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Lösungsansätze und theoretische Überlegungen

4 Personenfreizügigkeit in der erweiterten EU

4.4 Furcht vor Zuwanderung in die Sozialversicherungssysteme

4.4.3 Lösungsansätze und theoretische Überlegungen

Die Ausführungen verdeutlichen, dass produktivitätsgeleitete Migration positiv ist, während Migration aus Gründen der Umverteilung möglichst vermieden werden sollte. Doch es gibt Befürchtungen, dass es im Anschluss an die EU-Osterweiterung zu genau dieser Form von Migration kommen wird. Das Zitat des rumänischen Staatspräsidenten Ion Iliescu sowie die Besorgnis des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen in der Ein-leitung verdeutlichen diesen Sachverhalt aus beiden Blickrichtungen. Deshalb wurde zum Schutz der nationalen Arbeitsmärkte ein Kompromiss ausgehandelt, dem zufolge die Perso-nenfreizügigkeit bis zu sieben Jahre ausgesetzt werden kann. Aber auch dadurch wird das Problem nicht aus der Welt geschafft, sondern aufgrund des großen Einkommensdifferenzials ist davon auszugehen, dass es lediglich um sieben Jahre verschoben wird. So urteilte die Deutsche Bundesbank in einem ihrer Monatsberichte: „Nach Ablauf der Übergangsfristen ist deshalb eine stärkere Belastung der deutschen Sozialhilfeträger nicht auszuschließen.“481 Es muss deshalb gefragt werden, welche Ansätze zur Lösung dieser Problematik existieren.

Prinzip der verzögerten Integration

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen erarbeitete in einem Gutachten einen konkreten Vorschlag.482

480 Vgl. Böhmer, 2001, S. 35.

481 Deutsche Bundesbank, 2004, S. 21.

482 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, 2000, S. 79-96.

Der Vorschlag lässt die national unterschiedlich gestalteten sozialen Sicherungs- sowie Steu-ersysteme und auch deren jeweiligen Prozentsatz bzw. Leistungsumfang unberührt; er soll vielmehr das Beschäftigungslandprinzip ersetzen. Denn er koppelt die individuelle soziale icherung an den Wohnort, wobei bei grenzüberschreitender Migration der Wechsel zu dem er erst nach einer zeitlichen Verzögerung erfolgt. Das bedeutet,

eiträge und der zu ge-ration und e

Integration“ bzw. „Integrationsprinzip mit Karenzzeit“.

soziale Unterstützungszahlungen keine falschen Anreize mehr für Migration gibt. Außerdem

mt werden könnte. Für die Dauer der

Ka-renzz

kräf-te ein

kon-sisten

er-folgen

lungsgeleitete Migration: Die westeuropäischen Sozialversicherungssysteme mit ihren ver-gleichsweise umfangreichen Leistungen wirken als Magneten für Personen aus Mittel- und

S

neuen sozialrechtlichen Träg

dass Zuwanderer in allen sozialrechtlichen Belangen für einen bestimmten Zeitraum – als Beispiel werden fünf Jahre genannt – nach der Migration weiterhin nach den Bestimmungen ihres Herkunftslandes behandelt werden, inklusive der zu zahlenden B

währenden Leistungen. Aufgrund der zeitlichen Verschiebung zwischen Mig

W chsel der sozialrechtlichen Trägerschaft spricht der Beirat vom „Prinzip der verzögerten Die Vorteile des Vorschlags bestehen darin, dass es im Hinblick auf soziale Sicherheit bzw.

werden alle Unionsbürger gleich behandelt, d.h. es gibt keine Einschränkungen des Rechts auf Personenfreizügigkeit bzw. auf Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedsland. Insbesondere für Sozialhilfeempfänger wäre dies eine Verbesserung.

Als Nachteil ist anzuführen, dass der administrative Aufwand bei der Erhebung der Sozialbei-träge zunehmen würde. Zunächst müssten bei Gehaltszahlungen die jeweils inländischen So-zialbeiträge einbehalten und an das Heimatland abgeführt werden, bis in einer individuellen Veranlagung die endgültige Abgabenhöhe bestim

eit würde dies die Bürokratie vermehren. Außerdem würde für ausländische Arbeits Lohnkostenvorteil aufgrund geringerer Sozialbeiträge entstehen. Um steuerliche In zen zu vermeiden, müsste die Einkommensbesteuerung nach dem gleichen Prinzip

.

Vorschläge von Sinn

Sinn ist in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der einzige Analyst, der wiederholt vor einem großen Zustrom von Bürgern aus den neuen EU-Mitgliedsländern warnt (z.B. Sinn 2000, 2004a, 2004b). Dabei geht es ihm nicht um Auswirkungen der Migration an sich: „Pre-venting free migration … means not enjoying the welfare gains that such migration, in princi-ple, can be expected to bring about.”483 Sinn erwartet bzw. befürchtet vielmehr

umvertei-483 Sinn, 2000, S. 10; vgl. für die weiteren Ausführungen dort S. 6-13.

Osteuropa, die ihre Personenfreizügigkeit ausnutzen werden, um in den Genuss dieser Leis-tungen zu kommen; insbesondere geringqualifizierte Arbeitskräfte dürften sich angezogen fühlen. Es droht bei diesem Szenario ein Rennen um die geringsten Sozialleistungsstandards, zumindest für Geringverdiener. Dies stellt teilweise eine Demontage der Sozialversicherun-gen nach aktueller Gestaltung dar.

Als Ausweg lehnt Sinn Vorschläge ab, denen zufolge die Freizügigkeit vorübergehend einge-schränkt werden soll. Dies käme der Errichtung einer rechtlichen Mauer anstelle der vor Jah-n abgerisseJah-neJah-n physischeJah-n Mauer gleich. EbeJah-nso verJah-neiJah-nt er AJah-nsätze, die auf eiJah-ne HarmoJah-ni-

Harmoni-ozialleistungsniveau eines anderen

re

sierung der europäischen Sozialversicherungssysteme abzielen.

Als zwei Lösungsmöglichkeiten nennt er die selektive Auswahl der Zuwanderer und die An-wendung des Heimatlandprinzips. Während der erste Vorschlag bedenkliche Fragen aufwirft, stellt der zweite einen guten Ansatz dar. Auch wenn Länder wie Kanada, Australien oder Neuseeland mit einem Punktesystem die potenziellen Zuwanderer bewerten und aussuchen, so steht doch der Vorwurf im Raum, dass nur Migranten einwandern dürfen, die dem Auf-nahmenland „gut genug“ erscheinen. Eine derartige Regelung innerhalb der EU ist aber nicht umsetzbar. Sie verletzt das elementare Recht auf freien Personenverkehr, widerspricht den Bestimmungen des Maastrichter Vertrages (Stichwort: Unionsbürgerschaft) und würde die EU-Bürger in Mitglieder erster und zweiter Klasse aufteilen.

Für das Heimatlandprinzip gibt es zwei denkbare Varianten: Entweder sollen Ansprüche auf Sozialzahlungen nur gegenüber dem Heimatland geltend gemacht werden oder etwaige Zah-lungen richten sich nach der Höhe, wie sie im Heimatland des Zuwanderers gezahlt werden würden. Migrationsanreize würden nicht mehr vom S

des ausgehen und die jeweiligen nationalen sozialen Versicherungssysteme könnten uneinge-schränkt bestehen bleiben. Nach einer gewissen Anpassungszeit – Sinn nennt eine Generation – kann dann wieder zum Wohnsitzprinzip zurückgekehrt werden. Allerdings verstößt das Heimatlandprinzip gegen geltendes EU-Recht.

Bedeutung von Netzwerkeffekten

Für Thum (2000) ist die genaue Größenordnung jährlicher Zuwanderungsströme nach Deutschland nicht entscheidend. Er vertritt die Ansicht, dass die Auswirkungen von Netzwer-ken stärker berücksichtigt werden müssen, denn sie bestimmen die Höhe zukünftiger Zuwan-derungen.484

484 Vgl. Thum, 2000, S. 1-14.

Dazu konstruiert er ein Zwei-Perioden-Modell, in dem annahmegemäß alle Migranten auf-grund niedrigerer Schulausbildung oder mangelnder Übertragbarkeit ihres Humankapitals als geringqualifizierte Arbeiter staatliche Sozialleistungen beziehen. Wenn sich Personen erst mal entschlossen haben auszuwandern, wird die Auswahl des Zuwanderungslandes wesentlich durch die unterschiedliche Höhe der Sozialleistungen beeinflusst, woraus sich dann in Periode eins der Zustrom von Zuwanderern ergibt – also umverteilungsgeleitete Migration. Doch je mehr Migranten in dieser Periode kommen, desto größer wird in der Folgeperiode die Höhe der Zuwanderung aufgrund des Netzwerkeffektes sein. Um die Migration in Periode zwei zu reduzieren, muss in Periode eins die Zuwanderung gesenkt werden. Deshalb senkt das

Auf-ahmeland schon in Periode eins sein Sozialleistungsniveau, um die Zuwanderer in andere

ill end up with lower transfer levels in the first period but still receive the same number of migrants as without a reduction of the social transfers.”485 Infolge der hohen Zahl der

Zu-arkeit das Leistungsniveau der ozialleistungen weiter gesenkt werden.

zteres die Migration in die ukunft, lediglich der Druck auf das Sozialversicherungssystem in Periode eins geht zurück.

ie ceteris paribus daraus resultierenden Veränderungen auf das Sozialleistungsniveau sind vom Vorzeichen her unklar.

heoretische Überlegungen

umfangreiche Sozialleistungen in einem möglichen Zuwanderungsland als Auswahlkrite-.

n

Zielländer umzulenken. Diese agieren in gleicher Art und Weise; es beginnt ein Race-to-the-botton, wodurch das Problem nicht gelöst wird: „In equilibrium, this cannot work. Both coun-tries w

wanderer in Periode zwei muss aus Gründen der Finanzierb S

Als Auswege aus diesem Szenario gibt Thum zwei Lösungsvorschläge ab. Neben einer euro-paweiten Harmonisierung nennt er die befristete Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügig-keit. Während ersteres nicht durchsetzbar sein dürfte, verschiebt let

Z D

T

Eine Analyse von Bauer (2002) hilft bei der Einschätzung der geschilderten Problematik wei-ter.486 Denn er geht der Frage nach, ob bzw. wie ein großzügiges soziales Sicherungssystem die Migrationsentscheidung beeinflussen kann. Er nennt drei Aspekte:

• Wanderungsentschluss ausschließlich wegen des Sozialversicherungssystems,

• Aufschieben oder Verwerfen der Remigration aufgrund des sozialen Sicherungssystems und

rium

485 Thum, 2000, S. 11.

486 Vgl. Bauer, 2002, S. 2-9.

Über den ersten Aspekt bemerkt Bauer, dass er empirisch nur schwer zu überprüfen sei, wo-bei allerdings von ihm keine bedeutsamen Effekte ausgehen dürften: „Gemessen in Kauf-kraftparitäten erhielt beispielsweise im Jahr 1997 eine Familie mit zwei Kindern in Dänemark nahezu die doppelte Sozialhilfe wie eine Familie in Spanien ... .“487 Doch von einem massen-haften Umzug spanischer Familien nach Dänemark kann nicht die Rede sein. Ähnlich argu-mentiert Poschner (1996). Er führt aus, dass es für ein rentenmaximierendes Individuum nicht lohnenswert ist, nach Deutschland zu kommen:

„Legt man als Basis für einen optimalen Wanderungspfad die Rentensysteme aller EG-Staaten zugrunde, ist es für ein solches Wirtscha

Jahr in Großbritannien zu arbeiten, dann für drei

ftssubjekt optimal, zuerst ein Jahre nach Irland zu wechseln

alleistungen als

oretischen Überlegungen vor unterschiedlichen Sozialleistungen nd kommt zu folgendem Zwischenresümee: „Da komparative Vorteile und technologische opas nur geringfügig differieren, werden alle Länder in eine

und schließlich den Rest seines Erwerbslebens in Luxemburg zu verbringen. Auf diese Weise werden die maximalen Rentenanwartschaften bis zum 65. Lebensjahr angesammelt. ... Allerdings dürften diese Überlegungen allein kaum ein Indivi-duum zu einer Migration veranlassen. Bisherige Erfahrungen bestätigen dies auch.“488

Untersuchungen über die beiden anderen Aspekte lieferten keine eindeutigen Ergebnisse. Für den Fall der Sozialleistungen als Auswahlkriterium findet theoretisch gemäß dem Roy-Modell negative Selbst-Selektion statt, d.h. dass „.... sich Migranten mit einer hohen Wahrscheinlich-keit des Transferbezuges in den Ländern mit den höchsten Sozialstandards konzentrieren werden.“489 Empirische Analysen für die Vereinigten Staaten von Amerika zeigen jedoch, dass Wanderungsströme zwischen einzelnen Bundesstaaten nicht oder nur kaum auf die un-terschiedlichen Sozialhilfeniveaus zurückzuführen sind. Bei einer Übertragung der Ergebnisse aus den Vereinigten Staaten von Amerika auf die EU sind diese als Obergrenze interpretier-bar, da innerhalb der EU rechtliche Restriktionen für sozial begründete Wanderungen existie-ren und ein Wanderungsvorgang mit höheexistie-ren Migrationskosten verbunden ist – vor allem wegen der unterschiedlichen Sprachen. Dann dürfte der Einfluss von Sozi

Auswahlkriterium vernachlässigbar sein.

Krueger (2002) warnt aus the u

Kompetenzen innerhalb Eur

wärtsspirale’ geraten, die zu einheitlich niedrigen Arbeitsmarktstandards führt.“490 Doch für ihn sprechen drei Gründe gegen eine derartige Entwicklung, er hält es sogar für möglich, dass

487 Bauer, 2002, S. 5.

488 Poschner, 1996, S. 159f.

489 Bauer, 2002, S. 4. Vgl. für das Roy-Modell Abschnitt 2.1.3.

490 Krueger, 2002, S. 11; vgl. für die folgende Ausführungen dort S. 11f, 17, 23-26.

der Umfang der Sozialleistungen zunehmen könnte. Erstens erhöhen einige Elemente der So-zialversicherung die ökonomische Effizienz; als Beispiel nennt er die Arbeitslosenversiche-rung, die auf privaten Märkten versage (adverse Selektion, asymmetrische Informationen), ähnliches gelte für gesetzliche Krankenversicherungen. Zweitens machen die Europäer mit ihren nationalen Identitäten von ihrem Recht auf Freizügigkeit nur in geringfügigem Maß Gebrauch – trotz Abschaffung innereuropäischer Mobilitätshemmnisse. Und drittens ist das Leistungsniveau der Sozialversicherungen ein Spiegelbild der politischen Realitäten; denn wenn die Arbeitskräfte für umfangreichere Leistungen votieren, dann werden sie diese auch

ize ausgehen dürften. Denn dann

inem EU-Bürger bei Bedürftigkeit nach Jahren legaler Beschäftigung im Inland

So-lungsgeleiteter Migration in die alten EU-Mitgliedsländer bzw. nach Deutschland überschätzt wird.

erhalten und dafür geringere Löhne in Kauf nehmen.

Außerdem weist Krueger darauf hin, dass es selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahrzehnten nicht nur Lohndifferenziale für eine identische Beschäftigung zwischen Re-gionen, Branchen und unterschiedlich großen Unternehmen, sondern auch 50 unabhängige Unfallversicherungen gebe; denn jeder U.S.-amerikanische Bundesstaat legt autonom die Hö-he des Schadensersatzes als auch die Art der Finanzierung der UnfallversicHö-herung fest, ohne dass in der Vergangenheit die Gefahr einer Abwärtsspirale bestand. So kommt Krueger zu der Feststellung: „Die Entwicklung in den USA zeigt zudem, dass selbst die dort herrschende hohe Mobilität nur sehr langsam zu einer Konvergenz regionaler Einkommensniveaus führt ...

und sich kein empirischer Zusammenhang zwischen Wanderungsraten und regionalen Sozial-leistungsniveaus ableiten lässt ... .“491

Im Hinblick auf die neue Freizügigkeitsrichtlinie, nach der EU-Bürger bei mindestens fünf Jahren Aufenthalt in einem Mitgliedsland Anspruch auf Sozialhilfe erwerben, bemerkt der Sachverständigenrat (2004b), dass davon wohl kaum Anre

müsste ein potenzieller Zuwanderer nach der Strategie verfahren, „... sich für einen Zeitraum von fünf Jahren im Zielland ‚durchzuschlagen’, um anschließend unbefristet Sozialhilfe zu beziehen. Diese Überlegungen stünden in deutlichem Widerspruch zu den theoretischen und empirischen Erkenntnissen der Migrationsliteratur.“492 Demgegenüber ist es ein konsequenter Schritt, e

zialhilfe zu zahlen.

Gemäß diesen theoretischen Überlegungen liegt der Schluss nahe, dass die Gefahr

umvertei-491 Krueger, 2002, S. 17.

492 Sachverständigenrat, 2004b, S. 128, Ziffer 186.