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4 TEIL IV

4.3 Ergebnisse des 3. Stranges: Professionalisierung und Professionalität

4.3.5 Professionalisierung und Handlungsautonomie

4.3.5.2 Begründungsmuster gegen Handlungsautonomie

Diejenigen TherapeutInnen, die zunächst in der Erlangung von Handlungsautonomie zur Weiterentwicklung des Berufes kein vorrangiges, sondern eher ein Fernziel sehen, begründen dieses auf fünf Weisen.

Begründung 1: Die Persönlichkeitsstruktur von PhysiotherapeutInnen und das Selbstver-ständnis, mit dem sie diesen Beruf erlernen (siehe auch Kapitel 4.3.2 „physiotherapeutisches Selbstbild“) nämlich explizit unter der ärztlichen Verordnung zu arbeiten, „Handlanger“ zu sein, macht die Übernahme von Eigenverantwortung schwierig.

Text: E\T, Position: 116 – 117, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Also offensichtlich ist es ja so, dass dieses Selbstverständnis mit dem viele Physiotherapeuten wer-den, eher so ist, dass sie, also ich will's mal hart ausdrücken, aber dass sie eigentlich Handlanger sind. Und nicht, also, keine Eigenverantwortung übernehmen müssen. Also so lange das im Hinter-grund ist, und Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen unter diesen Voraussetzungen die Aus-bildung antreten, werden sie auch sich schlecht davon lösen können, dass sie auf einmal Verantwor-tung für etwas übernehmen sollen.“ (Berufserfahrene)

Begründung 2: PhysiotherapeutInnen können gerade nach ihrer Ausbildung nicht die ärztli-che Untersuchung ersetzen bzw. eine adäquate Diagnose stellen. Die Ausführungen der hier zitierten Novizin rekurrieren in ihrer Ausdrucksweise deutlich auf die reduktionistische Be-trachtungsweise medizinischer Modelle, wenn sie von Lendenwirbelsäulen- und Schulter-Arm-Syndromen und nicht von KlientInnen spricht.

Text: C\M, Position: 112 – 112, Code: Professionalisierung\ Handlungsautonomie

„Ich fühl mich nicht dazu in der Lage, da eine Diagnose stellen zu können. Von den Mitteln nicht, von meiner Ausbildung her nicht, gut, dass ich mir schon zutraue, dass, wenn da ein LWS-Syndrom (Lendenwirbelsäulensyndrom) kommt zum hundertsten mal, oder ein Schulter-Arm-Syndrom, das ich dann sage, gut, vielleicht guckt der sich noch mal die Halswirbelsäule an oder so.

Aber das ich da 'ne große Diagnose stell oder so, ja, trau ich mir jetzt nicht zu, trau ich ganz vielen nicht zu, vielleicht können's manche. Aber da kommt das Wissen auch einfach nicht aus der Aus-bildung, aus Fortbildungen, glaub ich.“ (Novizin)

Text: D\O Position: 108 – 108, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Auf der einen Seite denk ich mir, dass ich es vielen, vielen Kollegen zutraue, dass sie so pflichtbe-wusst, ich sag jetzt mal, untersuchen können, dass sie 'ne klare Aussage treffen können, ob das für alle so die glückliche Lösung wäre, würd ich sagen, nein. Ich weiß nicht, ob ich mit 20 die Tragweite hätte erkennen können, dass ich jetzt sage, o.k., das trau ich mir durchaus zu. Ich fand es bisher nicht unangenehm, die Möglichkeit zu haben, was weiß ich, Ärzte oder andere Berufsgruppen zu fragen oder gewisse Richtungen vorgezeigt zu bekommen und dann aber zu sagen, o.k., das ist jetzt ganz klar dein Bereich, da kannst du weiter untersuchen. Mittlerweile denk ich mir, ich sag mal, auch mit dem Studium, sind wir natürlich noch keine Ärzte, das ist nach wie vor ganz klar. Und, in manchen Bereichen sag ich ganz klar, also ich möchte da irgendwie nicht die Verantwortung für übernehmen und ich möchte eigentlich auch die klare Diagnose nicht stellen müssen.“ (Berufserfah-rene)

Begründung 3: Handlungsautonomie ist letztlich deswegen nicht vordergründig, weil die PhysiotherapeutInnen bereits im Arbeitsleben autonom genug sind.

Text: E\S, Position: 246 – 246, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Auf der andern Seite muss ich sagen, hab ich in der Behandlung selber auch im Klinikverbund da nie irgendwelche Bevormundungen oder so was erlebt, also da hab ich mich schon autonom gefühlt in allem, was ich entschieden habe oder konnte letztendlich machen, was ich wollte. Von daher stellt sich jetzt die Frage innerhalb der Therapie oder innerhalb 'ner Klinik nicht.“ (Berufserfahrene)

Begründung 4: PhysiotherapeutInnen zum jetzigen Zeitpunkt Handlungsautonomie zuzu-sprechen, wäre verfrüht, weil die wissenschaftliche Untermauerung physiotherapeutischen Wissens noch nicht genügend fortgeschritten ist.

Text: E\S, Position: 247 – 259, Code: Professionalisierung\ Handlungsautonomie

„Ich denke an, ja, an Empirie letztendlich, oder an EBM, einfach an Nachweise, dass wir wirklich auch belegen können, so, und wir sind wer und die Behandlung nützt aus den und den Gründen und es ist wissenschaftlich nachgewiesen. Das hängt jetzt auch zusammen, ich denk, Unabhängig-keit, wenn man jetzt einfach schreit, wir wollen unabhängig werden, ich denke, es wird ohnehin ein harter Kampf und dann muss man schon ein bisschen was im Rücken haben.“ (Berufserfahrene)

Text: B\E, Position: 150 – 152, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Wir müssen jetzt quasi erst mal von diesem Turnmaus-Klischee wegkommen, wir müssen jetzt erst mal zeigen, o.k., wir werden akademisiert, zum Beispiel, wir lernen empirisch zu arbeiten, wir kön-nen begründen und belegen, was wir machen, und dann, wenn wir diesen, auch diesen Wissenspool

haben, und über den Tellerrand raus gucken, dann könnt ihr uns eigentlich auch mal zugestehen, dass wir in der Lage sind, Diagnosen richtig selber zu stellen. Ich finde das ja jetzt übertrieben, zu sagen, so wir wollen jetzt von heute auf morgen diese Handlungsautonomie, es würde in die Hose gehen, knallhart, weil ich denke, dass sich auch ganz viele davon einfach überfordert fühlen würden.“

(Novizin)

Begründung 5: Handlungsautonomie bzw. das komplette Lossagen von den Ärzten wird insgesamt für nicht erstrebenswert erachtet, da es eine unnötige Abgrenzung der Berufe ge-geneinander bedeuten würde. Die TherapeutInnen, die dieses Begründungsmuster angeben, schätzen ihre eigenen Handlungskompetenzen ein und erkennen die Limitierung ihrer Zu-ständigkeiten. Sie fokussieren sehr stark auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und Ergänzung der Wissensbestände zum Wohl der KlientIn.

Text: E\U, Position: 85 – 85, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Was ich mir gut vorstellen könnte, ist, eben da 'ne enge Zusammenarbeit zu schaffen, dass der Arzt eben, beispielsweise, wirklich wenig investiert und sagt, das können wir gleich weitergeben, und dass ich wiederum sage, an der und der Stelle ist mir das zu heikel, ich möchte gerne, dass der (Pati-ent) noch mal 'nem Arzt vorgestellt wird, also das ist schon noch mal so 'ne, wie ein Filter ist, aber auch in Form 'ner engen Zusammenarbeit. Also ich würd mich nicht gerne völlig unabhängig ma-chen, ich denk auch im Hinblick auf Vernetzung und integrierter Versorgung ist ein völliges Un-abhängigmachen vielleicht gar nicht unbedingt anzustreben, ich denke aber trotzdem, dass der weitere Weg sich schon sehr in Richtung unabhängige Leistungen entwickeln wird aber dieses völlige Lossa-gung von ärztlicher Verordnung halt ich nicht für gut oder erstrebenswert.“ (Berufserfahrene)

Text: A\B, Position: 156 – 156, Code: Professionalisierung\Handlungsautonomie

„Aber warum muss es diese, auf dem Papier diese Handlungsautonomie sein, wenn's 'ne Teamar-beit sein könnte. Ist zwar vielleicht was Gutes und ich kann viel tun, aber schwarze Schafe gibt's dann immer und dann gerät das Berufsbild auch wieder in die Kritik und, es wär doch eigentlich da viel besser, wenn's 'ne Handlungsautonomie in soweit wär, dass man mit mehreren Fachkräften zu-sammen arbeitet und zum Ziel findet und nicht jetzt alleine davor steht, sondern wirklich Arzt, was weiß ich, Logopäde, Physiotherapeut zusammen dann das Ziel entwerfen.“ (Novizin)

Auffällig häufig wird von den Studierenden bei ihren Begründungen auf die pauschale Ein-schätzung ihrer eigenen Berufsgruppe verwiesen, der sie die Übernahme von Verantwortung nicht so recht zutraut. Sie halten den überwiegenden Teil der BerufskollegInnen für nicht kompetent genug, die Verantwortung auch der Diagnosestellung übernehmen zu wollen bzw.

können, da die wissenschaftliche Untermauerung physiotherapeutischen Wissens noch nicht ausreichend vorhanden ist. Das Studium bedeutet jedoch einen wesentlichen Schritt in Rich-tung autonomer Handlungspraxis. Das zweite große Thema, welches die Studierenden an-sprechen, ist der Wunsch nach einer gelingenden interdisziplinären Zusammenarbeit. Inter-disziplinarität wird verstanden als das Zusammenwirken der unterschiedlichsten medizini-schen Fachbereiche zum Wohle der KlientIn, geknüpft an die Reflexionsfähigkeit der einzel-nen Berufsangehörigen.