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1. Teil: Entstehungsgeschichte der Kongregation bis zur Gegenwart

1.4. Wer war Eugénie Smet?

Das Lesen des Petit Livre, das Eugénie Smet zwischen ihrem 23. und 34. Lebensjahr täglich führte, gewährt Einsicht in ihre Persönlichkeit und ihr Glaubensleben. Die zukünftige Ordensgründerin stellte ihre Einträge unter den Schutz der Gottesmutter Maria und vermerkte eingangs: „Petit Livre, mis sous la protection de ma bonne et tendre Mère“.67

Das Tagebuch erstreckt sich vom Jahr 1848 bis zum Jänner 1859. Das Journal Spirituel bringt Auszüge daraus. Die Auswahl des Geschriebenen hat die Kongregation selbst getroffen. Tägliche Eintragungen wurden nur ab dem 22. Dezember 1858 bis zum 29.

Jänner 1859 übernommen.68

64 Vgl. Gardey de Soos, Eugénie Smet, 38.

65 Im Pariser Generalat hängt am Gang, welcher zu den zwei original erhaltenen Privatzimmern der Ordensgründerin führt, ein Ölgemälde. Es zeigt die elegant gekleidete 26-Jährige mit bemerkenswertem Detail, das bildlich Aussagen über ihren Charakter trifft: Eugénie hält das Manuskript einer Lotterie in der Hand, vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 13.

66 Vgl. René-Bazin, Lebte Namen, 20.

67Marie de la Providence, Journal Spirituel, 3.

68 Vgl. ebd., 3.

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Die ersten zwei Jahre sind auf 14 Seiten zusammengefasst, auf denen minutiöse Tagesplanung69, täglich gesprochene Gebete70, absolvierte Exerzitien71, erlangte Teilablässe72 und vollkommene Ablässe73 und Intentionen des Kommunionempfanges74 vermerkt wurden. Zwei Seiten widmen sich glücklichen Erinnerungen.75

Auf einem Blatt sind alle zwanzig Organisationen aufgelistet, denen sie „das Glück hatte anzugehören“76. Mit den Kindern Mariens oder dem Heiligen Kindheitswerk sollen hier nur zwei namentlich genannt werden.77

Eugénie formulierte im Petit Livre auch ihre persönlichen Entschlüsse und Vorsätze. Das brennende Anliegen, jedes Bemühen möge dazu dienen, Gott Seelen zurückzubringen, ist immer wieder notiert.78

Von großer Bedeutung für Eugénie Smet war der Rückblick auf die Spanne vom 23. bis zum 26. Jänner 1842, die Tage der Exerzitien mit Père Sellier SJ, die sie als Zeit ihrer Bekehrung einordnete. Unmittelbar danach folgte der Entschluss zur Ehelosigkeit und die an Gott gerichtete Bitte um Berufung zum Ordensleben.79

Am 1. Mai 1851 gelobte sie für ein Jahr jungfräulich zu leben. Zu ihrer großen Freude wurde ihr von Bischof Chalandon und ihrem geistlichen Begleiter ein Jahr später die ewige Jungfernweihe gestattet.80

Speziell der 25. Jänner 1854 hatte für Eugénie Smet zeitlebens eine große Bedeutung. Es war der Tag, an dem sie gelobte, sowohl ihr Tun als auch ihre Gedanken in den Dienst der Linderung der Qualen der Seelen im Fegefeuer81 zu stellen. Sie hatte klare

69 Vgl. ebd., 7.

70 Vgl. ebd., 10.

71 Vgl. ebd., 11.

72 Vgl. ebd., 12f.

73 Vgl. ebd., 14.

74 Vgl. ebd., 15.

75 Vgl. ebd., 16f.

76 Ebd., 15.

77 Vgl. ebd., 15.

78 Vgl. ebd., 18.

79 Vgl. ebd., 11 und 41.

80 Vgl. ebd., 31.

81 Die katholische Kirche verstand zu Eugénie Smets Zeiten unter Fegefeuer nicht einen Ort der Strafe, sondern einen Ort der Läuterung, an dem die im Zustand der Gnade und Freundschaft Gottes Verstorbenen ihre zeitlichen Sündenstrafen, das heißt ihre Sündenfolgen aus ihrer zeitlichen Existenz, abbüßen sollten.

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Vorstellungen davon, wie die Not der Seelen zu lindern und ihre Reinigung voranzutreiben wären. Die Hilfe sollte einerseits durch den Heroischen Liebesakt und andererseits durch leibliche und geistliche Werke der Barmherzigkeit geschehen.82 Eugénie Smet lebte in der Hoffnung, dass eine durch sie befreite Seele an ihrer Stelle Gott lobe und preise, bis sie selber in die Ewigkeit eingehen werde.83 Sie versprach auch, die Zahl derer mit all ihren Kräften zu vergrößern, die ihr bei der Seelenrettung beistehen.

Die Seelen sollten auf Erden eine Vertretung haben, die verhindert, dass sie vergessen werden.84

In Eugénie Smet machte sich immer wieder eine Leere breit. Sie hatte Angst, nicht genug Kraft und Energie aufbringen zu können, um ihre Vorhaben gut zu leben und umzusetzen.

Sie litt körperlich und seelisch, hatte Nervenschmerzen von Kopf bis Fuß und wurde häufig von Schlaflosigkeit gequält.85 Sie fühlte sich durch die strikte Führung ihres

Das Fegefeuer sei nicht der „Ort“ oder „Zustand“, an dem zwischen ewiger Seligkeit, dem Himmel, und ewiger Verdammnis, der Hölle, entschieden würde: der Himmel sei den Verstorbenen schon gewiss, doch könne nur eine reine Seele, eine Seele im Zustand der Vollkommenheit, in ihn eintreten, vgl. Journet, Fegefeuer, 7.

82 Heroischer Liebesakt und Werke der Barmherzigkeit waren im späten 18. und im 19. Jahrhundert gängige Begriffe. Dahinter stand die Vorstellung, dass man sich durch gute Taten im Diesseits einen Schatz im Himmel anlegen kann. Der kostbare Schatz sollte gleichsam ein Vorrat an guten Werken für die eigene Seele sein. Dieses sogenannte „Seelgerät“, wobei „Gerät“ in der alten Bedeutung für Vorrat oder Ausrüstung zu verstehen ist, möge einem nach dem eigenen Tod die Leidenszeit im Feuer verkürzen. Beim Heroischen Liebesakt verzichtet man auf diesen Vorrat, auf die Genugtuungswerte der eigenen guten Taten und wendet sie den Verstorbenen zu, übergibt sie Gott zugunsten der leidenden Seelen. Durch den Verzicht kommen die Verdienste einem selber nicht mehr zugute, vgl. Wegmann, Weg zum Himmel, 207f. Die zweite definierte Möglichkeit den Seelen zu helfen, war das Vollbringen von Werken der Barmherzigkeit.

Zu den leiblichen Werken zählt es die Hungernden zu speisen, die Dürstenden zu tränken, die Nackten zu bekleiden, die Fremden aufzunehmen, die Kranken zu pflegen, die Gefangenen zu besuchen und die Toten zu bestatten, vgl. Mt 25,35-36. Die geistlichen Werke umfassen es Unwissende zu belehren, Zweifelnden zu raten, Trauernde zu trösten, Sünder zurechtzuweisen, dem Beleidiger zu verzeihen, Unrecht zu ertragen und für Lebende und Tote zu beten. Die Werke beziehen sich auf die Endzeitrede Jesu, auf die Worte vom Weltgericht, vgl. Mt 25,31-46. Gegen Ende der Rede spricht Jesus: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, Mt 25,40. Die angeführten Bibelzitate beziehen sich auf die Einheitsübersetzung, Herder 1980.

83 Vgl. Marie de la Providence, Journal Spirituel, 32.

84 Vgl. ebd., 5. Oktober 1855, 33f.

85 Vgl. ebd., 13. Jänner 1859, 73f.

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geistlichen Begleiters Basuiau gebrochen. Er gab ihr Anweisungen zur Entsagung, verglich eine Gemeinschaft mit einem großen Friedhof, in dem es kleine und große Kreuze und einen Kalvarienberg gebe. Die Oberin repräsentiere den Kalvarienberg und habe das größte Kreuz zu tragen.86

Eugénie Smet musste Basuiau auch alle Opfer mitteilen, die sie glaubte machen zu müssen, damit sie sich nicht selber täusche und verirre.87 Er gab ihr den Rat, sich in ihrem spirituellen Leben wie auf einer Reise zu fühlen, mit hellen, windigen oder regnerischen Tagen. Allein Ziel und Zweck der Reise wären von Bedeutung.88

Eugénie war vom Gedanken an die göttliche Vorsehung durchdrungen. Darunter verstand sie alles, was Gott ihr an Gutem zukommen ließ. Sie lebte in der Überzeugung, dass der Schöpfer mit unendlicher Güte ihr Leben Schritt für Schritt begleite, sie sein über alles geliebtes Kind sei, er ihr alles gebe und sie sich mit jeder Bitte an ihn wenden könne. Sie sah in allem, was ihr widerfuhr, Zeichen der Liebe Gottes. Ihre charakteristische Haltung wird sie zu ihrem Ordensnamen Maria von der Vorsehung, Marie de la Providence, führen.

Aus der Vorstellung der Vorsehung wuchs ihr Bedürfnis, Gott zu beschenken. Sie suchte Wege und fand eine Lösung: Gott liebe zwar die Seelen im Fegefeuer sehr, doch seine Gerechtigkeit hindere ihn daran, sie zu befreien. Eugénie wollte ihm Seelen zukommen lassen, gleichsam zurückgeben und auch andere dazu animieren, Gott durch Gebete und Opfer Seelen zu schenken.89 Sie wollte die Vorsehung der Vorsehung sein. Sogar in Briefen erinnerte sie Freundinnen regelmäßig daran, Litaneien und andere Gebete für Lebende und Verstorbene zu sprechen.90

Sr Maria vom Kreuz beschrieb als damalige Generaloberin im August 1963 in der Einleitung zu Sr Chantals Leitfaden durch die Spiritualität Leben und Wirken der Gründerin mit den Worten: „Sie war gedrängt vom Durst, Gott zu lieben, der für sie den Namen der Vorsehung trägt. Sie war entflammt vom Wunsch, IHM Gutes zu tun. So

86 Vgl. ebd., 47ff.

87 Vgl. ebd., 30. Dezember 1858, 68.

88 Vgl. ebd., 31. Dezember 1858, 69f.

89 Vgl. Histoire de la Société I, 5f.

90 Nach Eugénies Tod wurden ihre Briefe an Freundin Mathilde aus Lauvain an die Kongregation zur Verwendung zurückgegeben. In den in die Histoire de la Société aufgenommenen Briefen ermutigt Eugénie zum Beten von Litaneien, zu Gottesdienstbesuch und Beichte. Die Erleichterung der Seelen im Fegefeuer war ihr großes Anliegen, vgl. ebd., 12-24.

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verstand sie in einer kaum bewussten Absicht, dass sie den Weg über die Menschen wählen müsse, wolle sie Gott erringen.“91

Der Jesuit Henri Holstein charakterisierte Eugénie Smet im Jahr 1960 folgendermaßen:

„Ohne systematische Überlegungen über das Dogma des Fegfeuers anzustellen, aber indem sie ganz einfach ihrer Sendungsgnade treu blieb, hat Maria von der Vorsehung von einer sehr sicheren doktrinären Intuition Zeugnis abgelegt.92 […] Sie handelt, ohne die Zeit mit Selbstanalysen zu verlieren. Und um besser zu handeln, übergibt sie sich.“93 Einen Blick auf Eugénie Smet mittels einer nicht unangefochtenen Methode warf die Graphologin Elisabeth Pabst.94 Ihre erstellte Analyse ist dem Petit Livre beigelegt. Nach Auskunft95 der Archivarin Sr Clare Wilson hatte Pabst Schriftproben der Ordensgründerin erhalten und die Untersuchungsergebnisse im Juli 1995 mündlich der damaligen Archivarin Sr Chantal de Seyssel mitgeteilt, die die Aussagen notierte.96 Bei der Frage nach Seriosität von Graphologie werden Individualität der Schrift und ihre Unverwechselbarkeit nicht in Frage gestellt, wohl aber Zusammenhänge zwischen Handschrift und psychischer Individualität.97 Verfechter der Graphologie wie Heinz Engelke weisen darauf hin, dass seriöses Deuten mehrjährige Übung, große praktische Erfahrung, Studium von Fachliteratur und entsprechende Anlagen voraus setze98, um aus

91 Seyssel de, Leitfaden, Einleitung ohne Seitenangabe.

92 Holstein, Theologische Notiz,105.

93 Ebd., 107.

94 Die Geschichte der Graphologie geht bis ins 17. Jh. zurück: 1622 erschien das erste gedruckte Werk zum Thema Handschrift als Ausdruck der Persönlichkeit, verfasst vom Arzt und Philosophen Camillo Baldi, in Italien, vgl. Hargreaves, Schrift, 7. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts führten vermehrtes Interesse an psychologischen Themen und bürgerlichen Gesprächsrunden, sowie starke Verbreitung von Lesen und Schreiben besonders in Frankreich zur Weiterentwicklung der Graphologie. Es war Abbé Jean-Hippolyte Michon (1806-1881), der den Begriff Graphologie, „Wissenschaft von der Schrift“, prägte, vgl. Wölpert, Graphologie, 471. Michons Forschungsergebnisse wurden 1872 erstmals veröffentlicht, vgl. Hargreaves, Schrift, 7. Im fortgeschrittenen 20. Jh. nahm die Graphometrie, die für Schriftmerkmale Messvorschriften entwickelte, um testmäßige Kontrollen zu ermöglichen, mehr und mehr Einfluss, vgl. Wölpert, Graphologie, 478.

95 Vgl. Mail von Sr Clare Wilson, 27.10.2020.

96 Vgl. Analyse Graphologique par Elisabeth Pabst, [CS – 7/95], Kopie in der Materialsammlung S310.

97 Vgl. Wölpert, Graphologie, 469.

98 Vgl. Engelke, Wissenschaftliche Graphologie, 9.

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Schriftlage, Größe, Schreibdruck, Bindungsformen und weiteren Merkmalen Rückschlüsse auf eine Persönlichkeit ziehen zu können.99

Aus dem analysierten Schriftbild der Gründerin zog die Graphologin Pabst auch Rückschlüsse auf Wesensmerkmale, die zu seltenen kritischen Bemerkungen über Eugénie Smet gehören. Deshalb und wegen des neuen Blickwinkels werden hier einige graphologische Aussagen angeführt. Die Person mit der Handschrift:

- war hyperemotional, überempfindlich und überreagierend, daher ermüdbar.

- war hochsensibel und formbar.

- war Person mit klarer, kritischer Intelligenz.

- war ungeduldig, alles zu tun, hatte grenzenlose Intensität.

- war eine kontrollierte, leidenschaftliche Person, getrieben von Spirituellem.

- hatte Sinn für Wesentliches für die zu erreichenden Ziele, koste es, was es wolle, verbunden mit starkem Ehrgeiz – das Profil eines Unternehmensleiters oder einer Unternehmensleiterin.

- musste Rolle einer Führungskraft spielen.

- hat Ehrgeiz auf spirituelle Ebene übertragen100