• Keine Ergebnisse gefunden

Rahmenbedingungen und persönlicher Kontakt zu den Schwestern

3. Teil: Weg nach Indien

4.1. Rahmenbedingungen und persönlicher Kontakt zu den Schwestern

Gelübden genannt worden, die auch alle zu einer Befragung bereit waren. Zum Zeitpunkt der Ankunft in Indien hatte sich die Zahl allerdings auf acht erhöht, da inzwischen noch zwei weitere Inderinnen ihre ewigen Gelübde gefeiert hatten. Um einen kleinen Vorsprung und Eindruck bezüglich der Kenntnis ihrer Persönlichkeit zu gewinnen, hatte ich viele Ausgaben der Berichte Coming together456 durchforstet, um darin Artikel zu finden, die von den mir ursprünglich genannten sechs Schwestern schon vor längerer Zeit verfasst worden waren. Diese durchwegs kurzen Texte hatte ich mehrmals gelesen, eine Auswahl davon kopiert und mitgebracht, um meine Interviewpartnerinnen damit während des Gesprächs an geeigneter Stelle zu konfrontieren. Es stand auch meine Absicht dahinter, echtes persönliches Interesse an den Schwestern zu signalisieren. Tatsächlich trug das vor Jahren Geschriebene zu vertrauter, positiver Atmosphäre bei.

Die Interviewpartnerinnen waren im Jahr 2016 zwischen 29 und 39 Jahren alt. Die Ablegung ihrer ewigen Gelübde lag acht Jahre bis wenige Monate zurück.

Wir vereinbarten Tag, Ort und Uhrzeit für die Gespräche. Die Interviews hatten für die Schwestern hohen Stellenwert: Sie kamen verlässlich, überpünktlich und hübsch gemacht in ihren adretten, bunten Churidars.457 Manche wirkten ganz gelassen, andere angespannt bis gestresst.458

456 Coming together ist ein Bericht in englischer Sprache, der der Kommunikation unter den Schwestern dient. Ursprünglich hieß das selbst gestaltete Heftchen auxind – eine Wortschöpfung aus auxiliatrices und Indien – und wurde nur in Indien für Indien einmal pro Jahr verfasst. Inzwischen wird der Bericht zweimal pro Jahr geschrieben, geht auch an das Groupement China/Indien, an die Provinzoberinnen anderer Provinzen und an Familienangehörige. In Coming together können Novizinnen und Schwestern frei Themen wählen und über etwas schreiben, das sie erlebten oder was sie gerade beschäftigt. Auf Sr Gouri wirkte diese Möglichkeit einen Artikel zu verfassen als Wertschätzung und Chance: „Die Helferinnen gaben mir da ein großes Forum“, I6, Gouri, Z142, S69.

457Churidars, die traditionelle indische Kleidung aus Baumwolle oder Seide, werden von Frauen und Männern getragen. Über eine weite oder anliegende Hose zieht man eine Tunika an. Frauen nehmen häufig zusätzlich ein farblich passendes Tuch, das vorne gefaltet wird und dessen Enden lose über beide Schultern gelegt werden. Ich selbst erfuhr das Wohltuende dieser Kleidung bei meinem Aufenthalt in der Regenzeit und bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und Hitze am eigenen Leib, vgl. TGB HF, 14.07.2016, S174.

458 Vgl. Einleitung der Interviews I7, Luisa, S73 und I6, Gouri, S64 und I5, Nimanti, S 53.

106

Charakterlich war keine der acht Schwestern einer anderen auch nur ähnlich, doch die Offenheit der Gesichtszüge war allen gemeinsam. Sr Luisa459 saß beim Interview völlig ruhig und entspannt, sanft und stillvergnügt lächelnd, obwohl bei ihr der Hintergrundlärm der Straßen von Kolkata am aufdringlichsten war.460 Sr Sangeeta461 zeigte im Gespräch die größte Bandbreite an vergnügtem oder belustigtem Lachen bis hin zur großen Nachdenklichkeit, vor allem bei spirituellen Aussagen.462 Sr Sushmita463, die jüngste der befragten Schwestern, sprach mit leiser Stimme und wählte ihre Worte stets mit Bedacht.464 Dazu zeigte das Temperament von Sr Babita465 einen starken Kontrast: Wenn sie lachte, schallte es im ganzen Raum. Wenn sie sprach, unterstrich sie das Gesagte oft mit ihren Händen. Aus ihrem Mund kam häufig ein bekräftigendes doppeltes bis dreifaches Jajaja.466 Sr Marsas467 Interview war das einzige, das im Freien, vor dem Haus in Bolpur sitzend, stattfand. Sie saß dort in mütterlicher Gelassenheit und antwortete seelenruhig auf die gestellten Fragen.468 Sr Gouri469 und Sr Nimanti470 waren die einzigen Schwestern, die es verbalisierten, dass das Interview Nervosität in ihnen auslöse. Beide schienen sich ein bisschen wie bei einer Prüfung zu fühlen.471 Sr Nimanti fixierte beim Antworten immer wieder ein fernes Ziel. Sr Gouri wiederum sprach sehr hastig, mit vielen Wortwiederholungen und sorgenvollem Blick.472 Sr Lucy473, die einzige Schwester mit körperlichem Handicap, strahlte beim Sprechen pure Lebensfreude und Selbstbewusstsein aus. Sie schien die Möglichkeit zu genießen, Episoden aus ihrem

459 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 23.

460 Vgl. Anm. HF, I7, Luisa, Z221f, S80.

461 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 19.

462 Vgl. Anm. HF, I2, Sangeeta, S31-36.

463 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 25.

464 Vgl. Anm. HF, I4, Sushmita, Z196, S51.

465 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 18.

466 Vgl. I1, Babita, Z30-64, S4f.

467 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 24.

468 Vgl. Einleitung I8, Marsa, S88.

469 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 22.

470 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 21.Gouri

471 Vgl. Einleitung I5, Nimanti, S53.

472 Vgl. Einleitung I6, Gouri, S3 und Z3-11, S64.

473 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 20.

107

Leben zu erzählen.474 Ihre positive Einstellung fasste sie mit folgenden Worten zusammen: „Für mich ist es sehr wichtig, dass ich akzeptiere, wer ich bin, mein Unvermögen ist groß. […] Dieses Akzeptieren ist sehr wichtig für mich und das gibt mir die Stärke voranzuschreiten und ich tue es und was ich tue, tue ich sehr freudig. Ich bedauere nicht, dass ich nicht fähig bin zu gehen, denn, was ich kann, kann ich. So kann ich damit leben.“475

Bei mir hielten sich bei den Gesprächen Neugierde, Freude und Nervosität die Waage.

Jede einzelne Schwester erhielt eine ausgiebige vorbereitende Einführung in das, was gleich geschehen werde: Dass die Gespräche aufgenommen werden, sie einer wissenschaftlichen Arbeit dienen sollen und das Gesagte nur verwendet werden dürfe, wenn nach dem Interview dazu die schriftliche Einwilligung erfolge. Die Schwestern wurden auch dazu aufgefordert nicht zu antworten, falls ihnen danach sein sollte. Eine Landkarte vom Osten Indiens lag griffbereit, um die Herkunftsorte darauf gemeinsam zu suchen.

Auf die von außen einwirkende Geräuschkulisse konnte kein Einfluss genommen werden.

Sie reichte vom Surren eines Ventilators bis zu einem Gemisch aus Rufen, Hundegebell, Hupen, Krähengekreische, Hämmern, Läuten einer oftmals betätigten Hindutempelglocke, um die Gottheit aufmerksam zu machen und zu den Gebetsrufen eines Muezzins per Lautsprecher.476

Die hier alphabetisch geordneten Namen der Schwestern, Babita, Gouri, Lucy, Luisa, Marsa, Nimanti, Sangeeta und Sushmita, wurden auf Wunsch nicht anonymisiert.

Die Schwestern waren auch damit einverstanden, dass Clara F. zu Beginn jedes Interviews fotografierte und ein kleines Video drehte und sich dann zurückzog.

Keine der interviewten Personen wollte den geschriebenen Text vor der Freigabe zu Gesicht bekommen.

Fotografien von den Gesprächen mit den Schwestern sind im 7. Teil unter 7.4.

Bildmaterial zu sehen.

474 Vgl. Tagebuch, 18.07.2016, S181.

475 I3, Lucy, Z237f und Z242-244, S44.

476 Vgl. Anm. HF, I7, Luisa, S84.

108 4.2. Hintergrunderfahrungen und Prägungen

Acht junge Frauen, die wenig ähnliche und viel mehr unterschiedliche Erfahrungen im Leben gemacht haben, treten in die gleiche Kongregation ein. Was hat sie dazu geführt?

4.2.1. Herkunft: „Ich bin Bengalin!“ 477

Die Frauen sind gebürtige Inderinnen und auch in ihrer Heimat aufgewachsen. Je vier von ihnen kommen aus dem ostindischen Bundesstaat Westbengalen und aus dem südlich angrenzenden Odisha.478 Ein nicht geringer Stolz auf ihre Herkunftsländer sickerte bei den meisten Befragten durch. Als Sr Babita strahlend verkündete: „Ich bin Bengalin!“479, schien sie dabei zu wachsen.

Alle acht Schwestern sind in kinderreichen Familien groß geworden und haben sowohl Brüder als auch Schwestern.

Sr Lucy ist Santal.480 Sie hat ihren Vater schon im Babyalter verloren, Sr Luisa ihre Mutter erst vor wenigen Jahren; von den anderen Schwestern leben noch beide

477 I1, Babita, Z42, S5.

478 Odisha hieß bis zum Jahr 2011 Orissa, vgl. FN Kolkata / Calcutta in Kapitel 2.3. Orientierungs-Legende zu den Kapiteln.

479 I1, Babita, Z42, S5.

480 Mit mehr als 3 Millionen Zugehörigen stellt die Ethnie der Santals eine der größten Volksgruppen der indischen Urbevölkerung Adivasi dar. Adivasi, Ureinwohner auf Hindi, auch als Tribals oder Stammesangehörige bezeichnet, haben in Indien einen Bevölkerungsanteil von 8%. Adivasi und Dalits, die unberührbare Kaste, leben oft unter der Armutsgrenze. Santals sind in den Bundesstaaten Bihar, Odisha, Westbengal und dem durch Bangladesch örtlich abgetrennten Tripura angesiedelt, vgl. Fürer-Haimendorf, Tribal Populations, 109. Santals organisieren sich traditionsgemäß in Dorfgemeinschaften, in denen ein angesehener Dorfvorsteher, manjhi genannt, Internes regelt. Die Position des manjhi wird patrilinear, in Erbfolge der väterlichen Linie, weitervererbt. Ungefähr ein Dutzend Dorfgemeinschaften schließt sich zu einem größeren Verbund, pargana, zusammen. Je pargana wird ein Oberhaupt, parganath, ernannt. Dieser Oberste ist dafür zuständig, Streit zwischen Bewohnern verschiedener Dörfer zu schlichten und alljährlich gemeinsame Jagden oder auch Fischfang zu organisieren. Am Ende der meist drei Tage dauernden Jagd wird noch im Wald ein Treffen der Dorfältesten mit den Dorfvorstehern und dem Oberhaupt zur Besprechung abgehalten. Typische Santaldörfer sind aus Lehmhäusern errichtet. Über den ebenerdigen Räumen gibt es noch ein erstes Stockwerk. Die Häuser sind weiß, blau und rot gefärbt und oft mit Blumenmustern verziert. Die Santals leben aber auch in Ballungszentren in eigenen Stadtteilen, meist Slums, zusammen. Ihre gesprochene Sprache ist Santali. Die Santals bewahrten größtenteils ihre Tradition und ihren Stammesglauben. Bei ihnen zählen Hindus und Christen zu den religiösen Minderheiten, vgl.

ebd., 112f. Die Glaubensvorstellung der Santals ist stark von Bongas geprägt. Die so bezeichneten Geister

109

Elternteile. Üblicherweise wohnt in Indien die Großelterngeneration bei einem ihrer Kinder oder ganz in der Nähe und übernimmt dann die Erziehung. So erklärt sich bei manchen Schwestern der enge Kontakt zu den Großeltern.481

Sr Marsa kommt vom Stammesvolk482 der Oraon483 und ist in Odisha aufgewachsen. Sr Luisas Eltern sind ursprünglich auch Oraon, doch erzählt sie: „Eigentlich kommen meine

bewohnen drei Sphären: eine Art Unterwelt, die der Oberwelt nachgebildet ist; eine luftige Sphäre, die als Totenreich gilt und in die die Santals nach dem letzten Bestattungsritual eintreten. Solange Tote im Dorf in Erinnerung bleiben, beeinflussen sie noch das dortige Geschehen. Die dritte Sphäre umfasst das Dorf und seine Umgebung. Hier befinden sich Wald-, Hügel- und Grenzbongas und viele andere, die mit bestimmten Plätzen verbunden sind. Bongas erhalten Tieropfer - meist Vögel - und Reisbier, um Unheil abzuwenden, vgl. ebd., S115. Santals haben keine schriftliche Tradition ihrer Religion, dafür viele mündliche Überlieferungen, wie Schöpfungsmythen, die von ihrer Region Zeugnis geben. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Santals ist nach wie vor traditionell stark. Daran ändern auch eventuelle unterschiedliche religiöse Vorstellungen und Glaubenszugehörigkeiten nichts. Wenn es um Lösung praktischer Lebensfragen, wie Gesundheitswesen, Gewährung von Minikrediten oder Anbau und Vermarktung geht, besprechen sie sich intensiv und stehen einander bei, vgl. Weber/Fuchs, Gemeindetheologie interkulturell, 293f.

Von der Wirkmächtigkeit der Bongas sind auch die Santalmädchen der Helferinnen noch überzeugt. So verließ eine Schülerin fluchtartig Schule und Internat in Kolkata, da es angeblich im Haus spukte und ein Geist jedes Jahr ein Mädchen erwischte. Im Schlafsaal ist ein Mädchen hysterisch geworden, da es den Geist gesehen habe. Seither heißt das Gebäude Geisterhaus. Christliche Priester und Helferinnen kommen gegen den Aberglauben schwer an. Als eine Übernachtung im „Geisterhaus“ nicht zu vermeiden war, schliefen die Mädchen aus Furcht zu dritt in einem Bett, vgl. TGB1, 02.09.1995, S233 und TGB1, 01.10.1995, S237.

Die Gastfreundschaft der Santals ist groß. Die Helferinnen erlebten sie immer wieder, wenn sie Studyhouse-Mädchen abholten oder besuchten. Es kam auch vor, dass die Mutter eines Studyhouse-Mädchens den Schwestern zum Empfang die Füße wusch und sie mit Öl einrieb, vgl. TGB2, 26.12.1996 und 27.12.1996, S279.

481 I4, Sushmita, Z35f, S46.

482 Es ist immer mitzubedenken: Die Bezeichnung Stammesvolk, Stammesangehöriger, Tribal oder tribale Ethnie ist unscharf und missverständlich. Sie umfasst Vorstellungen aus unterschiedlichen Kulturarealen und Lebensformen, verknüpft mit politischen und sozialen Kriterien, vgl. Schulz, Stammesreligionen, 12.

483 Die 3,5 bis 4,5 Millionen Oraons, auch Kurukh genannt, sind gleich den Santals ein Stammesvolk der Adivasi und ebenso in Dorfgesellschaften organisiert, vgl. FN Santals in diesem Kapitel 4.2.1. Herkunft:

„Ich bin Bengalin!“

Als Scheduled Tribes, vgl. FN Scheduled Tribes in Kapitel 4.5.1. Weitergabe der Liebe: „Ich fühle, dass ich unser Charisma lebe“, können sie gleich den Santals laut indischer Verfassung Minderheitenrechte in Anspruch nehmen. Oraonstämme in Indien leben in den Bundesstaaten Bihar, Madhya Pradesh, Odisha, Westbengalen, Tripura, Maharashtra und Assam. Die Oraons verdienen im Dorf ihren Lebensunterhalt als

110

Eltern von Jharkhand, einem Nachbarstaat. Meine Eltern kamen wegen der Arbeit nach Bengalen. […] Für Ziegelsteinarbeit.484 So bin ich in Bengalen geboren.“485 Sr Luisa wuchs daraufhin unter Santals auf.

Zu den Familienangehörigen besteht heute guter, aber nicht intensiver Kontakt über Telefongespräche und gelegentliche gegenseitige Besuche.486 So war beispielsweise Sr Sushmitas Interview erst gegen Ende meines Indienaufenthaltes möglich, da sie die Wochen zuvor auf dem jährlichen Heimaturlaub487 gewesen war oder freute sich Sr Lucy sehr darauf, dass in einer Woche ihre Mutter auf Besuch kommen werde.488

Was die wirtschaftliche Lage der Herkunftsfamilien betrifft, gibt es eine große Bandbreite, die von sehr armen Feldarbeitern489 bis zu gut situierten Eltern, die Lehrer oder Beamte sind, reicht.490

Arbeitende auf dem Feld oder sind als Wanderarbeiter unterwegs. Oraons sprechen hauptsächlich Kisan und Hindi, beides Sprachen aus der dravidischen Sprachfamilie, vgl. Fürer-Haimendorf, Tribal Populations, 4. Mehr als die Hälfte der Oraons sind Hindus (57%). 30% bekennen sich zum Christentum, die übrigen Prozent praktizieren Naturreligionen, die auch als Traditionelle Religionen bezeichnet werden, vgl. FN Naturreligionen in Kapitel 4.2.2. Herkunftsreligion: „Wenn ich sterbe, lass meine Kinder taufen – ihr könnt sonst nicht überleben!“

484 Sr Luisas Eltern haben die Möglichkeit der Ziegelarbeit ergriffen. Die Beschäftigung in Ziegelfabriken ist harte Handarbeit. Frauen und Männer pressen Lehm in Formen und legen diese dann zum Trocknen aus.

Getrocknet werden sie aus den Formen genommen und zu hohen, stumpfen Pyramiden aufgetürmt, befeuert und nach dem Abkühlen auf Lastwagen verladen, vgl. Imhasly, Indien, 40.

485 I7, Luisa, Z7f und Z10f, S73.

486 Vgl. I5, Nimanti, Z117f, S57.

487 Vgl. Einleitung I4, Sushmita, S45.

488 Vgl. I3, Lucy, Z106, S40.

489 Vgl. I3, Lucy, Z123f, S40.

490 Vgl. I2, Sangeeta, Z17, S29.

111

4.2.2. Herkunftsreligion491: „Wenn ich sterbe, lass meine Kinder taufen – ihr könnt sonst nicht überleben.“492

Für Sr Babita, Sr Luisa und Sr Sangeeta war der christliche Lebensweg schon angelegt:

Ihre Familien sind seit drei bis vier Generationen Christen, ein Onkel Sr Sangeetas ist sogar katholischer Priester.493 Die Wege der anderen Schwestern waren nicht so geradlinig in Richtung Christentum gezeichnet. Bei Sr Marsa waren der Großvater mütterlicherseits und ihre Mutter Christen, in der Linie des Vaters waren Hindus, jedoch:

„Sie sagten nicht Hindu,494 aber sie führten keinen Krieg, hatten keinen Tempel.“495 Der Vater ließ sich erst später taufen.496 Sr Lucys Mutter war Christin schon in der dritten Generation, der Vater Stammesangehöriger mit, der eigenen Aussage nach, einer Art

491 Laut Census of India 2001, der 14. Volkszählung, verteilen sich die Religionen in Indien folgendermaßen: 80,5% Hinduismus, 13,4% Islam, 2,3% Christentum, 1,9% Sikhismus, 0,8% Buddhismus, 0,4% Jainismus und 0,6% Andere, vgl. https://www.indienaktuell.de/indien-information/religionen-in-indien [abgerufen am 13. 08. 2018].

492 Vgl. I3, Lucy, Z120-122, S40.

493 Vgl. I2, Sangeeta, Z125f, S33.

494 I8, Marsa, Z19, S89.

495Diese Aussage Sr Marsas unterstreicht eine der Feststellungen postkolonialer Theorien, in Bezug auf die vielfältigen Auswirkungen von Kolonialisierung. Wenn auch Kolonien primär Orte ökonomischer Ausbeutung darstellten, waren sie doch genauso Ziel von Zivilisierungsmission. Christliche Missionare als wichtige Handelnde des Kolonialismus trugen dazu bei, die europäische Intervention als befreienden Prozess zu rechtfertigen, da Indigene ja eine Chance auf die rettende Herrschaft des Christentums bekamen, vgl. Do Mar Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 54f.

Nach europäischer Weltsicht des 19. Jahrhunderts galt Monotheismus als höchste Religionsform.

Monotheistische Religionen hatten das Privileg, die Welt rational und wissenschaftlich zu erklären.

Östliche Religionen wurden als „Weisheiten des Orients“ mystifiziert. Der europäische Orientalismus begann das Wissen über den Orient zu systematisieren. Verschiedene Glaubensvorstellungen, nicht homogene rituelle Bräuche und Praktiken wurden in ganzheitliche Religionssysteme zusammengefasst.

Zuvor hatte der „Hinduismus“ im indischen Subkontinent nicht existiert – nur eine Vielzahl metaphysischer Richtungen. Die „Erfindung“ des Hinduismus als eine Religion zeigt gleichzeitig das Bemühen Kolonisierter, eine starke Gegenbewegung zum Christentum zu positionieren, vgl. ebd., 59f. Den Kunstbegriff Hinduismus prägten europäische Gelehrte, die sich im Zuge der Kolonialisierung mit dem Glauben der Hindus beschäftigten. Indische Verwaltungsbeamte zählen auch Buddhisten, Jainas und Sikhs zu den Hindus. Nur Muslime, Juden und Christen sind ausgenommen, vgl. Hierzenberger, Hinduismus, 8.

496 Vgl. I8, Marsa, Z16, S88.

112

Naturreligion497. „Er hatte nie einen Einwand gegen meine Mutter.“498, bringt Sr Lucy die Einstellung ihres Vaters auf den Punkt. Er hatte nicht nur keinen Einwand gegen den Glauben seiner Frau, sondern sah als Todkranker in der von Missionaren praktizierten Nächstenliebe die Chance für den Fortbestand seiner Familie. Vor seinem Tod beauftragte er die Ehefrau, seine Kinder taufen zu lassen, um in ihrer Armut von den Missionaren Hilfe zu erfahren: „Ich konnte nie Christ werden, wenn ich sterbe, lasse aber meine drei Kinder taufen, sie sollen Christen werden. Wenn ich nicht da bin, könnt ihr sonst nicht überleben.“499 Die Mutter erfüllte den Wunsch ihres Mannes und ließ alle drei Kinder taufen.500 Sr Sushmitas Eltern sind Hindus. Väterlicherseits war das nicht immer so, denn schon die Großeltern waren seit vielen Generationen Christen. Mit seiner Hochzeit konvertierte der Vater und nahm den Glauben seiner Frau an: „Eigentlich war mein Vater Christ. Aber bei der Heirat wurde er Hindu, denn meine Mutter ist Hindu.“501 Sr Sushmita und ihre Schwester wurden getauft und wuchsen bei den christlichen Großeltern auf. Die beiden Brüder blieben Hindus und wurden von Vater und Mutter erzogen.502 Sr Nimantis Eltern sind nach wie vor Hindus und ließen ihre sechs Kinder eine christliche Schule besuchen, was Konsequenzen hatte: „Vater und Mutter sind noch Hindus, aber sie verehren nicht wie Hindus. Der Vater feiert mit uns, nimmt mit uns teil.“503 Ein Lehrer in der christlichen Schule gab erfolgreich den Anstoß zur Konversion:

497 Naturreligion ist ein irreführender Begriff und grenzt sich nicht auf die Natur als Gegenstand religiöser Verehrung ein. Um die Religionen der Tribals nachvollziehen zu können, ist es notwendig, tief in die jeweilige Stammeskultur einzutauchen, vgl. Schulz, Stammesreligionen, 11. Naturreligionen werden von Generation zu Generation mündlich und durch Rituale weitergegeben und kennen keinen Religionsgründer.

Oldenberg bezeichnet sie anschaulich als „[…] nicht das Werk eines Stifters, sondern das Produkt allmählichen Werdens“, Oldenberg, Indische Religion, 52.

498 I3, Lucy, Z118f, S40.

499 I3, Lucy, Z120-122, S40.

500 Die Marginalisierten Indiens, und dazu gehören in erster Linie die Dalits – die „Zerbrochenen“ und

„Geschundenen“ – und die Stammesvölker Adivasi, vgl. FN Adivasi in Kapitel 4.2.1. Herkunft: „Ich bin Bengalin!“ fanden von Seiten des Hinduismus weder den gesuchten Respekt noch die benötigte Unterstützung. Aus diesen Gründen wandten sie sich oftmals dem Christentum zu. Sich taufen zu lassen bedeutete für sie die Anerkennung, wirklich Menschen und Kinder Gottes zu sein. Die christliche Botschaft vermittelte das Gefühl von Würde, vgl. Schäfer, Anstoss Mission, 290.

501 I4, Sushmita, Z39f, S46.

502 I4, Sushmita, Z46f, S46 und Z125f, S49.

503 I5, Nimanti, Z72f, S56.

113

„Mein Vater und meine Mutter, sie hatten nichts dagegen. Sie waren glücklich, dass wir Christen wurden. Sie waren glücklich uns so zu sehen.“504 Die Taufe der sechs Geschwister fand in Anwesenheit der Dorfbewohner statt, unter denen schon zahlreiche Christen geworden waren: „Es war wirklich in unserem Dorf so, dass viele dort waren, viele waren getauft. Wir hatten ein Fest an diesem Tag, alle nahmen teil.“505 Sr Gouri bezeichnet ihre Eltern als neue Christen. Die Generationen davor waren Hindus gewesen, aber: „Meine Eltern sind auch neue Christen, konvertierte Christen sind meine Eltern.“506 Das Katechumenat, die Vorbereitung auf die Taufe, dauerte ein Jahr und fiel in die Zeit, in der die Mutter Sr Gouri erwartete. Ein kroatischer Jesuit war in die Heimatgemeinde Baruipur, etwas nordöstlich von Kolkata, gekommen und predigte mit Erfolg, denn: „[…]

„Mein Vater und meine Mutter, sie hatten nichts dagegen. Sie waren glücklich, dass wir Christen wurden. Sie waren glücklich uns so zu sehen.“504 Die Taufe der sechs Geschwister fand in Anwesenheit der Dorfbewohner statt, unter denen schon zahlreiche Christen geworden waren: „Es war wirklich in unserem Dorf so, dass viele dort waren, viele waren getauft. Wir hatten ein Fest an diesem Tag, alle nahmen teil.“505 Sr Gouri bezeichnet ihre Eltern als neue Christen. Die Generationen davor waren Hindus gewesen, aber: „Meine Eltern sind auch neue Christen, konvertierte Christen sind meine Eltern.“506 Das Katechumenat, die Vorbereitung auf die Taufe, dauerte ein Jahr und fiel in die Zeit, in der die Mutter Sr Gouri erwartete. Ein kroatischer Jesuit war in die Heimatgemeinde Baruipur, etwas nordöstlich von Kolkata, gekommen und predigte mit Erfolg, denn: „[…]