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Aspekte der Freiheit: „Wir konnten wählen.“

3. Teil: Weg nach Indien

4.4. Eine Kongregation für Seelen im Fegfeuer?

4.4.2. Aspekte der Freiheit: „Wir konnten wählen.“

Das Thema Freiheit war nicht geplanter Gegenstand der Gespräche. Manche Schwestern brachten den Begriff ungefragt ins Spiel. Was sie auf ihrem Weg in die Kongregation der Helferinnen besonders als Gegenteil von Beeinflussung und Zwang empfanden, war unterschiedlich.

654 Vgl. I6, Gouri, Z125-132, S68.

655 I3, Lucy, Z196f, S43.

656 Vgl. I3, Lucy, Z210 und Z214f, S43.

657 I3, Lucy, Z215-226, S43f.

658 I3, Lucy, Z227f, S44.

659 I1, Babita, Z44, S5.

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Sr Lucy erlebte schon von den ersten Begegnungen an die Atmosphäre rund um die Helferinnen als beglückend: „Ich liebte diesen familiären Geist der Helferinnen so sehr, die Beziehungen, die Freiheit, die gegeben ist.“660 Sie erfuhr wertschätzende Auseinandersetzung mit ihren Vorstellungen die Zukunft betreffend und erhielt durch Fortbildungschancen den wichtigen Schlüssel zu innerer und äußerer Freiheit.661 Auch ohne Eintritt in die Kongregation hätte sie ein selbstständiges Leben führen und sich mit einem Job in der Wirtschaft selbst erhalten können, jeder Behinderung zum Trotz.662 Sr Luisa ist dankbar bewusst, dass sich ihr immer wieder Möglichkeiten boten, frei zu wählen. Ihr Traum war der Schulabschluss.663 Vom Pfarrer der Heimatgemeinde kam die Frage, ob sie sich dazu nicht für das Studyhouse der Helferinnen entscheiden wolle?664 Sie nahm interessiert an und erfuhr dort Unterstützung bei ihren Studien. In an sie persönlich gerichteten Gesprächen wurde sie nach ihren Visionen gefragt: „Was möchtest du machen? Was ist das Ziel deines Lebens? Was möchtest du tun?“665

Sie fühlte sich vom unkomplizierten Lebensstil der Helferinnen angezogen: „Als ich hörte, wie die Helferinnen leben, schaute es natürlich aus, nicht so übertrieben, überwacht. Du kannst überall hin gehen.“666 Sr Luisa hat auch ein nahezu schelmisches Vergnügen daran, sich unerkannt unter Menschen zu mengen, da die Helferinnen keine einheitliche Ordenskleidung tragen. Wer das typische Kreuz667 der Kongregation nicht kennt, kann die Trägerin nicht als Schwester identifizieren: „Wir sind in einfacher Kleidung668, niemand kann wissen, wer wir sind.“669 Sr Luisa sah das immer als befreienden Vorteil, ganz nahe an Menschen heran zu kommen: „Das ist sehr gut, dass

660 I3, Lucy, Z41-43, S38.

661 Vgl. I3, Lucy, Z36-40, S38.

662 Vgl. I3, Lucy, Z133-137, S41.

663 Vgl. I7, Luisa, Z56, S75.

664 Vgl. I7, Luisa, Z46f, S74.

665 I7, Luisa, Z82f, S76.

666 I7, Luisa, Z110f, S76.

667 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 50.

668 „Die Art zu leben, die Wohnungen und die Kleidung sind einfach und schlicht, wie es Frauen, die sich Jesus Christus und dem Dienst an der Sendung geweiht haben, entspricht“, Konstitutionen, Artikel 86, 40.

669 I7, Luisa, Z340f, S84.

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sie mich nicht erkennen. Ich bin wie sie. Da ist keine Notwendigkeit, dass ich mich unterschiedlich mache.“670

Sr Gouri fühlte sich nie in Richtung Eintritt gedrängt. Obwohl ihre Mutter eine Ordensfrau671 ersehnt hatte, ist die Tochter davon überzeugt, dass die Eltern ihr jede Freiheit gegeben haben.672 Sie selbst stellte die eigene Autonomie kurz vor den Gelübden noch einmal auf die Probe und bekam die Bestätigung, in der Wahl zu gehen oder zu bleiben nicht eingeschränkt zu sein.673 Die Unverkrampftheit in der Lebens- und Glaubensgestaltung setzt sich auch in der nächsten Generation fort: Die Kinder ihrer getauften und mit einem Hindu verheirateten Schwester können eines Tages selber entscheiden, welcher Religion sie angehören wollen.674

Sr Sangeeta wiederum fühlte sich leicht und befreit, als sie ihre Berufung annehmen konnte: „Ich sagte nicht nein, jemand hilft mir in meinem Leben zu wachsen. Das war es, was ich beschloss. Ich sagte ja zu meinem Wunsch, ich sagte ja zu meiner Berufung.“675 Für Sr Babita war der uneingeschränkte Handlungsspielraum, den die Eltern ihr und auch den beiden Geschwistern einräumten, der Inbegriff von Freiheit: „Sie hatten mir Freiheit gegeben, zu tun, was ich möchte.“676 In ihr war das schöne Gefühl, völlig ungebremst ihren Weg gehen zu können.

Sr Marsa war und ist glücklich über die offene Art des Helferinnen-Daseins. Dazu gehört, dass sie nicht nur eine Art von Arbeit verrichten, sondern zu verschiedenen Orten gehen und sich hinaus zu den Menschen begeben677: „Das hilft mir voranzukommen, mich selbst zu finden.“678

670 I7, Luisa, Z351f, S84.

671 Vgl. I6, Gouri, Z83f, S66.

672 Vgl. I6, Gouri Z86, S66.

673 Vgl. I6, Gouri, Z96-108, S67.

674 Vgl. I6, Gouri, Z72-79, S66.

675 I2, Sangeeta, Z165f, S34.

676 I1, Babita, Z33, S4.

677 Vgl. I8, Marsa, Z229-234, S95.

678 I8, Marsa, Z233, S95.

135 4.5. Empfangene Liebe als Quelle

In den Gesprächen tauchten Erlebnisse persönlich empfangener Zuwendung in großer Dichte auf. Die Episoden erzählten von „messbarer“ Hilfe in körperlicher oder wirtschaftlicher Not und von erspürten Erfahrungen, die durch Akzeptanz, Respekt, Freiheit, Wahlmöglichkeiten, Willkommen- und Angenommensein, warmherzige Gastfreundschaft, Begegnung auf Augenhöhe, unterschiedlichste Unterstützung und allen voran durch Elternliebe zum Ausdruck kamen. All das geschah in alltäglichen Gegebenheiten. Den Schwestern war und ist Krankheit, Tod, Armut, Einsamkeit, Verwirrung und Ratlosigkeit wohlbekannt. Doch die Gewissheit, auf dieser Erde erwünscht und geliebt zu sein, dominiert.

4.5.1. Weitergabe der Liebe: „Ich fühle, dass ich unser Charisma lebe.“679

Sr Babita fühlte sich durch ihr warmherziges Zuhause nie in ihrem Lebensweg gebremst:

„Sie stoppten mich nicht.“680 Da es immer in ihr war, „den Menschen zu helfen, die es brauchen, den Armen, den Kranken“681,kam sie zu den Helferinnen. Wenn sie Not sieht, reagiert sie682: „Mein großer Wunsch ist es zu helfen, denen, die in Not sind. Denen, die innerhalb und außerhalb unseres Heimes sind. Helfen ist das Wichtigste.“683 Sr Babita unterstützt tatkräftig die Come and See684 Mädchen und gibt ihnen täglich intensiven

679 I6 Gouri, Z157, S69.

680 I1, Babita, Z43, S5.

681 I1, Babita, Z88f, S6.

682 Vgl. I1, Babita, Z128, S7.

683 I1, Babita, Z165f, S8.

684 Die Bezeichnung Come and Sees für die Mädchen, die probeweise mehrere Monate zu den Helferinnen nach Barasat kommen, um zu erfahren, wie sich Leben und Miteinander dort abspielen, ist wohl überlegt und hat sich im Laufe der Jahre als am treffendsten erwiesen. Come and See enthält doppelt Einladendes, durch den Ruf Come auf die Helferinnen zuzugehen und durch die Ermutigung See eine Aufforderung, einen persönlichen Eindruck zu gewinnen. Die Mädchen haben ihre 10. Klasse in ihrer Heimat abgeschlossen, sind um die 16 Jahre alt und tragen mehr oder weniger den Wunsch in sich, Kandidatinnen in einem Orden zu werden. Sie kommen meist aus sehr einfachen Verhältnissen und möchten gerne die 11.

und 12. Klasse abschließen, vgl. Interview Sr Marika, Z415-427, S21f.

Wenn sie bleiben möchten und sich auf Grund der Englischkenntnisse in der Lage dazu sehen, ins Studyhouse der Helferinnen zu wechseln, um eben die 11. und 12. Klasse zu absolvieren, erhalten sie weitere Unterstützung. Im Studyhouse wird den Mädchen auch in allen Belangen beigestanden, wenn sie

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Englischunterricht, um auf die englischsprachigen Schulen in Kolkata vorbereitet zu sein.685 In den Unterrichtsstunden in Barasatspielen lautes Vor- und Nachsprechen eine wesentliche Rolle. Das Lernen wird durch regelmäßiges Singen englischsprachiger Lieder unterstützt. Bei den auf Englisch gelesenen Messen und gemeinsamen Tischgebeten sind die Come and Sees durch Vortragen der Lesung oder Vorbeten englischsprachig aktiv.686 Diese Mädchen bekommen neben Englischunterricht auch Glaubensunterweisung von den Schwestern. Außerdem wird ihnen alltägliches Planen, Wirtschaften, Kochen und gezielte Gartenarbeit vermittelt. Der Tagesablauf ist straff und hängt als Wochenplan im Speiseraum. An einem Donnerstag ist zum Beispiel zu lesen:

5:45 Meditation, 6:30 Mass, 7:15 Breakfast, 7:30 Cleaning, 8:00 1st Class, 9:00 2nd Class, 10:00 Tea-break, 10:30 Cooking, Computer Class, 11:45 Studytime, 12:15 Angelus, 12:30 Lunch, 2:30 Singing-practice, 3:30 Games, 4:30 Bath, 5:15 Tea, 5:30 Rosary, 6:00 Studytime, 7:30 Prayer, 8:00 Supper, 9:00 News Review, 9:30 Lights off.687 Wie ernst es den Come and Sees mit dem Ordenswunsch ist, kristallisiert sich schnell heraus; bei vielen ist er echt. Die Mädchen haben in ihren Dörfern meist viel Not und Elend erlebt und tragen den Wunsch in sich, irgendetwas für andere zur Linderung zu tun.

Die Helferinnen möchten diesen Mädchen die Chance geben, menschlich und im Glauben zu wachsen, damit sie sich später in Freiheit entscheiden können, was sie aus ihrem Leben machen wollen, sei es Ordenseintritt, Studium, Ehe oder Familie.688

keinerlei Ordenswunsch äußern, sondern nur den höheren Schulabschluss machen möchten: Das Studyhouse ist für alle offen.

Wie können Come and Sees und Studyhouse finanziert werden? Welchen Beitrag die Angehörigen der Mädchen leisten, ist individuell verschieden und hängt von den jeweiligen Möglichkeiten ab. Die Helferinnen wollen nicht, dass die Familien gar nichts geben, da nicht der Eindruck entstehen soll, alles sei gratis. Die Unterstützung kann minimal sein, auch in Form von Naturalien wie Reis, wenn zum Beispiel zu Hause ein Reisfeld existiert, vgl. Interview Sr Marika, Z322-335, S18f. Wenn es die Familien der Mädchen schaffen, etwas Geld, vielleicht 300 Rupien monatlich zu geben, (1 Rupie = 0,012€, vgl.

https://www.xe.com>currencyconvert [abgerufen am 2.10.2018].), ist das sehr willkommen. Hauptsächlich finanzieren sich Studyhouse und Come and Sees jedoch aus Spendengeldern aus Deutschland und Österreich, vgl. Interview Sr Marika, Z535-541, S25.

685 Vgl. Kapitel 7.4. Abb. 47.

686 Vgl. TGB HF, 17.07.2016, S180.

687 Vgl. TGB HF, 14.07.2016, S175.

688 Vgl. Interview Sr Marika, Z511-530, S24f.

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In Sr Sangeeta war Helfen-Wollen und Verfügbarkeit für andere zu leben besonders stark verankert: „Ich hatte tief in meinem Herzen, ich wollte etwas für den Herrn tun, das war tief in meinem Herzen.“689 Deshalb fühlte sie sich von dem Artikel in einem Magazin690 die Helferinnen betreffend dazu gedrängt, umgehend zu reagieren, einer klassischen Berufung ähnlich: „Als ich diese Überschrift sah, berührte es mich so sehr. Ich sah Helferinnen und dachte: Lass mich gehen und meine Familie verlassen.“691 Sr Sangeeta ortete in sich selbst die Beweggründe Eugénie Smets zur Ordensgründung. Ab der Zeit des Noviziats erfuhren ihre Empfindungen Vertiefung: „Als ich zu den Helferinnen wollte, war tief in mir selbst dieser Geist der Maria von der Vorsehung. Im Noviziat lernte ich dann, was es ist damit, ich lernte die Geschichte, die Spiritualität. Ich erfuhr von Maria von der Vorsehung. Ich lernte die Schwestern kennen, die dort arbeiteten. Ich lernte, was das Leben einer Helferin ist. Unser Charisma zu helfen, auch zu beten, wenn jemand stirbt, ist jetzt tiefer in mir.“692

Sr Sangeetas aktuelles Helfen entspricht dem, was der Großteil der interviewten Schwestern lebt: Sie stellt sich in den Dienst der Mädchen, die in Barasat bei ihnen wohnen,693 umsorgt sie umfassend und gibt wie Sr Babita den Come and Sees täglich Englischunterricht.694

Sr Sushmita, bei den Großeltern, die die Enkelin gerne an der Seite eines Mannes gesehen hätten, herangewachsen, sprach so mit ihnen: „Ich sagte ihnen, dass ich nicht heiraten möchte, dass ich Menschen helfen möchte. So wie ihr auf mich geschaut habt, so will ich eine Nonne werden und mich um andere kümmern.“695 Diese Erklärung konnten die Großeltern akzeptieren.696 Konkret hat Sr Sushmita derzeit die Aufgabe übernommen, die Kommunikation nach außen durch Berichte und Artikel über die Gemeinschaft zu pflegen. Doch in erster Linie stellt sie sich den Mädchen im Studyhouse zur Verfügung.

Sie gibt Englischstunden und hilft bei den Hausaufgaben, wenn in der Schule etwas nicht

689 I2, Sangeeta, Z151f, S33.

690 Vgl. I2, Sangeeta, Z23-26, S30.

691 I2, Sangeeta, Z45f, S30.

692 I2, Sangeeta, Z138-143, S33.

693 Vgl. I2, Sangeeta, Z169-171, S34.

694 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 46.

695 I4, Sushmita, Z111-113, S48.

696 Vgl. I4, Sushmita, Z109-114, S48.

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verstanden wurde697: „So viel als möglich gebe ich mich selber, um den Menschen und den Mädchen zu dienen. Wenn ich gefragt werde, wenn ich es weiß, bin ich bereit zu sprechen, bin ich bereit, ihnen zu helfen.“698 Sr Sushmita ist es ein Anliegen, ihre Erkenntnisse weiter zu geben, ihre Inspirationen besonders mit der jungen Generation zu teilen.699 Sie zitiert sinngemäß ein ignatianisches Gebet700: „Alles, was ich erhalten habe, gebe ich Dir, Gott, zurück.“701 Dieses Versprechen hat für Sr Sushmita große Bedeutung und ist ihr stets gegenwärtig: „Ich erinnere mich immer an diese Worte, was ich empfangen habe, den anderen zu geben. Den anderen zu dienen.“702 Das Lesen der Konstitutionen ruft es ihr zusätzlich ins Bewusstsein.703 Sr Sushmita sieht auch ganz klar, dass durch den Einsatz der Helferinnen das Leben der ihnen anvertrauten Mädchen an Qualität zunimmt: Sie haben nicht nur viel Schulisches gelernt, sondern auch Selbstvertrauen gewonnen und Ideen bekommen, wie sie sich noch weiter entwickeln können. Viele bekommen einen Job und müssen nicht als billige Arbeitskraft ausgenützt auf einem Reisfeld tätig sein.704

Die im Babyalter an Kinderlähmung erkrankte Sr Lucy benötigte besondere liebevolle Aufmerksamkeit. Sie erfuhr sie in erster Linie von Missionaren der Jesuiten und Krankenschwestern im Spital705: „Sie halfen unserer Familie sehr. Als ich begriff, dass

697 Vgl. I4, Sushmita, Z200-207, S51.

698 I4, Sushmita, Z207-209, S51.

699 Vgl. I4, Sushmita, Z209-212, S51.

700 Bei dem hier angesprochenen Gebet handelt es sich um das Suscipe aus dem Exerzitienbuch, Betrachtung, um Liebe zu erlangen, EB 234: „Nehmt, Herr, und empfangt meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, all mein Haben und mein Besitzen. Ihr habt es mir gegeben; euch, Herr, gebe ich es zurück. Alles ist euer, verfügt nach eurem ganzen Willen. Gebt mir eure Liebe und Gnade, denn diese genügt mir“, Ignatius, Geistliche Übungen, 100f.

701 I4, Sushmita, Z212f, S51.

702 I4, Sushmita, Z213-215, S51.

703 Dazu ist in den Konstitutionen zu lesen: „Die Liebe Gottes, die wir durch nichts verdient haben, ist eine Frohe Botschaft, die in uns den Wunsch nach totaler Hingabe weckt. Wenn wir Jesus Christus nachfolgen, lernen wir, zutiefst in unserem Herzen diese Liebe anzunehmen. Sie ist eine verwandelnde Kraft, die uns für die Vereinigung mit Gott und mit den Menschen öffnet und uns befreit zum Dienen“, Konstitutionen, Artikel 35, 25.

704 Vgl. I4, Sushmita, Z229-244, S52.

705 Vgl. I3, Lucy, Z199-203, S43.

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diese Menschen ihre Heimat verlassen hatten und uns so viel halfen, begriff ich, dass Gott so groß ist und unserer Familie half. Er half durch diese Menschen.“706 So war in Sr Lucy der Wunsch, erfahrene Zuwendung weiterzugeben, stets präsent: „Als ich zu den Helferinnen kam, als ich eine Nonne werden wollte, wollte ich zurückgeben, was ich erhalten hatte. Als ich zu den Schwestern kam, als ich eintreten wollte, wollte ich geben, was ich kann. Als ich die Schwestern fragte, wollte ich geben, was immer ich habe, im Studyhouse, in der Gemeinschaft.“707 Sr Lucy ist nun engagierte Leiterin des Studyhouses in Barasat. Andere zu lieben, ist für sie vorrangig: „Für mich als Helferin, was ich fühle und was ich zu leben versuche, ist es wichtig, dass ich mit Gott verbunden bin, dass ich Liebe gebe.“708

Sr Luisa lebt als Oberin der Gemeinschaft in Bolpur, Santiniketan709, 136 km nordwestlich von Kolkata gelegen und von dort in zweieinhalb Stunden per Zug710 zu

706 I3, Lucy, Z205-207, S43.

707 I3, Lucy, Z210-214, S43.

708 I3, Lucy, Z236f, S44.

709 In Bolpur / Santiniketan spielt der Name Rabindranath Tagore (1861-1941) eine bedeutende Rolle.

Tagores Familie war seit der Gründung des Stützpunktes in Kolkata 1690 mit der East Indian Company verbunden und sein Großvater der größte einheimische Geschäftsmann British Indiens. Tagore kam früh mit der europäischen Kultur und Gesellschaft in Berührung, war in der Folge nie stark antiwestlich eingestellt, ging aber auf Distanz zu seinem geschäftstüchtigen Großvater. Der Denker, bengalische Dichter und erste asiatische Nobelpreisträger (für Literatur, 1913) liebte die Natur Bengalens und hatte einen Blick für Alltägliches, Häusliches und Fragmentarisches. Er war von der moralischen Überlegenheit der vorindustriellen gegenüber der modernen Zivilisation überzeugt, vgl. Pankaj, Ruinen des Empires, 270-275. Im Jahr 1901 gründete er auf dem Familiensitz Santiniketan bei Bolpur eine Versuchsschule.

Santiniketan bedeutet Ort des Friedens. Tagores Ziel war es, das Beste der bengalischen Kultur zu fördern und sich vom britischen Schulsystem zu lösen. Tagores Schulbücher auf Bengali finden noch immer Verwendung. Aus der Versuchsschule entwickelte sich die Geisteswissenschaftliche Universität Vishwa Bharati, vgl. Abram/Edwards, Indien Norden, 856.

Ist von Santiniketan die Rede, müssen auch Baul-Sänger erwähnt werden. Die als Troubadoure von Bengalen bezeichneten Männer halten umherziehend das regionale Liedgut lebendig, vgl. ebd., 819 und 856. Diese Sänger lernen ihre nasale Gesangstechnik von einem Meister. Sie haben beschlossen, ihr Leben singend Gott zu weihen. Sie begleiten sich selber auf dem einsaitigen Instrument, ektara, das mit einem Plektron geschlagen wird. Der Korpus ist ein ausgehöhlter, mit Ziegenhaut bespannter Kürbis, vgl. TGB HF, 25.07.2016, S198.

710 So sieht die Lebensrealität vieler aus, die nicht in der Stadt beheimatet sind: Die Zugsschienen führen durch weite Ebenen mit unendlich vielen Reisfeldern. Bauern führen zur Anbauzeit jeweils zwei Zebus, die indischen Buckelrinder, unter einem Joch zum Ziehen der Furchen durch die überfluteten Felder. Selten

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erreichen. Wie schon im Kapitel 3.5.2., Bolpur – Chance für Stammesmädchen, berichtet, wurde auf Anfrage der dortigen Diözese Asansol im Jahr 2010 in der von Santaldörfern umgebenen Kleinstadt ein zweites Studyhouse speziell für die als Scheduled Tribes711 erfassten Santalmädchen eingerichtet. Die Verwirklichung Sr Luisas Charismas bedeutet für sie, unaufdringlich ganz für diese Mädchen da zu sein: „In meiner Arbeit, im Studyhouse mit den Mädchen, weil es dort so klein ist, ist es mühsam, aber niemand sieht es.“712 Um das Studyhouse zu realisieren, wurde nach kurzer Wohnzeit bei den ortsansässigen Jesuiten ein Einfamilienhaus gemietet, das aber bald zu wenig Platz bot.

Um die Mädchen unterzubringen, teilen sich drei Helferinnen ein Zimmer. Die Mädchen schlafen in Räumen mit Stockbetten. Gelernt und gegessen wird auf dem Boden sitzend.

Es wurde bereits ein Grundstück angekauft, um darauf einen geräumigeren Neubau zu errichten und auch ein Brunnen gegraben. Eine Mauer schützt vor fremder Besiedelung, doch lässt die Baubewilligung auf sich warten. Die Nachfrage der Santals nach einer Möglichkeit, ins Studyhouse Bolpur713 zu kommen, ist sehr groß. Mädchen haben noch

ist ein alter Traktor zu sehen, dessen Räder meist zur Hälfte im Schlamm versinken. Frauen stehen bis weit über die Knöchel im Wasser und sind mit dem Auseinandersetzen gebündelter Reispflanzen beschäftigt.

Die Samen wurden zuerst sehr dicht in der Erde angebaut. Haben die Pflänzchen eine Größe von ca 25cm erreicht, werden sie in 10cm Abstand auseinandergesetzt. Die schmalen Umrandungen der Reisfelder sind grasbewachsen. Auf ihnen suchen sich schwarze Ziegen oder Zebus ihr Futter. Einzeln verstreut liegen bengalische Dörfer mit Stroh oder Blech gedeckten Hausdächern, vgl. TGB HF, 25.07.2016, S197.

711 Santals gehören zu den „gelisteten Stammesvölkern“, den Scheduled Tribes. Die auf Chancengleichheit bedachte Verfassung Indiens stellte für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen Sonderrechte aus. Der 1949 verabschiedete und im Jänner 1950 in Kraft getretene Artikel 46 lautet: „Der Staat soll mit besonderer Sorgfalt die kulturellen und wirtschaftlichen Interessen der schwächeren Gruppen der Bevölkerung, insbesondere der im Anhang angeführten Kasten und Stämme, fördern; er soll sie vor sozialer Ungerechtigkeit und allen Formen der Ausbeutung schützen“, vgl. https://www.verfassungen.net [abgerufen am 27.07.2019]. Santals, als angeführter Stamm, sind, nach Antragstellung und Ausstellung eines Zertifikates durch die Behörde, zur bevorzugten Behandlung bei der Vergabe von staatlichen Stellen und - in unserem Fall - von Studienplätzen berechtigt. Zusätzlich engagiert sich die Diözese Asansol um Zugang zur Bildung für diese Mädchen, vgl. https://www.helferinnen.info/htm/studyhouse.htm [abgerufen am 24.01.2016] und vgl. FN Santals in Kapitel 4.2.1. Herkunft: „Ich bin Bengalin!“ Der konkrete Handlungsauftrag der Helferinnen sieht dabei so aus, dass sie sich rechtzeitig um die entsprechenden Anmeldeformulare zu kümmern haben, damit die Santalmädchen zu den ihnen zugesicherten Rechten auch kommen, vgl. TGB2, 12.07.1996, S263.

712 I7, Luisa, Z178f und Z183, S79.

713 Vgl. Kapitel 7.4. Bildmaterial, Abb. 44 und Abb. 45.

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immer wenig Chancen auf Bildung. Meist sind die Mädchen des Studyhouses die ersten Frauen ihrer Familie oder ihres Dorfes, die eine höhere Bildung erhalten. Die Helferinnen unterstützen beim Finden eines öffentlichen Schulplatzes, geben Sprachunterricht714 – in der Gegend von Bolpur ist die Unterrichtssprache Bengali715 -, helfen beim Umgang mit dem Computer und passen ihre Hilfestellungen an die jeweils neue Gruppe von Mädchen an. Der Haushalt mit Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen, die Gartenarbeit oder der

immer wenig Chancen auf Bildung. Meist sind die Mädchen des Studyhouses die ersten Frauen ihrer Familie oder ihres Dorfes, die eine höhere Bildung erhalten. Die Helferinnen unterstützen beim Finden eines öffentlichen Schulplatzes, geben Sprachunterricht714 – in der Gegend von Bolpur ist die Unterrichtssprache Bengali715 -, helfen beim Umgang mit dem Computer und passen ihre Hilfestellungen an die jeweils neue Gruppe von Mädchen an. Der Haushalt mit Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen, die Gartenarbeit oder der