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2. T HEORETISCHER T EIL

2.9 Ethische Aspekte bei der Erarbeitung neuer sozialer

Die Erarbeitung neuer sozialer Dienstleistungen hat immer eine ethische Komponente. Ethik kann als Disziplin der praktischen Philosophie zugeordnet werden und beschäftigt sich mit der Frage nach dem „guten“ – richtigen – Handeln.

In der Sozialwirtschaft wird in der Regel mit Menschen gearbeitet, die aufgrund sozialer Problemlagen eine Dienstleistung in Anspruch nehmen und vulnerablen Gruppen angehören. Ethisches Handeln ist ein Teil des beruflichen Selbstverständnisses und professionellen Handelns der helfenden Professionen in sozialwirtschaftlichen Organisationen. Die digitale Ethik fokussiert sich auf die Fragestellung nach dem guten und richtigen Handeln im digitalen Zeitalter und beschäftigt sich mit dessen Phänomenen (vgl. Stüwe, Ermel 2019: 128).

Durch die Digitalisierung bekommen ethische Fragestellungen in sozialwirtschaftlichen Organisationen neue Dimensionen und es entstehen neue Spannungsfelder, etwa in Form von moralischen Konflikten und Dilemmata. Ein moralischer Konflikt ist dann gegeben, wenn Gründe für Entscheidungen nicht nur moralischer Natur sind und daraus Entscheidungsschwierigkeiten entstehen. Als Beispiel kann die Kommunikation zwischen Mitarbeiter*innen und Klient*innen sozialwirtschaftlicher Organisationen per Messenger-Dienst genannt werden. Diese Kommunikationsmethode wird meist aus pragmatischen Gründen gewählt, gleichzeitig ist der Datenschutz dadurch bedroht. Ein Dilemma liegt beispielsweise dann vor, wenn moralische Normen im Konflikt zueinander stehen, wie zum Beispiel bei der Erreichung der Zielgruppe mittels eines Facebook-Profils der Organisation.

Dies stellt einen niederschwelligen Zugang dar, der jedoch im Konflikt mit dem Datenschutz und mit der Preisgabe von Metadaten der Klient*innen steht (vgl.

Kutscher 2020: 348ff.). Bei der Erarbeitung neuer, digitalisierter Dienstleistungen müssen diese Dimensionen mitbeachtet werden.

Neuerungen bei Dienstleistungen können die Kommunikation über digitale Alltagsmedien betreffen. Mit Alltagsmedien sind soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram und digitale Endgeräte gemeint, die in der Gegenwart zur medialen

Basisausstattung der Mehrheit der Gesellschaft gehören (vgl. Kutscher 2020: 350).

Diese werden in der Klient*innenarbeit bereits in manchen Organisationen genutzt, um einen einfachen Zugang für die Zielgruppe zu schaffen, die in sozialen Medien vertreten ist. Die Verknüpfung von privater und beruflicher Nutzung derselben Netzwerke wirft das Problem einer diffuser werdenden Grenzziehung zwischen Privatem und Beruflichem für die Mitarbeiter*innen auf und die Frage danach, wo Verantwortungsbereiche beginnen und enden. Das Phänomen der ständigen Erreichbarkeit weitet sich auf die berufliche Ebene aus. Ein Beispiel hierfür ist die Frage nach Handlungsoptionen für Mitarbeiter*innen, die außerhalb ihrer Arbeitszeiten von Klient*innen aufgrund eines Notfalls kontaktiert werden (vgl. ebd.:

351).

Handlungen in sozialen Netzwerken produzieren Metadaten über Adressat*innen und Mitarbeiter*innen. Soll Social Media ein Teil einer angebotenen Dienstleistung sein, können Empfehlungen und Leitfäden für ethisches Handeln erarbeitet werden, wie zum Beispiel von Dolinsky und Helbig (2015). Sie empfehlen, ethische Standards bei der Nutzung sozialer Medien mit vulnerablen Zielgruppen nach vier Kriterien festzulegen:

• Das Einverständnis der Klient*innen muss gegeben sein. Dafür sollen die Funktionen Sozialer Netzwerke für Klient*innen verständlich erklärt werden und ein Konzept für Beteiligung auf den Social-Media-Kanälen der Organisation erstellt werden, das den Klient*innen vorgestellt wird.

• Die Vertraulichkeit absichern. Auf den Social-Media-Kanälen müssen die Zuständigkeiten unter den Mitarbeiter*innen verteilt werden und den Klient*innen erläutert werden. Sie werden dazu angehalten, Social Media nur im privaten Bereich zu nutzen.

• Die Offenlegung von sensiblen Informationen muss vermieden werden. Die Seite soll öffentlich zugänglich sein, aber keine sozialarbeiterischen oder sozialpädagogischen Inhalte enthalten. Die Klient*innen sollen darüber aufgeklärt werden, auf welche Risiken im Internet geachtet werden soll (z. B.

in Bezug auf Privatsphäre).

• Identität verifizieren: Klient*innenprofile sollten von den Mitarbeiter*innen auf ihre Echtheit überprüft werden und – sofern möglich – mit den Klient*innen

im direkten Kontakt angesehen werden (vgl. Dolinsky, Helbig 2015 zit.n.

Kutscher 2020: 356).

Neben den Kommunikationskanälen kann auch Fachsoftware nach ethischen Standpunkten betrachtet werden. Diagnostikinstrumente arbeiten nach vorgegebenen Kriterien, deren eingeschriebene implizierte Normativität aus ethischer Perspektive bedeutend ist. Aus pragmatischen Gründen wird bei digitaler Falldokumentation und -diagnostik auf fallrelevante Kategorien zurückgegriffen.

Eine ethische Frage dabei ist die Konstitution der Diagnostikinstrumente, was sie als „normal“ definieren und wie viel Abweichung vom definierten Standard möglich ist, bevor ein Fall als „problematisch“ gewertet wird. Das Urteil der Fachsoftware suggeriert Objektivität und simplifiziert die Komplexität sozialer Problemlagen (vgl.

Kutscher 2020: 352). Soziale Dienstleistungen, die vollständig digital angeboten werden, haben gegebenenfalls Einfluss auf die professionellen Entscheidungsspielräume der Mitarbeiter*innen. Kutscher (2020) berichtet von Versuchen, bei denen Fachsoftware zur Fallbewertung eingesetzt wurde. Die Mitarbeiter*innen handelten in der Regel aus Gründen der Risikoverantwortung ungern gegen die Entscheidung der Software, auch wenn sie ihrer eigenen widersprach. Der Software wurde eine gewisse Objektivität zugesprochen, die im Falle einer Fehlentscheidung als externe Instanz behandelt werden kann (vgl. ebd.:

353). Für die Erarbeitung digitaler Dienstleistungen zahlt es sich aus, das Risiko von implizierter Normativität und Komplexitätsreduktion mitzudenken, wenn die Einführung einer neuen Diagnostik- oder Dokumentationssoftware angedacht ist.

Die Rolle der Mitarbeiter*innen und deren professioneller Entscheidungsmöglichkeiten im Einzelfall ist dabei von zentraler Bedeutung.

Digitale Technologien können ein Teil sozialer Dienstleistungen sein, der Klient*innen zu mehr Autonomie und Teilhabe verhilft und damit einen Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit setzen (vgl. Stüwe, Ermel 2019: 132). Ethische Perspektiven zu beachten kann dabei helfen, dass das Bestreben hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit in Hinblick auf moralische Konflikte und Dilemmata diskutiert wird. Durch Datendigitalisierung ändert sich nicht das Grundrecht auf Menschenwürde und die in den sozialwirtschaftlichen Organisationen gelebten ethischen Grundsätze. In einer digitalisierten Gesellschaft inkludiert dies das Recht

auf Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung (vgl. Stüwe, Ermel 2019:

138). Für die Entwicklung neuer Dienstleistungen ergeben sich durch diese Rechte verschiedene Fragestellungen, die im Allgemeinen diskutiert werden können, aber je nach Situation, Dienstleistung und Organisation neu bewertet werden müssen.

Nach der eingehenden Beschäftigung mit den Themenblöcken Digitalisierung und (digitalisierte) soziale Dienstleistungen wird im Folgenden näher auf die Wiener Wohnungslosenhilfe eingegangen, in deren Einrichtungen die Interviews für die empirische Erhebung der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurden.