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Ergebnisdiskussion zum 3. Strang: Professionalisierung und Professionalität

5 TEIL V

5.3 Ergebnisdiskussion zum 3. Strang: Professionalisierung und Professionalität

In diesem letzten Strang wurde vor dem Hintergrund von Professionalisierung und Professi-onalität beforscht, wie sich das physiotherapeutische Selbst über Definition des eigenen Beru-fes, das Selbstbild sowie antizipierte Fremdbild darstellt und woran die Studierenden Profes-sionalität und den Professionalisierungsprozess festmachen.

Wie in der theoretischen Auseinandersetzung bereits erschlossen, ist Professionalität zunächst sehr eng an das Phänomen eigener beruflicher Identität geknüpft, aber auch an die Fähigkeit der Anwendung wissenschaftlich vertiefter, abstrahierter Kenntnisse in der konkreten (Hand-lungs-) Situation. In den bereits erfolgten Ausführungen wurde transparent, dass letzterer Punkt eng an die Theorie-Praxis-Verknüpfung gekoppelt ist - oder anders gesagt, ein ausge-wogener Bezug beider Bereiche aufeinander nötig ist - um auf der einen Seite ausschließliche Theoretisierung und auf der anderen Seite unreflektiertes Berufshandeln zu verhindern. Diese Synthese gelingt zur Zeit in der Physiotherapie aus den bereits genannten Gründen noch nicht, denn weder hat die Physiotherapie es bisher geschafft, die Bezugswissenschaften auf die Disziplin zuzuschneiden, geschweige denn sich von ihnen in einem Transformationspro-zess zu lösen, der eigene Identität und Professionalität entstehen lassen könnte. Wissenschaft-liches Wissen wird auf der Mesoebene nach Lempert (1998) zwar erworben, doch in wiefern es sich auf wissenschaftlich-praktische Kompetenz im beruflichen Handeln auswirkt, wird erst noch zu eruieren sein. Die im kompetenztheoretischen Zusammenhang stehenden be-rufsethischen, professionsspezifischen Leitziele existieren noch nicht - und lassen sich über die gesamte Forschungsarbeit eindrücklich den Aussagen der Studierenden entnehmen.

In diesem Zusammenhang steht aber für sich das Phänomen, dass die Studierenden die be-rufliche Handlungspraxis als wesentlichen Baustein professioneller Entwicklung nicht in den Vordergrund ihrer Betrachtungen rücken, sondern Leitung, Forschung und Weiterlernen, wie nachfolgend beschrieben.

Als ein Teil beruflicher Identität sind in dieser Arbeit wie gesagt explizit die Parameter einer Definition von Physiotherapie, das Selbst- sowie antizipierte Fremdbild erhoben worden. Si-cherlich sind die drei Parameter sehr miteinander verwoben, beeinflussen sich wechselseitig und sind somit nicht einfach voneinander zu trennen. Die Studierenden haben zunächst größte Mühe, eine Definition ihres eigenen Berufes zu geben bzw. die charakteristischen E-lemente ihres Berufes hervorzuheben. Die unterschiedlichen Begründungen lassen sich zu-nächst unter zwei übergreifende Aussagen stellen: Die erste besagt, dass eine Definition nicht möglich sei, da eine Definition als Einschränkung empfunden wird. Die zweite betont, dass die Selbstdefinition an das Merkmal von Fort- und Weiterbildung gekoppelt ist, d. h., die PhysiotherapeutIn definiert sich nicht über den (Grund-)Beruf Physiotherapie, sondern über jeweils absolvierte Fort- und Weiterbildungen. Dieses wird als Tatsache von den Studieren-den mit großer Frustration berichtet. Das sich daran offensichtlich seit Jahrzehnten nichts ge-ändert hat, zeigt das nachfolgende Zitat einer externen ExpertIn:

Text: Expert\ax-H2b, Position: 76 – 76, Code: Definition

„Sie (die PhysiotherapeutInnen) müssen was Besonderes sein, klar, und darum sind sie ja dann auch nicht mehr Physiotherapeut, sondern Manualtherapeut oder Bobath-Therapeut oder Vojta-Therapeut oder FBL-Vojta-Therapeut. Was soll das? Das sind, also ich find's ein Jammer, wenn jemand nur Manualtherapeut ist oder nur FBL-Therapeut, wo bleibt der ganze Rest?“

Die weiteren Ausführungen der Studierenden kreisen dann als die zentralen Parameter ihrer möglichen Definitionen das Arbeiten mit dem Körper, das Helfen und das Wiederherstellen von Funktionen ein. Auffällig ist, dass hin und wieder auch der Begriff der Ganzheitlichkeit fällt, der allerdings in einem oberflächlichen Betrachtungsmodus ohne Verinnerlichung ver-bleibt - und das Moment der „Bewegung“, das eigentlich übergreifende Berufswahlmotiv - nicht in die Definition einbezogen wird. Lediglich die langjährig erfahrenen TherapeutInnen integrieren über lang reflektierte Prozesse beruflichen Handelns die Veränderungen in ihrem Selbst und damit der Definition. Sie reflektieren ihre Handlungspraxis von der anfänglich

„Hand“-anlegenden Therapie hin zur beratenden, die KlientIn autonomisierenden Tätigkeit.

Im Kontrast hierzu stellt eine der hinzugezogenen ExpertInnen die für sie zentralen und auch anderen Berufen gegenüber einzigartigen Definitionsmomente der Physiotherapie heraus: Die Bewegung sowie die körperliche Nähe im KlientInnenkontakt. Hier wird sich sicherlich in der Zukunft ein hoher Diskussionsbedarf einstellen, der nicht nur nach einer möglichen De-finition, sondern auch nach einem kollektiven Selbstverständnis und der Selbstinterpretation sucht.

Identität stellt immer die Frage nach dem „Wer bin ich- und wer möchte ich sein“. An dieser Stelle soll nun mit der Zusammenfassung der Ergebnisse zum Selbstbild der Physiotherapeu-tInnen fortgefahren werden. Kristallisierte sich bereits das Finden einer Definition als diffus und äußerst diffizil heraus, so kommt im Selbstbild der PhysiotherapeutInnen, also der Beschreibung, wie der eigene Berufsstand und der eigene Bezug zu ihm wahrgenommen wird, eine sehr hohe Aussagekraft zu. Die Aussagen der Studierenden verdeutlichen die tiefe Identitätskrise im Berufsstand der PhysiotherapeutInnen - und stimmen sehr nachdenklich.

Die eingangs so charismatisch, sportlich, einfühlsam und über psychologisches Beurteilungs-vermögen beschriebene Persönlichkeit der PhysiotherapeutIn scheint verschwunden. Sowohl NovizInnen wie auch Berufserfahrene stehen ihrem eigenem Berufsstand mit äußerster Skep-sis und Kritik gegenüber. Es verwundert, dass beide zu einem fast identischen Aussageverhal-ten im Selbstbild gelangen und lässt die Frage stellen, wodurch diese Einstellungen transpor-tiert werden. Nun können hier nicht alle Aussagen zum Selbstbild wiederholt werden (siehe hierzu in aller Ausführlichkeit das Kapitel 4.3.2 „physiotherapeutisches Selbstbild“), aber ei-nige wesentliche Fragmente sollen dennoch beleuchtet werden. Abgesehen von der festge-stellten Tatsache, dass kein gemeinsames berufliches Selbstverständnis existiert, sprechen die Studierenden der überwiegenden Mehrheit der BerufsinhaberInnen die Fähigkeit zur Über-nahme von Verantwortung ab und schreibt ihr konkurrierendes, mangelnde Sozialkompeten-zen erkennen lassendes Verhalten zu. Weiterhin attribuieren und empfinden sie die unpoliti-sche, an Weiterentwicklung nicht interessierte Berufsgruppe als hin- und hergerissen zwi-schen „Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn“, unfähig, die eigenen Kompetenzen und ihre Grenzen zu erkennen sowie sich durch Abgrenzung gegeneinander auszuzeichnen. (Hier ist allerdings anzumerken, dass die Mehrzahl der Studierenden sich bereits in ihrem Antwort-verhalten zur flächendeckenden Einführung grundständiger Studiengänge ebenfalls abgren-zend geäußert hat!). So fordern sie Richtlinien, die das therapeutische Handeln reglementieren sollen und kritisieren die hohe Zersplitterung in verschiedene Verbände, die die politische Wirkkraft schwächen. Weiterhin fokussieren sie ein fehlendes, kompetentes Kommunikati-onsverhalten untereinander sowie gegenüber der Ärzteschaft. In diesem Fall liegt eine

kollek-tive Einschätzung vor, die von beiden ExpertInnen geteilt wird und die Forderung zulässt, sich in Zukunft um eine gemeinsame, auch für angrenzende Berufsgruppen nachvollziehbare und kommunizierbare Fachsprache zu bemühen.

Text: Expert\ax-2b, Position: 66 – 66, Code: Professionalisierung\ Kommunikation

„Wir verstehen ja schon untereinander nicht, ne, wenn ein FBLer9), sag ich jetzt mal, mit einem Manualtherapeuten spricht, verstehen die sich ja nicht in ihrer Terminologie. Und das halt ich für tödlich für den Berufsstand oder für den Wissensbestand eines Berufes. Wenn jeder glaubt, er muss 'ne Bewegungsrichtung nun auf seine Art bezeichnen und noch mal anders, als es die Schüler im Anatomiebuch finden, was soll das? Also, was mir als sehr unangenehme Entwicklung schon seit vielen, vielen Jahren auffällt, ist die sprachliche Entfremdung zwischen Medizin und Physiothera-pie.“

Der Haupttenor in der Entwicklung des mangelnden Selbstbewusstseins einerseits und der Selbstüberschätzung andererseits, den die Studierenden bereits im dritten Strang betont ha-ben und der als Folge einer nicht gelingenden, kollektiven Identität durch die Ausbildung mit mangelnder Entwicklung eines beruflichen Selbstverständnisses betrachtet bzw. verstanden werden kann, durchzieht wie ein zweiter roter Faden die Interviews und wird wiederum durch die Außenaufsicht bestätigt.

Text: Expert\ax-2b, Position: 68 – 68; 100-102, Code: Selbstbild PT

„an der Selbstüberschätzung, würd ich sagen, und an der, es fehlt das Regulativ.

Wenn wir wirklich ein selbstbewusster Berufsstand wären, wären wir ja in der Lage, mit vernünfti-gen Fravernünfti-gen, wie jeder andere Wissenschaftler das auch macht, in die Nachbardisziplin zu gehen und zu sagen, hör mal, ich hab hier ein Phänomen, das kann ich mir nicht erklären, was fällt dir denn dazu ein? Warum können wir das nicht? Das hoff ich mir, dass wir irgendwann mal so weit kom-men, ne, wenn die Frage entsteht, was erwarten Sie sich von der Akademisierung der Physiothera-pie, zum Beispiel das. Dass wir ein berufliches Selbstverständnis entwickeln, dass uns befähigt, ohne Berührungsängste zu den Grundlagenwissenschaften zu marschieren, zu den Begleitwissenschaften zu marschieren und zu sagen, hört mal Jungs, hier brauch ich mal 'ne Auseinandersetzug mit euch.

Und das schaffen wir nicht.

F. Ja und warum? Was ist da der Grund?

Weil wir Halbgebildet sind, das muss man so krass sagen. Halbgebildete kriegen sofort Hosen-schlottern, wenn ein vermeintlich ganz Gebildeter vor ihnen steht. Und nichts ist schlimmer, als ein Halbgebildeter, der sich für gebildet hält. Und das tun wir, weil wir jahrelang pauken, in der Aus-bildung, in der Fortbildung pauken wir, und glauben natürlich, wir wissen unglaublich viel. Aber wir wissen kaum was. Wir wissen Einzelheiten, aber wir haben ja überhaupt keinen Zusammen-hang im Kopf. Und wie kann jemand, der sich nur mühsam diese ganzen, diesen ganzen Bobath, Vojta, FBL sind auch wochenlange Kurse, Manuelle10, wochenlang fährt man irgendwo hin, be-zahlt viel Geld, lässt sich auf die Finger gucken, macht 'ne Prüfung und zittert und bebt, hat, was

9 Funktionelle Bewegungslehre, eine mögliche Fortbildungsrichtung in der Physiotherapie

10 Darunter ist „Manuelle Therapie“ gemeint, eine von vielen krankengymnastischen Behandlungsmethoden.