indirekt verbindet die Studierende, dass auch sie nicht „arbeiten“ wird im klassischen Sinne, also „mit und an der KlientIn“, sondern sich für sie eine andere Tätigkeit ergeben wird. Auf der anderen Seite betont sie, dass das System aber noch TherapeutInnen benötigt, die die

„Arbeit“ verrichten. Daher zögert sie, die flächendeckende Akademisierung als sinnvoll zu erachten. Ähnlich betrachtet es ihre Kollegin, die sich wie folgt äußert:

Text: A\D, Position: 129 – 129, Code: Akademisierung

„Weil jetzt um 'nen Patienten gut zu behandeln, muss ich nicht unbedingt studiert haben, denk ich einfach, also um jetzt mit dem irgendwie das Bein wieder gesund und heil zu kriegen, so irgendwie, was weiß ich, da ist es viel wichtiger, 'ne fundierte praktische Ausbildung zu haben.“

Hier wird nicht nur die wünschenswerte Abstufung innerhalb des Systems unterstrichen, sondern es lässt die tiefe Verwurzelung der reduktionistischen Sichtweise aus der medizini-schen Anlehnung erkennen, die „arbeitende PhysiotherapeutIn“ benötigt zwar Techniken, aber keine weiteren Hintergrundkenntnisse wie beispielsweise KlientInnenzentrierung und psychosoziale Fähigkeiten oder gar eine holistische Sichtweise.

Auch das folgende Zitat greift die Problematik der Akademisierung vor dem Hintergrund des Theorie-Praxis-Problems auf. Die Studierende ist ebenfalls Novizin, nimmt aber zunächst für sich keine direkte negative Abgrenzung gegenüber ihren nicht studierenden KollegInnen vor.

Sie steht der flächendeckenden Akademisierung, die sie an und für sich unterstützen würde, da die PhysiotherapeutInnen hierüber ihr Prestige verbessern könnten, insofern ambivalent gegenüber, weil sie einen Teil der potentiellen PhysiotherapeutInnen ausgrenzen würde. Sie spricht von denjenigen, die nicht über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügen. Sie er-klärt, dass sie es nicht nur als sehr ungerecht empfinden würde, mit einem Fachhochschul-studium eine Teilgruppe auszugrenzen, sondern dass genau diejenige Teilgruppe ausgegrenzt würde, die über therapeutische Qualitäten verfügt. So sind für sie die TherapeutInnen mit ei-nem Realschulabschluss/Hauptschulabschluss einerseits assoziiert mit den Fähigkeiten, spü-ren und fühlen zu können (also die intuitiven Fähigkeiten betonend), andererseits jedoch mit weniger kognitiven Kompetenzen ausgestattet. Sich selbst empfindet sie als „theoretisierten Kopf“, der zu therapeutischer Arbeit nicht mehr in der Lage sein wird, weil sie „den Kopf dicht hat mit Wissen“, sie sieht sich in der Rolle der Denkerin, der Theoretikerin. Damit stellt sie heraus, dass sie mit dem Studium ausschließlich Theoriewissen verbindet, welches ihr auch für die Zukunft andere Arbeitsmöglichkeiten eröffnet (ihr Karriereziel ist die Lehre oder Forschung), während die praktische Seite des therapeutischen Prozesses durchaus den nicht akademisierten TherapeutInnen zukommt. Damit hebt sie ihre anfänglich getätigte, explizier-te Nicht-Abgrenzung wiederum auf.

Text: A\A, Position: 68 – 70, 118 – 119 Code: Akademisierung

„Denn, nicht nur, weil ich Abitur hab und dadurch an die Fachhochschule komm oder Abi, Fach-hochschulreife hab, bin ich besser als jemand, der quer einsteigt und eben irgendwie über Realschule ohne Fachhochschulreife diese Ausbildung macht und ein super Physiotherapeut ist. Es gibt so viele Physios, die auch von mir aus 'n Hauptschulabschluss haben und diese Ausbildung machen und deswegen nicht schlechtere Menschen sind oder schlechtere Therapeuten, sondern grade die Richtigen, weil sie spüren können, weil sie genau spüren, was der Patient dort hat oder sehen können, was der Patient will. Und ich als akademisierter, theoretisierter Kopf dahin gegen....!, Ich weiß gar nicht, wovon ich rede, aber theoretisch ist das so und so. Schrecklich. Also ich denke, es muss einfach in diesem Beruf ein Mensch arbeiten, der spürt und fühlt, was los ist, und der nicht so verkopft an die ganze Sache rangeht. Das ist das, was ich vorhin meinte, der Horizont ist gut, dass man den hat, das ich weiß, was ich tue, aber ich muss meinen Beruf als Berufung leben und arbeiten können, also ich muss diesen Beruf ausüben können, das kann ich nicht, wenn ich nicht mehr spüre. In diesem Beruf ist Spüren das Wichtigste. Sehen, Anfassen. Und Patienten da abholen, wo er sich befindet, und das kann ich nicht, wenn ich meinen Kopf dicht hab mit Wissen.“

Es ist insbesondere auffällig, dass primär die NovizInnen ohne Berufserfahrung ihre Begrün-dung gegen ein grundständiges Studium auf einer starken Abhebung zu ihren KollegInnen und den Bildungsvoraussetzungen fußen lassen, es muss „Arbeiter“ geben und „Denker“, wobei sie sich zu den letzteren zählen. Teilweise heben sie ihre eigenen Fähigkeiten hervor, qualifizieren die „hands-on-therapie“ herab und erwähnen, dass es ausreichend ist, wenn man Techniken beherrscht, um „ein Bein“ zu behandeln.

4.2.4.1.2.2 Berufserfahrene

Auch zwei der sehr berufserfahrene Kolleginnen teilen die Einschätzung, dass das System der Abstufung sinnvoll ist, denn die Theorielastigkeit des jetzigen Studiums in der Kombination mit der praktischen Ausbildung würde vermutlich zu einer deutlichen Überforderung für die meisten Studierenden führen. Eine Studentin begründet es durch ihre eigene Erfahrung und Einschätzung, indem sie retrospektiv ihre eigenen Fähigkeiten zu Beginn der schulischen Ausbildung reflektiert und ihren eigenen Lerntyp als Begründung mit heranzieht. Darüber hinaus hält sie Berufserfahrung und Erfahrungswissen vor Aufnahme des Studiums für sehr wichtig.

Text: D\O, Position: 119 – 122, Code: Akademisierung

„Ich für meinen Teil, also ich find 's klasse und ich würd's wieder genauso machen, also ich würd erst meine Ausbildung machen, dann arbeiten und mir dann überlegen, ob ich das will oder nicht mit dem Studium. Es ist schwierig, aber aus meiner persönlichen Erfahrung her, ich sag mal, so wie ich lerne und wie ich Erfahrungen mache, würde ich's wieder so machen und auch andern Leuten so empfehlen und nicht sofort in ein Studium gehen.“

F. Was ist die genaue Begründung dafür? Vielleicht nur ein, zwei Sätze dazu.

A. Ich mach's mal an meinem Beispiel (fest). Für mich war wichtig, dass ich die Basis lerne, jetzt rein medizinisch und physiotherapeutisch, und dann über Erfahrung und Weiterbildung mich weiter qualifiziere und wie gesagt, dieses Beispiel mit der Neuroanatomie vorhin, ich hätte das, ich persönlich hätte das mit Anfang 20 nicht lernen können, ich hätte es tatsächlich nicht begriffen.

Und wenn ich damals noch viel mehr Theorie hätte lernen müssen, hätte es mich, glaub ich, abge-schreckt oder es wäre anders gelaufen, und für mich, ganz individuell war das so der absolut perfekte Weg.“

Fasst man nochmals zusammen, so hält die Mehrzahl der PhysiotherapeutInnen eine flä-chendeckende Akademisierung zum jetzigen Augenblick für weder sinnvoll noch durchführ-bar. Auffällig ist insbesondere, dass vor allen Dingen die NovizInnen ein starkes Abgren-zungsverhalten gegenüber ihren nicht-akademisch ausgebildeten KollegInnen an den Tag le-gen, und betonen, dass sie die nächste „DenkerInnengeneration“ sein werden. Sie begründen es dergestalt, dass die allgemeinen intellektuellen Voraussetzungen bei den meisten KollegIn-nen nicht gegeben seien - und darüber hinaus müsse es in jedem Fall PhysiotherapeutInKollegIn-nen geben, die weniger denken, sondern arbeiten. Eng im Zusammenhang hiermit stehend sind Aussagen zu werten, die die Theorie-Praxis Klaffung ansprechen (siehe hierzu jedoch auch das Kapitel 4.2.4.4 „Die Theorie-Praxis-Problematik“ ).

4.2.4.2 Schwierigkeiten im Umgang mit SchülerInnen in der Ausbildung und