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4 Personenfreizügigkeit in der erweiterten EU

4.4 Furcht vor Zuwanderung in die Sozialversicherungssysteme

4.4.1 Rechtlicher Rahmen

Die in den europäischen Gründungsverträgen verankerten Primärrechte – wie z.B. die genann-ten vier Grundfreiheigenann-ten – werden durch Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen (Se-kundärrechte) konkretisiert.463

462 Vgl. Hönekopp, 2000a, S. 120. Brücker et al., 2000, S. 2, machen eine andere Rechnung auf: „Wenn die Pro-Kopf-Einkommen der Beitrittskandidaten mit der gleichen Geschwindigkeit zu den durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der gegenwärtigen EU konvergieren wie diejenigen der jetzigen EU-Mitglieder wäh-rend der Nachkriegszeit, würde die Halbierung der gegenwärtigen Einkommensunterschiede mehr als 30 Jahre in Anspruch nehmen.“ Der Sachverständigenrat, 2003, S. 99, Ziffer 169, erwartet bei einer konstanten Konvergenzrate von 1,4 Prozent pro Jahr eine Halbierung des Einkommensunterschiedes in Kaufkraftstan-dards in rund 50 Jahren.

463 Vgl. für die folgenden Ausführungen zum Sekundärrecht Wiegard, 2001, S. 1f; vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000, S. 3ff; vgl. Europäische Kommission, 2002.

Verordnung Nr. 1408/71

Bereits im Jahr 1947 wurde auf der Pariser ‚Marshallplan-Konferenz’ über Arbeitskräfteaus-gleich und Freizügigkeit in Europa international verhandelt. In das Regelwerk der Montan-union wurde 1958 eine Verordnung aufgenommen, welche die soziale Sicherheit der Wander-arbeitnehmer betraf und aus der sich die Verordnung entwickelte. Von 1961 bis 1964 galt während einer Frist ein Inländerprimat, von 1964 bis 1968 durften Ausländer aus europäi-schen Mitgliedsländern nur von Beschäftigungsdiensten angebotene Stellen besetzen, seit

968 ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gesetzlich verankert.464

Der Verordnung Nr. 1408/71 kommt entscheidende Bedeutung zu, denn sie regelt die soziale ungen u.a. bei rankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Pflege und Arbeitsunfällen sowie Familienleistungen wie

die Verordnung anfangs nur für Arbeitnehmer, die über die

ts die gleichen Rech-te und PflichRech-ten wie für Angehörige dieses Staats vor. Gemäß dem Prinzip der Portabilität sollen mobilitätshemmende Effekte sozialer Sicherungen verhindert werden, d.h. die Gewäh-rung von Leistungen ist nicht an den Aufenthalt in einem bestimmten Land gebunden; in

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Sicherung von Wanderarbeitnehmern.465 Dies umfasst Anspruch auf Leist K

Kinder- und Erziehungsgeld. Galt

Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes verfügten, einschließlich Familienangehöriger und Hinterbliebener, so bezieht sie sich inzwischen auch auf Selbständige, Arbeitslose, Rentner, Studierende und deren Familienangehörige bzw. Hinterbliebene. Um von der Freizügigkeit Gebrauch machen zu können, müssen lediglich ein Krankenversicherungsschutz und ausrei-chend Existenzmittel nachgewiesen werden, um nicht für die Dauer des Aufenthalts Sozialhil-feleistungen zu Lasten des Aufnahmenlandes in Anspruch nehmen zu müssen. Aus diesem Grund gehört die Sozialhilfe nicht zum Leistungsspektrum der Verordnung Nr. 1408/71, d.h.

Sozialhilfe ist ausdrücklich ausgeschlossen.

Die Gewährung von Unterstützungen im Rahmen dieser Verordnung orientiert sich an fol-genden Gestaltungsprinzipien: Nach dem Beschäftigungslandprinzip unterliegen die betroffe-nen Persobetroffe-nen immer nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedslandes, i.d.R. des Beschäfti-gungslandes.466 Das Gleichbehandlungsgebot (Diskriminierungsverbot bzw. Prinzip der In-länderbehandlung) schreibt für EU-Bürger im Gebiet eines Mitgliedsstaa

464 Vgl. Dräger, 2001, S. 2; vgl. European Commission, 2001, S. 13f; vgl. Steinert, 1992, S. 388.

465 Vgl. für die Ausführungen zu der Verordnung Nr. 1408/71 Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministe-rium der Finanzen, 2000, S. 9-12, 27f, 35f, 53, 97f.

466 Aktuell gibt es zwei Ausnahmen: Bei den Werkvertragsarbeitnehmern richtet sich die Entlohnung nach dem Beschäftigungslandprinzip, ihre Sozialabgaben orientieren sich aber an den Vorschriften ihres Heimatlan-des, so dass Werkvertragsarbeitnehmer im Vergleich zu deutschen Arbeitskräften billiger sind; vgl. Bauer, Zimmermann, 1999, S. 7. Saisonarbeitnehmer unterliegen aufgrund der kurzen Beschäftigungsdauer nicht der Sozialversicherungspflicht; vgl. Bauer, 1998, S. 16.

gen Ausnahmefällen erfolgt die Leistung nur bei Aufenthalt im Lande der leistungsgewähren-den Institution, schließlich soll z.B. bei Arbeitslosigkeit der Arbeitnehmer der Arbeitsvermitt-lung zur Verfügung stehen.467 Grundsätzlich ist Sozialhilfe nicht portabel, und es existiert kein Anspruch auf ausländische Sozialhilfe. Demgegenüber werden in einzelnen Mitglieds-staaten erworbene Ansprüche und Versicherungszeiten zusammengerechnet.

Für Familienangehörige des ausländischen Arbeitnehmers spielt es dabei keine Rolle, in wel-chem Mitgliedsstaat sie wohnen, denn sie werden – unabhängig vom Wohnort – behandelt, als würden sie auf dem Gebiet des zuständigen Staats wohnen: „Die genannte Verordnung ezieht ausdrücklich die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in den Versicherungsschutz ilienangehörigen in einem anderen Mitgliedsstaat als dem

emeinschaft.470 Darin heißt es, dass ein Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland in

dsländern, die sich im Inland aufhal-b

auch für den Fall ein, dass die Fam Beschäftigungsstaat wohnen.“468

Im Übrigen wurde die Verordnung ab Juni 2003 auf Drittstaatsangehörige ausgeweitet. Vor-aussetzung dafür ist, dass sie zum Zeitpunkt der Wanderung über einen rechtmäßigen Wohn-sitz auf dem Gebiet eines Mitgliedsstaates verfügen.469

Verordnung Nr. 1612/68

Außerdem gibt es die Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in-nerhalb der G

einem anderen Mitgliedsland die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie ein inländischer Beschäftigter genießt. Die soziale Sicherung enthält also auch weitere finanzielle und reale Leistungen, die Inländern wegen objektiver Arbeitnehmereigenschaft oder wegen ihres Wohnortes gewährt werden und EU-Bürgern die Mobilität erleichtern sollen. Sie sind nicht portabel und gelten für Staatsbürger aus EU-Mitglie

ten. Dazu gehören z.B. Wohngeld, Zugang zu Sozialwohnungen sowie Kindergärten und So-zialhilfe. Gerade der zuletzt genannte Punkt ist Gegenstand vieler Auseinandersetzungen, da er der Verordnung Nr. 1407/81 widerspricht. Der Europäische Gerichtshof hat zu der „... Fra-ge, ob sich aus dem Aufenthaltsrecht auch Ansprüche auf soziale Unterstützung bei Aufent-halt in einem fremden Mitgliedsstaat ableiten lassen“ noch kein Urteil gesprochen, er tendiert aber dazu, diesen Aspekt eher nach der Verordnung Nr. 1408/71 zu regeln.471

467 Allerdings darf sich ein Arbeitsloser unter bestimmten Voraussetzungen für die Dauer von drei Monaten zur Beschäftigungssuche in ein anderes Mitgliedsland begeben, ohne seinen Anspruch zu verlieren; vgl.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000, S. 29f.

468 Sodan, 2001, S. 37.

469 Artikel 1 und 2 Verordnung (EG) Nr. 859/2003.

470 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000, S. 13f.

471 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000, S. 7 und 14; vgl. Dräger, 2001, S. 3.

Freizügigkeitsrichtlinie Nr. 2004/38/EG

Die im Mai 2004 in Kraft getretene neue europäische Freizügigkeitsrichtlinie soll die große Anzahl der seit 1968 in diesem Zusammenhang verabschiedeten Regelungen vereinheitlichen und den freien Personenverkehr innerhalb der EU erleichtern. Außerdem werden die Rege-lungen für die Freizügigkeit nichterwerbstätiger Personen modifiziert. Es gilt nun, dass jeder Unionsbürger ab einem Aufenthalt von mindestens fünf Jahren unbefristet wohnen bleiben kann und er „... dann den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen wie Einheimische“ er-wirbt.472 Gegenüber Verordnungen, die allgemeine Geltung haben und in allen Teilen ver-bindlich sind, enthalten Richtlinien allgemeine Vorgaben, bei denen nur das zu erreichende Ziel verbindlich ist und deren genaue Umsetzung im Einzelnen jedem Mitgliedsland überlas-sen bleibt.473

Aus diesen rechtlichen Bestimm Szenario: Aufgrund des freien ersonenverkehrs können sich EU-Bürger grundsätzlich in jedem Mitgliedsland niederlassen

Bei Verlust des

und dort einer Arbeit nachgehen. EU-Ausländer in Deutschland mit einer sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung haben Anspruch auf die selben beitragsfinanzierten Sozial-leistungen und steuerlichen bzw. sozialen Vergünstigungen wie deutsche Arbeitskräfte. Dazu gehören auch die Leistungen für beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige und der An-spruch auf Kinder- sowie Erziehungsgeld, selbst wenn nur einer der beiden Ehepartner in Deutschland beschäftigt ist und der andere im Heimatland zurückbleibt.474

Arbeitsplatzes erhalten sie Unterstützungen aus der Arbeitslosenversicherung475 oder gegebe-nenfalls Sozialhilfe. Doch reine Zuwanderung, um Sozialhilfe zu beziehen, ist für eine Frist von fünf Jahren ausgeschlossen. Darüber hinaus ist es Sozialhilfeempfänger

Mitgliedsstaaten nicht möglich, ihren heimischen Anspruch auf andere Mitgliedsstaaten zu übertragen, denn sie verlieren diesen bei Migration. Arbeitslose dürfen sich nicht für längere Zeit in anderen EU-Län

472 Sachverständigenrat, 2004b, S. 128, Ziffer 186; vgl. dort auch S. 127f.

S. 9.

a u eines in Deutschland zuvor

beschäftigten, dann arbeitslos gemeldeten Arbeitnehmers Erziehungsgeld für zwei Kinder in einer Gesamt-summe von 14.725 Euro erhalten würde: „Allein dieser Betrag dürfte in Polen ein Vermögen darstellen.“

lichen Krankenversicherung. Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet für die Bezieher von Arbeitslosen-geld die zuständige Landesversicherungsanstalt und für Bezieher von Arbeitslosenhilfe die Bundesanstalt für Arbeit. Rentenansprüche kann ein in den Ruhestand eintretender Arbeitnehmer gegenüber den jeweili-gen nationalen Rentenversicherungsträgern geltend machen; vgl. Sodan, 2001, S. 39-43.

473 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000,

474 Sod n, 2001, S. 46, zeigt an einem Beispiel, dass die in Polen lebende Ehefra

475 Für die Dauer der Gewährung von Arbeitslosengeld werden zusätzlich Versicherungszeiten im Herkunfts-land berücksichtigt. Die Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. -hilfe bemisst sich nach dem zuletzt erhaltenen Bruttoentgelt. Während der Arbeitslosigkeit übernimmt die Bundesanstalt für Arbeit die Beiträge zur