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2. T HEORETISCHER T EIL

2.4 Soziale Arbeit und Digitalisierung

2.4.1 Professionelles Handeln in sozialwirtschaftlichen Organisationen im

Professionelles Handeln in der Sozialwirtschaft findet immer im Kontext eines Mehrfachmandates statt – also dem Spannungsfeld zwischen dem berufsspezifischen Auftrag, die Klient*innen bestmöglich zu unterstützen, dem gesellschaftlichen Auftrag und dem Auftrag der jeweiligen Organisation (vor dem Hintergrund entsprechender rechtlicher Grundlagen). Professionelles Handeln in der Arbeit mit Klient*innen ist immer durch eine professionelle Handlungslogik bestimmt ist und dabei dynamisch, akteursgebunden und agiert prozessual (vgl.

Campayo 2020: 290).

Zweifellos bringt die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft eine Veränderung des Berufsbildes von Sozialarbeiter*innen und Sozialbetreuer*innen und damit des professionellen Handelns mit sich und stellt gängige Arbeitsformen infrage. Ein Beispiel aus der Praxis, in diesem Fall der Gemeinwesenarbeit, sind Nachbarschaftszentren in Ballungsgebieten. Selbständige Vernetzung von Nachbar*innen zur gegenseitigen Unterstützung via Social Media kann eigenständig von Einzelpersonen organisiert werden und viele Menschen erreichen,

ohne dass die organisatorische Arbeit von Seiten der Einrichtung übernommen werden muss. Für ein Nachbarschaftszentrum würde damit eine zentrale Aufgabe – die Vernetzung von Nachbar*innen - wegfallen (vgl. Finsoz e.V. 2017: 3).

Digitalisierung kann in der Sozialwirtschaft auch zur Erweiterung des bestehenden Angebots eingesetzt werden. Ein Beispiel ist das Angebot von Video-Dolmetscher*innen, welches eine große Unterstützung für sozialwirtschaftliche Organisationen sein kann, die mit Klient*innen arbeiten, deren Deutschkenntnisse nicht gut sind. So wird es den Klient*innen mittels digitaler Technologie ermöglicht, die Sprachbarriere zu umgehen und Beratung in Anspruch zu nehmen. Doch auch Klient*innen, die keine Übersetzer*innen für Beratungsgespräche brauchen, müssen bei der Etablierung neuer Kommunikationstools in sozialwirtschaftlichen Organisationen mitbedacht werden.

Die Digitalisierung hat das Kommunikationsverhalten beeinflusst. Innerhalb weniger Jahre sind Social Media Plattformen zu einem nicht mehr wegdenkbaren Teil der Alltagswelt geworden, Plattformen zum Austausch werden vielfach genutzt und ersetzen zum Teil Kommunikationswege wie das Telefon und den persönlichen Austausch (vgl. Finsoz e.V. 2017: 4).

Mit dem Kommunikationsverhalten verändert sich auch das Konzept des (Sozial-)Raumes, indem die Möglichkeit geschaffen wird, soziale Dienstleistungen in virtuellen Räumen etwa mithilfe von Onlineberatungstools, Chats oder Videotelefonie zu erbringen. Dies geht einher mit der Notwendigkeit einer Neudefinition des Raums aufgrund der Entkoppelung der physischen Präsenz von den Beratungsleistungen und der Veränderungen der Strukturen des ausführenden Ortes hin zu virtuellen Raumlogiken (vgl. Campayo 2020: 293).

Bei der Betrachtung der Möglichkeiten und Herausforderungen, die sich für das professionelle Handeln in sozialwirtschaftlichen Organisationen durch Digitalisierung ergeben, können einige Charakteristiken festgelegt werden.

Aufgrund der dynamischen Natur professionellen Handelns kann immer eine Ungewissheit festgemacht werden, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass Handlungssituationen nur selten eindeutig interpretierbar sind. Durch digitalisierte Technologien in Form von Risikoscreenings oder Fachsoftware könnte der Grad der Unsicherheit verringert werden und zu mehr Handlungssicherheit führen. Kritische

Stimmen konstatieren jedoch, dass Fachsoftware keine „Sensibilität“ gegenüber Nuancen der Fallbearbeitung und -interpretation hat und deren Verwendung die Deutungs- und Ermessungsspielräume der Mitarbeiter*innen einschränkt, die aufgrund ihrer Qualifikation dazu befugt sind, Handlungssituationen zu deuten.

Falldarstellungen werden damit simplifiziert. Diskutabel ist weiters, inwiefern sich das Verhältnis von professionellen Fachkräften und der jeweiligen Organisation verändert, wenn von Seiten der Organisation digitalisierte Tools vorgeschrieben werden, die die Parameter der Fallbearbeitung beeinflussen und die Kategorien dafür vorgeben (vgl. ebd.: 294).

Eng verbunden damit sind die Veränderungen bei Entscheidungsprozessen, die ebenfalls durch IT-gestützte Anwendungen in eine künstliche Bahn gelenkt werden, die die Mehrdeutigkeit sozialer Situationen infrage stellen (vgl. ebd.: 295)

Zweifellos ist es einer digitalisierten Anwendung (noch) nicht möglich, soziale Situationen zu beurteilen, wie es Fachkräften möglich ist. Dennoch kann Software unterstützend im professionellen Handeln sein, insbesondere wenn Mitarbeiter*innen sozialwirtschaftlicher Organisationen in die Entwicklung miteinbezogen bzw. federführend sind.

Wenn Akteur*innen aus der Sozialen Arbeit es selbst sind, die die Entwicklung neuer Konzepte und Ideen für die digitale Weiterentwicklung bestehender Strukturen in die Hand nehmen, sind sie auch diejenigen, die die Parameter für effektive, effiziente und professionelle Standards einhaltenden IT-Anwendungen schaffen (vgl. Stüwe, Ermel 2019: 59).

Aufgrund der rasanten Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung ist es sinnvoll, proaktiv tätig zu werden, um den digitalen Wandel, der ohnehin irreversibel ist, mitzugestalten (vgl. ebd.: 61).

Die dem professionellen Handeln in der Sozialwirtschaft zugrundeliegende Interaktionslogik lebt von der Balance aus Nähe und Distanz zwischen Mitarbeiter*innen und Adressat*innen. Digitalisierte Anwendungen, wie beispielsweise Social Media oder Messenger-Dienste wie WhatsApp verändern die Spielregeln der Interaktion und damit die Parameter für das professionelle Handeln.

So kann beispielsweise die suggerierte ständige Erreichbarkeit mithilfe moderner Technologien dazu führen, dass die soziale Beschleunigung (vgl. Rosa 2005: 161) Einzug in die Beratungstätigkeit hält und zu Erwartung kürzerer Reaktionszeiten führt – dennoch ist es in manchen Fällen sehr hilfreich, einen Teil der

Beratungstätigkeiten digital auszulagern, insbesondere in der Arbeit mit Klient*innen, die ansonsten schwer erreichbar sind (vgl. Campayo: 296).

Es verändern sich somit nicht nur die Räume, in denen Kommunikation stattfindet, sondern auch die Regeln der Kommunikation zwischen Mitarbeiter*innen und Klient*innen von Grund auf.

2.4.2 (Teil-)digitalisierte Formen der Dienstleistungserbringung

Im Folgenden wird überblicksmäßig auf die Formen digitalisierter Dienstleistungen eingegangen, die in sozialwirtschaftlichen Organisationen bereits angewendet werden und die für die Arbeit in der Wiener Wohnungslosenhilfe relevant sind.

Die technischen Grenzen des Möglichen mit KIs, die ihren eigenen Code verändern können und Robotern, die in Pflegeeinrichtungen auf die Bedürfnisse älterer Menschen reagieren können, sind weit über dem Niveau der (teil-)digitalisierten Dienstleistungen, die in der Arbeit mit wohnungslosen Menschen Anwendung finden bzw. entwickelt werden. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die bereits bestehenden Angebote, die auch zum Teil durch die Covid-Krise erweitert wurden, um das Potential für mögliche Weiterentwicklungen für digitalisierte Anwendungen in der Wohnungslosenhilfe zu erkennen.

Auf informeller Ebene wird in sozialwirtschaftlichen Organisationen bereits mit digitalisierten Technologien gearbeitet, insbesondere im Bereich der Kommunikation über Alltagsmedien. Alltagsmedien ist ein Überbegriff für (soziale) Medien, die zur digital-medialen Ausstattung eines Großteils der Bevölkerung gehören. Dazu zählen Facebook, YouTube oder WhatsApp, sowie die Verwendung mobiler Endgeräte wie Laptops, Smartphones oder Tablets (vgl. Kutscher 2020:

349ff.).

Die Kontaktaufnahme zwischen Klient*innen und Mitarbeiter*innen sozialwirtschaftlicher Organisationen per WhatsApp ist genauso gängig wie die Selbstdarstellung sozialwirtschaftlicher Organisationen auf Social Media oder die Möglichkeit, soziale Einrichtungen via Google zu bewerten. Zudem kann auch die Kommunikation von Mitarbeiter*innen untereinander oder organisationsübergreifende Kommunikation mittels digitalisierter Medien zur

informellen Verwendung digitalisierter Medien gezählt werden (vgl. Kreidenweis 2020 (vgl. Stüwe, Ermel 2019: 52).

Durch digitale Kommunikationswege werden auch neue Möglichkeiten geschaffen, mit Klient*innen in Austausch zu treten und soziale Dienstleistungen wie Onlineberatung anzubieten. Die Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen ist für die Rezipient*innen der Leistungen oft mit einer Hürde verbunden. Die Scham darüber, eine soziale Dienstleistung zu benötigen oder der Angst vor dem sozialen Stigma kann den Zeitpunkt des erstmaligen Aufsuchens einer sozialen Einrichtung verzögern. Onlineberatung kann dabei helfen, dass Menschen sich früher an soziale Einrichtungen wenden, wenn Probleme auftauchen. Gleichzeitig gibt es in der Bevölkerung einen immer größer werdenden Anteil an Digital Natives, für die der Umgang mit Computern und digitalisierter Technik vertraut ist. Die (gefühlte) Anonymität bietet Klient*innen bei der Thematisierung sensibler Themen eine Art Schutz und ist daher niederschwelliger als physische Betreuungssettings, für die das Betreten einer sozialen Einrichtung nötig ist (vgl. Stüwe, Ermel 2019: 125).

Onlineberatung kann in verschiedenen Settings stattfinden – die gängigsten Methoden sind E-Mail-Beratung, Chat-Beratung und Beratung in Internetforen (vgl.

Stüwe, Ermel 2019: 122). Bei der Onlineberatung gilt natürlich genauso wie bei der Face-to-Face-Beratung, dass die Gespräche streng vertraulich stattfinden.

Aufgrund der digitalen Natur von Onlineberatung ist es unumgänglich, auf die Einhaltung des Datenschutzes zu achten und zum Beispiel keine persönlichen Daten zu erfassen bzw. weiterzugeben (vgl. ebd.).

Ein Hybrid zwischen Onlineberatung und Face-to-Face-Beratung ist Videodolmetsch. Dabei fungiert ein/e per Videochat zugeschaltene/r Dolmetscher*in als sprachliche/r Vermittler*in zwischen einer Fachkraft und Klient*innen mit fehlenden Deutschkenntnissen.

Als Nachteil digitaler Beratungssettings wird oft das Fehlen physischer Nähe genannt. Obwohl es den Einstieg in die Beratung für Klient*innen vereinfachen kann, sehen sich Professionist*innen mit dem Problem konfrontiert, keine Mimik, Gestik, Stimmmodulation oder Sprache der Klient*innen wahrnehmen zu können (vgl. ebd.: 125). Dazu kommt, dass Onlineberatung andere Kompetenzen voraussetzt als Face-to-Face-Beratung. Es muss also darauf geachtet werden, dass Mitarbeiter*innen umfassend eingeschult werden und sich auf die neue Aufgabe einstellen können.

Viele sozialwirtschaftliche Organisationen bieten Informationen über ihre Leistungen und Einrichtungen sowie Kontaktmöglichkeiten auf ihren Webseiten an.

Ein Beispiel hierfür ist das Leporello „Erste Hilfe bei Wohnungslosigkeit“ des Fonds Soziales Wien, das auch online als PDF verfügbar ist und einen Überblick bietet, welche Einrichtungen und Beratungsstellen bei akuter Wohnungslosigkeit aufgesucht werden können (vgl. Fonds Soziales Wien 2020).

Smartphone-Apps als Form digitaler Dienstleistungserbringung finden sich zum Beispiel wie oben schon erwähnt bei der deutschen App MOKLI oder der KälteApp aus Wien.

Der digitale Wandel ist dem Status quo der Digitalisierung in sozialwirtschaftlichen Organisationen weit voraus. Daher lohnt sich ein Blick in andere Bereiche, um Potenziale für zukünftige Entwicklungen zu erkennen. Neben weiter oben schon beschriebenen Plattformen sind auch technische Assistenzsysteme zukünftig in der Sozialwirtschaft und in der Wohnungslosenhilfe denkbar, um Menschen mit Behinderung oder altersbedingten Einschränkungen zu unterstützen, was bisher nur mithilfe von Fachkräften oder teurer Spezialtechnik möglich war. Das erweiterte Leistungsspektrum sozialer Dienstleistungen könnte Klient*innen bei einer selbstbestimmten Lebensführung unterstützen, indem Potenziale von technischen Assistenzsystemen nach Nutzen und Risiken bewertet und aufgrund fachlicher Entscheidungen eingesetzt werden (vgl. Kreidenweis 2020: 396).

Niederschwellig zugängliche Apps und Bots zur Informationsbeschaffung, Beratung und Unterstützung könnten bereits jetzt mit KI-basierter Robotik verwirklicht werden.

Kreidenweis (2020) spricht sogar davon, dass derartige Hilfsangebote von Klient*innen stärker nachgefragt werden als klassische-professionelle Formen der Dienstleistungserbringung, weil sie (ähnlich wie Onlineberatung) nicht stigmatisierend in der Nutzung sind. Ein Risiko der Integration von KI-basierter Robotik in die Beratungsleistung sozialwirtschaftlicher Organisationen ist die zu erwartende Kritik von Seiten der Mitarbeiter*innen - kombiniert mit der Angst, dass die eigene Arbeit durch Roboter ersetzt wird (vgl. ebd.: 396). Kritische Mitarbeiter*innen abzuholen sowie die Anwendung KI-basierter Apps und Robotik nicht als Ersatz, sondern als Unterstützung klassischer Dienstleistungen zu etablieren ist Aufgabe des Managements in sozialwirtschaftlichen Organisationen (vgl. ebd.).