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Ergebnisdiskussion zum 1. Strang: retrospektive Rekonstruktion des Berufes

5 TEIL V

5.1 Ergebnisdiskussion zum 1. Strang: retrospektive Rekonstruktion des Berufes

In diesem ersten Strang werden Ergebnisse zur Berufswahl, zur Bewertung der Ausbildung sowie zum Berufseinstieg diskutiert. In der Analyse hat sich eindrücklich gezeigt, dass die we-nigsten PhysiotherapeutInnen bei ihrer Berufswahl eine konkrete Vorstellung von dem zu erlernenden Beruf haben. Die Transparenz hinsichtlich nicht nur der zu lernenden Inhalte, sondern auch die Kenntnis möglicher Arbeitsfelder ist zunächst nur bedingt, wenn überhaupt bekannt, sondern diffus antizipiert. Beeindruckend ist jedoch, dass unabhängig von der Vor-information zu dem Beruf immer wieder die individuelle, charismatische, helfende, sportliche und insbesondere medizin- und bewegungsorientierte Komponente der PhysiotherapeutIn-nen betont wurde. Diese sind in einer einzigartigen Art und Weise mit der KlientIn über

„Hand-anlegen“ und Analyse der Psyche umzugehen in der Lage und beeindrucken entspre-chend die BerufsaspirantInnen. Es sind stark individuenbezogene Charakterzüge, die eine wesentliche Rolle spielen. Neben denjenigen PhysiotherapeutInnen, die dem Typus „Diffus“

(der generell mit einer sehr unkonkreten Vorstellung diesen Beruf ergreift) zugeordnet sind, sind auch die Typen „Helfen“ sowie „Sport“ nur mit Fragmenten der Tätigkeit vor der Auf-nahme der Ausbildung ver- bzw. betraut. Allein der Klang der Berufsbezeichnung ist zum Teil ausschlaggebend für die Berufswahl. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass der Beruf vor seiner Aufnahme nur rudimentär bekannt ist und kein homogenes identitätsstiftendes Bild e-xistiert, trotz allem jedoch der Beginn der Berufsausbildung mit einem durchaus als hoch zu bezeichnenden Enthusiasmus verzeichnet ist.

Beide die Außenaufsicht ergänzenden ExpertInnen berichten ebenfalls, dass sich ihre Be-rufswahlmotive vor Jahrzehnten sehr diffus dargestellt hatten bzw. kein Bild von Physiothe-rapie/Krankengymnastik vorhanden war und der Berufswunsch eher durch Dritte kreiert bzw. initiiert wurde. Im ersten Fall durch einen Arzt, bei dem eine andere medizinische Aus-bildung absolviert wurde und im zweiten Fall durch eine im Ausland lebende Schwester.

Auch diese beiden Fälle demonstrieren, dass erst der unmittelbare Kontakt zu einer „Kran-kenymnastIn“ (wie die Berufsbezeichnung bis 1994 lautete) überhaupt erst ein Berufsbild entstehen lässt und die „sportliche Komponente des Berufes“ und die Nähe zur Medizin wiederum als zentrale Auslöser in den Erzählungen erinnert werden. Dieses ist insofern inte-ressant, als dass sich der Beruf seit Jahrzehnten zwar insgesamt weiterentwickelt hat, sich aber nach wie vor seine konkreten Inhalte der Kenntnis der potentiell Interessierten entziehen bzw. sich die feststehenden, internalisierten Klischees nicht geändert haben.

Die Sozialisation in den Beruf als PhysiotherapeutIn beginnt dann mit der eigentlichen Aus-bildung, welche der einzelnen SchülerIn die Adaptation und Verinnerlichung von Normen, Werten, Regeln und Rollenzuschreibungen ihres zukünftigen Berufes ermöglicht. Im Ausbil-dungsprogramm erfährt für gewöhnlich die Identitätsbildung ihre Grundsteinlegung – zum einen über die interaktionelle Seite der Auseinandersetzung mit der entsprechenden peer group, aber auch maßgeblich über das sogenannte „role model“ der Lehrenden, an denen sich die SchülerInnen orientieren.

Offensichtlich erfahren die SchülerInnen dann aber während ihrer Ausbildung eine sehr deut-liche Ernüchterung, die sich auf das vorhandene Bild des zu erlernenden Berufs auswirkt, und unmittelbar mit den Schwierigkeiten in der Ausbildung verknüpft ist. Bereits an der Stelle der Auswertung der fachschulischen Ausbildung wird die Bedeutung der Lehrenden für die Aus-prägung einer selbstbewussten beruflichen Identität, die im Falle der Physiotherapie nur be-dingt oder gar nicht gelingt, durch die Aussagen der Studierenden deutlich. Wie ein roter Fa-den in Fa-den Äußerungen der StudierenFa-den zieht sich das Problem der Lehre in der Physiothe-rapie - und es betrifft sowohl die Ausbildung als auch zu einem etwas geringeren Maß das Studium - als der zentrale Schwachpunkt durch das Phänomen der Identitäts- und Selbstbe-wusstseinsbildung. Die Studierenden kritisieren deutlich die veralteten Wissensbestände in der Ausbildung, die veralteten Lehrmethoden sowie die mangelnde Selbstbewusstseins- und Identitätsbildung durch die Ausbildung. Ihre Begründungsmuster laufen auf die fehlende a-kademischen Ausbildung bzw. pädagogische Kompetenz der Lehrenden sowie die vorherr-schende Aufteilung in medizinische Fachgebiete hinaus.

Im Hinblick auf das Gelingen von Identitätsbildung sollten nicht nur Wissen, Kenntnisse und Fähigkeiten für die berufliche Alltagssituation vermittelt werden, sondern auch der berufs-ethische Umgang mit KlientInnen. Besonders die den „helfenden“ Berufen zugrunde liegen-den Intentionen des „Helfen Wollens“ und des mit „Menschen Arbeitens“ erfahren bereits in der Ausbildung eine relative Ernüchterung, denn die Studierenden stellen fest, dass sie ihren eigenen Ansprüchen, aber auch denen Dritter in der Realität nicht gerecht werden können.

Hier spielen insbesondere die „Nicht- Übereinstimmung“ der Realitäten zwischen Ausbil-dung und Berufsalltag eine wesentliche Rolle. Dieses erinnert an das bereits von Becker 1961 beschriebene Phänomen, als er die Desillusionierung der MedizinerInnen („Boys in white“) durch das Studium beschreibt. Auch die PhysiotherapeutInnen erfahren durch ihre Ausbil-dung eine deutliche Ernüchterung ihres anfänglich diffusen Enthusiasmus. Es scheint eine negative Kurve zu existieren, die sich insbesondere mit dem Eintritt in das Berufsleben einem ersten beruflichen Tiefpunkt zuneigt. Nicht nur die Ernüchterung, sondern auch eine latente Überforderung im Umgang mit der KlientIn charakterisieren den Eintritt in das Berufsleben und sind wiederum in der Korrelation mit einer nicht den Eintritt ins Arbeitsleben adäquat vorbereitenden Ausbildung zu begreifen. Die SchülerInnen durchleben das von Gildemeister 1983 beschriebenen „cooling out“, wobei Enttäuschungen und Verluste in Kauf genommen werden (müssen). Die den SchülerInnen vermittelte Fortbildungshysterie, der Habitus, durch die Ausbildung nicht nur eine ablehnende Haltung gegenüber den MedizinerInnen und der berufsständischen Vertretung zu entwickeln bzw. zu verinnerlichen, sondern auch das ab-grenzende Konkurrenzverhalten untereinander und gegenüber anderen Berufsgruppen, keine kollektive Perspektive zu entwickeln, sind wesentliche Resultate am Ende der Ausbildung.

Besonders häufig wird von den Studierenden betont, dass die Ausprägung einer Identität während der beruflichen Ausbildung nicht angebahnt wird und sich jede angehende Physio-therapeutIn ein „eigenes Bild von Physiotherapie“ machen muss. Die auch von den Studie-renden angesprochene Kritik an den fehlenden psychosozialen Inhalten der Ausbildung, die den Berufseinstieg zu einer Hürde werden lassen, den z. T. konkurrenziösen und militärisch anmutenden Führungsstilen sowie der Negativerfahrung durch die Ausbildung aufgrund des mangelnden pädagogisch-didaktischen Hintergrundwissens der Lehrenden durchziehen die Ausbildungssituation offensichtlich seit Jahrzehnten, wie auch das nachstehende Zitat einer der hinzugezogenen ExpertInnen bestätigt.

Text: Expert\ax- 1, Position: 21 – 21, Code: Bewert. Ausbildung

„Ich hab keine guten Erinnerungen an meine Ausbildung, ich hab gute Erinnerungen so an soziale Kontakte, [..] es war unsystematisch, undidaktisch und ein unglaublicher Drill, den ich da erlebt habe, die erste Zeit. Spaß gemacht haben mir dann nachher die Praktikumseinsätze und sicherlich waren einige Lehrkräfte nahbarer, aber ich hatte ganz große Schwierigkeit mit der Art der Schullei-terin, die eine große Dominanz da auch hatte an dieser Schule und ... [..] ich hab sehr viel, mit sehr viel Interesse gute medizinische Vorlesungen gehört. Das hat mich sehr geprägt, wir hatten gute ärzt-liche Dozenten, ....aber insgesamt hab ich drei Kreuze gemacht und bin froh, dass ich die zweijährige Ausbildung gemacht habe.“

Es wird deutlich, dass primär die persönlichen Beziehungen und menschlichen Umgangswei-sen die Beurteilung der Ausbildung prägen. In den weiteren Ausführungen auch der vorste-hend zitierten ExpertIn werden Opportunismus, Anpassung, Bloßstellung und das Phäno-men, fertig gemacht worden zu sein, angesprochen. Auch hier lassen sich Aussagen der heute Studierenden bestätigen, wenn sie von ähnlichen Erfahrungen in ihrer Ausbildung und sogar in ihrem Studium berichten. Beide ExpertInnen bestätigen die Aussagen der Studierenden, dass die Art und Weise der Lehre sowie das neben einander stehende, nicht vernetzte Wissen die Grundsteinlegung für die bedingte professionelle Entwicklung des Berufes bedeuten.

Text: Expert\ax-2c, Position: 46 – 46, Code: Bewert. Ausbildung

„Manchmal, wenn die Lehrer in der Laune waren, haben wir uns das gemeinsam gefragt, was wir eigentlich für'n Stuss unterrichten. .... Ja, weil wir erlebten, dass die Schüler, ja, die hatten so Käst-chen-Wissen.“

Mit dem Berufseintritt erfahren die PhysiotherapeutInnen, dass es nicht ihre fachlich-manuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, die sie in ihrem Berufsalltag überfordern, son-dern wie bereits erwähnt, ihre eigenen psychosozialen Kompetenzen im Umgang mit den KlientInnen allgemein. Es fehlt an Hintergrundwissen aus Psychologie, Pädagogik und Sozio-logie, um die hochkomplexen Reaktionen der KlientInnen einschätzen, aber auch ein mögli-ches Scheitern der therapeutischen Intervention verstehen zu können - auch ein sinnvolles

„Haushalten“ mit den eigenen Ressourcen, Abgrenzungsfähigkeiten gegenüber KlientInnen sowie Reflexionsvermögen entwickeln zu können, bleibt ihrer Meinung nach auf der Strecke.

Diese aufgezählten Parameter sind als Hauptgründe für den als problematisch zu bezeich-nenden Berufseinstieg zu betrachten. Diese durch die Ausbildung nur bedingt gereiften Kompetenzen können u. a. auch als Ursachen bei der Entwicklung der sog. Burnout-Symptomatik betrachtet werden, von denen einige der Studierenden berichten.

Die auch an anderer Stelle von den Studierenden aufgezeigten Aufteilungen in die medizini-schen Fachbereiche wie beispielsweise die Physiotherapie in der Orthopädie, Neurologie etc.

scheinen sich beim Eintritt in das Berufsleben zu manifestieren. Es ließ sich aufzeigen, dass grundsätzlich BerufsanfängerInnen in einer physiotherapeutischen Praxis ohne Spezifizierung die größten Hürden zu bewältigen haben, gefolgt von denjenigen, die in einer neurologisch ausgerichteten Institution ihre Berufskarriere beginnen. Am Zufriedensten mit dem Be-rufseintritt erscheinen diejenigen TherapeutInnen, die nach ihrer Ausbildung im Bereich der Orthopädie ihre Tätigkeit aufnehmen, da es sich hier um ein deutlich begrenztes Aufgaben-gebiet handelt, in dem sich die TherapeutInnen „regelgeleitet“- d. h. durch die Ausbildung mit klaren Überlegungen und Behandlungsleitfäden und dem sog. „Handwerkszeug“ versorgt - recht sicher fühlen. Hier gelingt es den Studierenden ausnahmslos, ihre eigene Verortung zu erkennen und zu begreifen. Dieses verweist eindrücklich auf die geschichtlichen Wurzeln der Physiotherapie.

Als bemerkenswerte Differenzierungsmöglichkeit in der Zufriedenheit mit dem Berufseintritt lassen sich diejenigen TherapeutInnen herausheben, die ihre Ausbildung in den alten Bundes-ländern vor 1994, also vor Einführung der gemeinsamen Ausbildungs- und Prüfungsverord-nung, absolvierten. Diese Ausbildung integrierte das sog. Anerkennungsjahr, in welchem die PhysiotherapeutInnen in einem mehr oder weniger geschützten Rahmen in die KlientInnen-arbeit einsteigen konnten - der sog. Praxisschock war auf ein geringes Maß reduziert. Die an-gebahnte Identität als PhysiotherapeutIn konnte so weiter reifen. Gerade mit diesem letzten Punkt im Zusammenhang stehend äußert sich eine der hinzugezogenen externen ExpertIn-nen wie folgt zu der Einführung der „neuen“ Ausbildungs- und Prüfungsverordnung von 1994:

Text: Expert\ax-2c, Position: 40 – 40, Code: Bewert. Ausbildung

„Wir haben nichts neu dazu gewonnen, wir haben ein drittes Ausbildungsjahr dazu gewonnen und haben die Praxisintegration, die das Praktikum früher bot, bei guten Praktikumsstellen, verloren.

Es ist die Frage, ob diese Art der neuen Ausbildung, mit dieser kleinkarierten Ausbildungsprü-fungsverordnung wirklich ein Gewinn war? Die alte APrO fand ich viel hilfreicher, weil jeder wuss-te, die ist so alt, dass man sich nicht mehr danach richten kann, auch die Aufsichtsbehörden wussten das. Es kam niemand auf die Idee, bei unseren Prüfungen den Maßstab der Ausbildungs- und Prü-fungsverordnung anzulegen, die war 30 Jahre alt, jetzt ist sie neu, und die Aufsichtsbehörden legen sie an, und das ist schrecklich, ne, denn das ist Fliegendreck, was da drinsteht.“

Es scheint so, als seien die existierenden Freiräume, die durch die alte Ausbildungs- und Prü-fungsverordnung gegeben waren, durch die neue Verordnung minimiert worden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass auch in der heutigen Zeit kein vereinen-des, identitätsstiftendes Bild der Physiotherapie existiert. Die durch die Ausbildung gegebe-nen Möglichkeiten der Formung/Prägung/Habitusentwicklung erfolgt in sehr unterschiedli-chem Maß, teilweise einseitig und unzureichend, so dass die Probleme beim Berufseinstieg vorprogrammiert sind.

5.2 Ergebnisdiskussion zum 2. Strang: Die Akademisierung und